Indien ist auf dem Weg zur Gestaltungsmacht. Kaum ein Land der Welt ist dabei so divers, so voll von Chancen und Herausforderungen wie die große Demokratie in Asien. Das Führungs-kräfteseminar der BAKS machte daher Station in Delhi und Mumbai.
Unity in diversity – Dieses Motto ist Indiens innere Triebfeder auf dem angestrebten Weg zur Gestaltungsmacht. Über 1,3 Milliarden Menschen, eine Vielzahl von Religionen, 23 anerkannte Amtssprachen und über 120 gesprochene, sich zum Teil erheblich unterscheidende Dialekte, jahrhundertealte Traditionen und Lebensweisen Seite an Seite mit High-Tech und Moderne, beängstigende Armut und großes Elend neben unfassbarem Reichtum und Wohlstand: Dies und noch viel mehr ist Indien heute. Das Führungskräfteseminar 2018 der BAKS besuchte ein Land voller Widersprüche und Ambitionen.
Wachstum, Wachstum, Wachstum
In zwanzig bis dreißig Jahren sieht sich Indien schon auf Augenhöhe mit den USA und China. Grundlegend ist hierfür nach parteiübergreifender Ansicht zunächst die Bekämpfung der immensen Armut. So ist es Ziel der Modi-Regierung, eine Million neue Arbeitsplätze pro Monat zu schaffen. „Wachstum, Wachstum, Wachstum“ lautet daher die Devise. Fast könnte man dabei den Eindruck gewinnen: Koste es, was es wolle. Nahezu 50 Prozent des Energiebedarfs wird in Indien noch mittels Kohle gedeckt. Um die damit zahlreich verbundenen Arbeitsplätze nicht zu gefährden, ist eine Substitution der Kohle durch erneuerbare Energieträger jedoch kein vorrangiges Ziel. Dabei treffen die Auswirkungen des Klimawandels den Indischen Subkontinent in besonderer Weise. Die globale Erwärmung lässt auch die Gletscher im Himalaya schmelzen. Trinkwasser wird dadurch zunehmend zu einer knappen Ressource in der Region. Hinzu kommt, dass der Meeresspiegel steigt, was insbesondere Bangladesch trifft und dort zu Migrationsdruck nach Indien führt.
Schwierige Nachbarn
Das Verhältnis Indiens zu seinen Nachbarn, von Nepal und Bhutan abgesehen, gestaltet sich durchweg schwierig. Besonders die 1947 übereilt erfolgte Abspaltung und Gründung Pakistans hat tiefe Wunden hinterlassen. Bis heute ist der damit verbundene Kaschmir-Konflikt nicht gelöst – die territorialen Ansprüche Pakistans und Indiens in der Provinz überlappen noch immer. Nahezu täglich kommt es zwischen den beiden Seiten zu Scharmützeln entlang der Line of Control, der militärischen Kontrolllinie zwischen dem pakistanisch und dem indisch besetzten Teil der Provinz. Dabei sind regelmäßig Tote zu beklagen. Pakistan bekundet territoriale Ansprüche in Kaschmir und strebt eine internationale Lösung an, wohingegen Indien den Disput primär als ideologische Frage betrachtet und eine bilaterale Lösung mit Pakistan als Königsweg sieht. Da beide Ansätze nicht vereinbar sind, scheint eine Lösung des Konflikts in weiter Ferne zu liegen. Hinzu kommt, dass in Indien im April oder Mai 2019 gesamtstaatliche Wahlen anstehen und sich daher zumindest derzeit die Rhetorik um den Konflikt eher noch verschärft.
Auch das Verhältnis zu China, an dem Indien in puncto Bevölkerung schon in zwei Jahren vorbeiziehen wird, ist spannungsgeladen. Indien ist über die chinesische Expansionspolitik sehr besorgt. An der Südspitze Indiens verläuft die zentrale Schifffahrtsroute zwischen Asien, Afrika und Europa. Der Indische Ozean grenzt direkt an das Südchinesische Meer, wo China und einige südostasiatische Staaten Territorial-konflikte austragen. China schafft dort Fakten, indem es Inseln aufschüttet und militärische Installationen errichtet. Hinzu kommt die „Allwetterfreundschaft“ zwischen China und Pakistan, welche von Indien als Einkreisungs-politik verstanden wird. Chinas neues Seiden-straßenprojekt – Belt and Road Initiative (BRI) genannt, ein gewaltiges Investitionsprogramm – wird in Indien als Geniestreich zur chinesischen Machtprojektion gesehen. Bislang konnte dem jedoch aufgrund fehlender finanzieller Mittel nichts entgegengesetzt werden. Der primär von Indien und Russland ins Spiel gebrachte Nord-Süd-Transport-Korridor (NSTC), der unter Umgehung Chinas und Pakistans von Moskau aus über Zentralasien in den Iran und schließlich über den Seeweg bis nach Mumbai reichen soll, scheint bislang nur als Idee zu existieren.
Ein Land der Superlative
Die Hauptstadt Delhi ist Sitz der indischen Bundesregierung und aufgrund ihrer Größe, Vielfalt und Geschäftigkeit bereits beeindruckend. Die Wirtschafts- und Finanzmetropole Mumbai, eine Megacity mit rund 23 Millionen Einwohnern, setzt sich davon nochmals wahrnehmbar ab und ist an pulsierendem Leben und Vielfalt kaum zu überbieten. Reich und Arm leben hier auf engstem Raum nebeneinander. Nur wenige Kilometer trennen den größten Slum Asiens von den teuersten Wohngegenden und mondänsten Bürogebäuden der Stadt. Die Produktivität der Stadt zieht Menschen aus ganz Indien und darüber hinaus an, um hier ihr Glück zu suchen. Mumbai ist als größter Hafen Südasiens zugleich Indiens Tor zur Welt. Gegensätze sind für Mumbai bestimmend und lassen zumindest erahnen, welch hoher Anspruch mit dem Ansatz Unity in diversity verbunden ist.
Bedingt durch die enorme und noch weiter steigende Einwohnerzahl muss im Hinblick auf Indien stets in Superlativen gedacht werden. Sowohl die bestehenden Herausforderungen, als auch die gegebenen Chancen sind riesig. Die eindeutigen Stärken der größten Demokratie der Welt sind Toleranz, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit und das klare Bekenntnis zum Multilateralismus. Dies macht Indien zu einem interessanten Partner im globalen Spiel der Kräfte.
Hohe Erwartungen an Deutschland
Die Erwartungshaltung an Deutschland und Europa ist dabei allerdings hoch. Immer wieder wurde von indischer Seite die Notwendigkeit eines starken Deutschlands in einem starken Europa betont. Den Brexit vor Augen setzt Indien auf deutsche Führungs- und Verantwortungsbereitschaft. India incredible – das Land der Träume und Träumer, Atommacht und Armenhaus zugleich, auf dem Weg zur Gestaltungsmacht und dennoch Entwicklungsland – sucht starke Partner, wobei der präferierte Partner zweifelsfrei Deutschland ist.
Autor: Peter Härle