Arbeitspapiere

Libyen: Was wurde falsch gemacht?

13/2015
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Nach der Revolution erschien Libyen auf dem Weg zu Stabilität und Demokratie. Der gigantische Ölreichtum sollte die Basis für den Aufschwung bilden. Doch sehr bald setzte ein immer steilerer Abwärtstrend ins Chaos ein. Was ist schief gelaufen? Und was kann man tun, um die brandgefährliche Situation in den Griff zu bekommen?

Im Herbst 2011 schien Libyen nach Jahrzehnten der Gaddafi-Herrschaft im Aufwind. Erfahrene libysche Politiker, die sich bereits zum Beginn der Revolution vom Diktator abgewendet hatten, bildeten gemeinsam mit zahlreichen westlich ausgebildeten Persönlichkeiten das Rückgrat des Übergangsrates (GNC) und der Übergangsregierung. Im Land herrschte eine allgemeine Aufbruchsstimmung. Die vielen ausländischen Delegationen und Journalisten nahmen von ihren Besuchen und Gesprächen zumeist einen positiven Eindruck mit nach Hause.

Warum gab es keine Friedenstruppen?

Die Libyer zeigten keinerlei echtes Interesse an einer größeren internationalen Mission im Land. Vertreter aller politischen Richtungen stellten fest, man habe die Lage selbst im Griff. Es seien weder ausländische Soldaten noch eine größere „state building mission” erforderlich. Lediglich eng umrissene Unterstützungsleistungen in einzelnen Bereichen wurden erbeten. NATO und EU glaubten dies gerne und reagierten erleichtert. Nach den negativen Erfahrungen in Afghanistan und im Irak bestand kein wirkliches Interesse an der Entsendung von Truppen in ein neues vermeintliches Abenteuer. Die UNO, ohnehin überdehnt und vorsichtig, entsandte lediglich eine relativ kleine politische Mission (UNSMIL). Als logische Konsequenz gab es keine größere internationale Mission in Libyen. Was man im Westen allerdings übersehen hatte, war, dass diese erste Generation der neuen Politiker Libyens aus verschiedenen Gründen keinen dauerhaften Rückhalt im Land hatte und daher sehr bald von der politischen Bühne verschwand.

Was ist schief gelaufen?

Die vier Hauptursachen für die fortwährenden Konflikte in Libyen sind die Unfähigkeit der Regierung, ihren politischen Willen und das Gewaltmonopol durchzusetzen, das Erbe der chaotischen Verwaltung des Staates durch das Gaddafi-Regime, die zahllosen, jahrhundertealten Stammeskonflikte und der steigende Einfluss der radikalen Islamisten. Dazu kommt noch der Kampf um Ressourcen und Einfluss als treibende Elemente der Auseinandersetzungen.

Die an sich positiv zu bewertende „Constitutional Declaration” vom August 2011 setzte einen völlig unrealistischen Zeitplan für die Übergangsphase, der zu überzogenen Erwartungen und entsprechenden Enttäuschungen führte. Die ersten freien Wahlen am 7. Juli 2012 wurden euphorisch überbewertet. Rund 1,8 Millionen Libyer gingen zur Wahl. Das waren zwar 62% der registrierten Wähler, aber lediglich 44% der an sich Wahlberechtigten1. In der Hauptstadt war die Wahlbeteiligung besonders hoch, in entlegeneren Gebieten hingegen minimal.

Alle bisherigen libyschen Regierungschefs ab Ende 2011 litten an mangelnder Durchsetzungsfähigkeit. Schon Abdurrahim El Keib, ab November 2011 der erste Premierminister nach dem Rückzug von Mahmoud Jibril, war ein schwacher Kompromisskandidat. Sein Nachfolger Ali Zeidan wurde immer wieder physisch bedroht und sogar einmal entführt. Nach seiner Abwahl im März 2014 verließ er fluchtartig das Land. Abdullah al-Thinni, der wenig enthusiastisch von Zeidan übernahm, bot bereits mehrmals seinen Rücktritt an. Er ist eigentlich nur mehr im Amt, weil man sich nie auf einen Nachfolger einigen konnte.

Das „Political Isolation Law”, das im Mai 2013 vom GNC nach massivem Druck von mehreren Milizen verabschiedet wurde, schloss alle Personen, die irgendwann auch nur halbwegs wichtige Positionen während der 42-jährigen Herrschaft Gaddafis besetzt hatten, von jeder politischen Tätigkeit aus. Dies traf viele fähige Politiker, die eigentlich eine Stütze des Demokratisierungsprozesses im Land hätten sein sollen. Islamistische Gruppen waren unter den Hauptbetreibern dieses Gesetzes. Ihr offensichtliches Ziel war es, viele gefährliche und erfolgreiche Konkurrenten mit einem Schlag auszuschalten. Das Gesetz führte damit zu einer Vertiefung der Spaltung des Landes. Dies trug nachhaltig zur weiteren Destabilisierung Libyens bei.

Die Entwaffnung, Demobilisierung und Wiedereingliederung der Angehörigen der Milizen gelang nicht einmal ansatzweise. Schuld daran sind nicht nur mangelnde Alternativen für den Einzelnen, sondern auch die großzügige, wenn auch nicht ganz freiwillige Finanzierung so ziemlich aller Milizen durch den Staat. Dies wurde noch durch die Perzeption vieler überlagert, wonach sich jeder auf Grund des nicht existierenden Gewaltmonopols des Staates selber schützen müsse. Das ohnehin stetig zunehmende Chaos wurde durch den explosionsartigen Anstieg von Kriminalität und Korruption noch verstärkt. Die Ursachen dafür liegen im Mangel an Perspektiven, vor allem für die ehemaligen Mitläufer des Regimes, dem fehlenden staatliche Gewaltmonopol und im Charakter Einzelner.

Der Zerfall des Landes beschleunigte sich im Jahr 2014 rasant. Im Mai des Jahres wurde durch den umstrittenen General Heftar in Benghazi die „Operation Dignity“ eingeleitet, um die Anschlagsserie der Islamisten, der hunderte Angehörige der Sicherheitskräfte und der Zivilbevölkerung zum Opfer gefallen waren, zu beenden. Die Parlamentswahlen im Juni führten – bei einer sehr geringen Wahlbeteiligung – zu einer schweren Niederlage der Islamisten. Daraufhin wurden unter der Führung der mächtigen Milizen der Handelsstadt Misrata die rivalisierenden regierungstreuen Kräfte im Rahmen der „Operation Libya Dawn” aus Tripolis vertrieben. Auch das neu gewählte „House of Representatives” (HoR) und seine Regierung verließen die Hauptstadt und flohen in den Osten des Landes.

Als im November 2014 der in Tripolis tagende Oberste Gerichtshof – wohl nicht ganz unbeeinflusst – urteilte, dass die Parlamentswahlen im Juni nicht der Verfassung entsprochen haben und damit das GNC nach wie vor das Parlament des Landes sei, war die Spaltung perfekt. Da lediglich weit weniger als die Hälfte der ursprünglichen GNC-Mitglieder an den ersten Sitzungen teilnahm, wurden die lichten Ränge des nunmehrigen Gegenparlaments durch neu bestellte Abgeordnete aufgefüllt. Es wurde eine eigene, islamistisch orientierte Regierung vereidigt, der jedoch die internationale Anerkennung versagt blieb.

Der Islamische Staat (IS) konnte das teilweise entstandene Machtvakuum ausnutzen und sich in mehreren Gebieten im Land festsetzen. Das größte und wichtigste davon liegt um die Stadt Sirte, dem zentral an der Küste gelegenen Herkunftsort des ehemaligen Diktators. Während General Heftars „Operation Dignity“ einfach nicht über die militärischen Mittel verfügt, um gegen den IS außerhalb von Benghazi effizient vorzugehen, besteht bei „Libya Dawn“ kein wirkliches Interesse am Aufnehmen dieses Kampfes. Die Ursache dafür liegt zum einen in engen Verbindungen so mancher dabei involvierten Miliz zum IS, und zum anderen betrachten viele General Heftar und seine Verbündeten ohnehin als die viel gefährlicheren Feinde.

Erwartbare Entwicklung

Die nunmehr vom erfahrenen deutschen Diplomaten Martin Kobler federführend übernommenen UN-Verhandlungen zur Schaffung einer Einheitsregierung sind in einer Pattsituation. Es gibt nach wie vor eine ganze Reihe scheinbar unüberwindbarer Problemfelder:

  • So bleiben Rolle und Zusammensetzung des „State Council”, der zweiten Kammer des geplanten Übergangsparlamentes, umstritten. Weite Teile des GNC bestehen auf einer Ausweitung der Befugnisse und möchten alle Mitglieder aus den eigenen Reihen stellen.

  • Das HoR verwehrt sich gegen jede Änderung der von ihm beschlossenen Gesetze, Entscheidungen und Ernennungen. Zu den umstrittensten Punkten zählen die Ernennung von General Heftar zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte am 2. März 2015 und die Aufhebung des „Political Isolation Law” im Februar davor.

  • Die Auswahl des Premierministers und seiner Stellvertreter ist eine weitere Schlüsselfrage, da sowohl HoR als auch GNC den Ernennungen zustimmen müssen.

  • Die am 5. Dezember in Tunis von kleineren Delegationen des HoR und GNC beschlossene „Declaration of Principles“ bleibt umstritten und würde ohnehin keines der Hauptprobleme lösen.

Aber selbst wenn man sich über alle offenen Punkte einigen kann und das sogenannte „Skhirat-Agreement” unterzeichnet, führt das im besten Fall zu einer Rückkehr zu den Verhältnissen vom Frühjahr 2014, da nach diesem Abkommen für praktisch alle wichtigen Fragen ein Konsens zwischen HoR und GNC (beziehungsweise „State Council“) erforderlich ist. Damit bleibt Libyen ein gelähmtes Land. Dazu kommt, dass sowohl HoR als auch GNC nur einen sehr eingeschränkten Einfluss auf ihre jeweiligen bewaffneten Kräfte haben. Wenn man beispielsweise die engen Verbindungen von Teilen von „Libya Dawn“ mit radikalen Islamisten bedenkt, ist es mehr als zweifelhaft, dass wirklich alle ein echtes Interesse an einem Abkommen haben.

Der Gewinner dieser Pattsituation ist der Islamische Staat. Die endlosen Diskussionen und Verhandlungen ermöglichen ihm und anderen radikalen Islamisten den Ausbau ihrer Positionen. Es ist absehbar, dass sie sich ohne baldiges und nachhaltiges internationales Eingreifen innerhalb eines Jahres so weit ausbreiten werden, dass ein „roll-back” nur mehr sehr schwer möglich wird. Diese Bedrohung macht eine zwischenzeitliche Stabilisierung des Landes dringender als eine politische Einigung. Es ist ohnehin offensichtlich, dass das strategische Ziel eines stabilen und demokratischen Libyens fürs erste nicht realistisch ist.

Was kann man tun?

Eine internationale Libyen-Strategie muss dem Rechnung tragen und das Endziel eines stabilen und demokratischen Libyen in mehreren Zwischenschritten anstreben. Eine Roadmap dafür könnte auf der Basis des Skhirat-Prozesses ausverhandelt werden – mit oder auch ohne Einheitsregierung. Da der Vorgang für eine neue Verfassung keine baldigen Ergebnisse erwarten lässt, sollte eine angepasste Version der alten libyschen Verfassung aus dem Jahr 1951 für eine Übergangszeit von bis zu fünf Jahren wieder in Kraft gesetzt werden.

In der ersten Phase der Strategie gilt es, einen radikal islamistischen Staat oder gar einen „failed state“ an der südlichen Küste des Mittelmeeres zu verhindern und die Lage im Land zu stabilisieren. Dazu müssen eine weitere Ausbreitung der Dschihadisten verhindert und der IS zurückgedrängt werden. Lokale Waffenstillstände zwischen den anderen, unzähligen Streitparteien müssen wo immer möglich durch Nachbarn, die Arabische Liga oder die Afrikanische Union vermittelt und wenigstens mit Beobachtern abgesichert werden. Dies sollte zumindest auch eine eingeschränkte Kontrolle der Grenzen und die Vorbereitung von Wahlen erlauben. Dazu wäre eine Einheitsregierung oder auch das HoR und alle lokalen Koalitionen, die zum Kampf gegen den IS bereit sind, militärisch durch den Westen zu unterstützen. Dies sollte Ausbildung, nachrichtendienstliche Informationen, Logistik, Ausrüstung, Waffen und Munition umfassen. Das UN-Waffenembargo wäre aufzuheben. Ein direktes militärisches Eingreifen sollte aber möglichst den Nachbarstaaten und der Arabischen Liga vorbehalten bleiben.

In der zweiten Phase sind aufgrund der geringen demokratischen Legitimierung des HoR, aber auch einer allfälligen Einheitsregierung, Wahlen vordringlich. Das strategische Ziel sollte es sein, eine neue Legislative mit breiter demokratischer Legitimierung und besonderen Befugnissen für einen begrenzten Zeitraum zu schaffen. Es werden keine perfekten demokratischen Wahlen stattfinden, aber das Ergebnis wird jedenfalls auf Grund der in der ersten Phase erfolgten teilweisen Stabilisierung des Landes viel besser sein, als das, was derzeit verfügbar ist. Die neue Regierung muss jedenfalls in Tripolis ihren Sitz haben, während das Parlament in der Cyrenaika verbleiben sollte. Zur Absicherung der Lage wird eine internationale UN-mandatierte Friedenstruppe in und um die Hauptstadt erforderlich sein. Ansonsten wird auch diese Regierung ein Opfer der Milizen werden.

Der gesamte Prozess muss spätestens ab dieser Phase unter unmittelbarer internationaler Überwachung stattfinden. Die beste Lösung wäre die Einrichtung eines UN High Representative mit einem Exekutivmandat analog zum Modell in Bosnien-Herzegowina. In der dritten Phase sollte das eigentlich State Buildingzur Verfolgung des ursprünglichen strategischen Ziels erfolgen. 2 Dabei sollte auch die endgültige Verfassung Libyens ausgearbeitet werden. Auch in dieser Phase muss der Kampf gegen den IS und andere Dschihadisten mit internationaler Unterstützung fortgesetzt werden, um einen nachhaltigen Erfolg zu erzielen. Zur Verwirklichung dieser Strategie ist es erforderlich, von Beginn an so viele libysche Gruppierungen, Stämme, Städte und Parteien mit einzubinden, wie nur möglich. Es ist aber unrealistisch und gefährlich, zu warten bis alle „an Bord” sind.

Lessons learned

Die Analyse der negativen Entwicklungen in Libyen erlaubt mehrere Schlussfolgerungen, die in künftigen, ähnlichen Szenarien berücksichtigt werden sollten. Die Uneinigkeit und völlige Zersplitterung des Landes, die nahezu jeden echten Fortschritt unmöglich macht, wurde von der internationalen Politik viel zu spät erkannt. Die von radikalen Islamisten ausgehende Gefahr wurde lange Zeit unterschätzt. Es erscheint notwendig, künftig den inneren Strukturen und Dynamiken von Krisenländern noch mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Einer vorausschauenden Beurteilung der erwartbaren Entwicklungen kommt dabei hohe Bedeutung zu.

Verschiedene Schlüsselereignisse trugen zu einer stetigen Abwärtsbewegung des Landes bei. Mehrere Kernprobleme erwiesen sich als nicht bewältigbar. In einer künftigen, ähnlichen Situation sollte jedenfalls eine umfangreiche „security & state-building mission“ sofort nach dem Fall des Regimes entsendet werden. Dazu müsste die vorherige Unterstützung der Opposition an deren spätere Zustimmung zu einer solchen Mission gebunden werden. Die Führung dieser Mission sollte möglichst durch einen UN High Representa-tive mit weitreichenden Befugnissen erfolgen.

Die Auswirkungen des Festsetzens des Islamischen Staates und anderer radikaler Islamisten in Libyen auf Europa sind absehbar. Neben wirtschaftlichen Nachteilen, die auch deutsche Konzerne wie zum Beispiel Wintershall hart treffen, ist auch mit einem weiteren Anstieg der Migration übers zentrale Mittelmeer und dem Export von Terror zu rechnen. Letzterer wird nicht nur wie schon bisher die Nachbarländer treffen, sondern auch Europa. Eine vernünftige und realistische internationale Strategie ist daher erforderlich, um die Pattsituation zu beenden und dem Land eine Perspektive zu bieten.

Wolfgang Pusztai ist freiberuflicher Security & Policy Analyst und war von 2007 bis 2012 österreichischer Verteidigungsattaché in Libyen. Der Verfasser gibt ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.

1 Zum Vergleich: Bei den Parlamentswahlen in Ägypten 2011 (zweite Phase) waren es 65% und in Tunesien 2014 69%.

2 Für mehr Information zu dieser Phase siehe Wolfgang Pusztai, A Western Strategy for Libya, GMFUS/IAI Policy Brief Juni 2014, http://www.gmfus.org/publications/western-strategy-libya .

Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik | ISSN 2366-0805 Seite 1/4

 

Working Paper topic: 
Intrastate Conflicts
Terrorism
Region: 
MENA
Libya
Tags: 
Libyen
Innerstaatliche Konflikte
Terrorismus
MENA