Arbeitspapiere

Inlandseinsätze der Bundeswehr: Brauchen wir eine Verfassungsänderung?

11/2015
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Nachdem in den letzten Jahren überwiegend die Frage der Auslandseinsätze der Bundeswehr im Fokus der Öffentlichkeit und der politischen Institutionen stand, haben die Flüchtlingskrise und die jüngsten Anschläge in Paris erneut die Frage aufgeworfen, ob und in welchem Umfang die Bundeswehr auch im Inland eingesetzt werden kann. Hierbei werden die politischen Handlungsspielräume ganz maßgeblich auch durch die Vorgaben des Grundgesetzes beschränkt.

Nach Artikel 87a, Absatz 2 des Grundgesetzes dürfen die Streitkräfte „außer zur Verteidigung (...) nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt.“ Die Verfassung begrenzt somit jenseits der Landesverteidigung „einen Streitkräfteeinsatz im Inneren in bewusster Entscheidung auf äußerste Ausnahmefälle“.1 Aus Art. 87a Abs. 2 GG ergeben sich drei Fragestellungen:

  • Liegt überhaupt ein „Einsatz“ im Sinne von Art. 87a Abs. 2 GG vor?
  • Wenn ja, handelt es sich um einen Fall der „Verteidigung“?
  • Wenn nein, handelt es sich um einen anderen Fall des Streitkräfteeinsatzes, welcher im Grundgesetz ausdrücklich anerkannt ist?

Die Systematik des Grundgesetzes und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes setzen hierbei der Auslegung klare Grenzen. Sehr bestimmt führt das Bundesverfassungsgericht hierzu aus: „Die begrenzende Funktion dieser Regelung ist durch strikte Texttreue bei der Auslegung der grundgesetzlichen Bestimmungen über den Einsatz der Streitkräfte im Inneren zu wahren.“2

1. Reichweite des Einsatzbegriffs und der Rechts- und Amtshilfe

Um den Verfassungsvorbehalt des Art. 87a Abs. 2 GG auszulösen, muss es sich zunächst um einen „Einsatz“ im Sinne des Grundgesetzes handeln. Typischerweise wird hierunter die bewaffnete Verwendung von Streitkräften im Rahmen der dafür vorgesehenen militärischen Organisationsstrukturen verstanden. Hierzu zählt bei der Inlandsverwendung in erster Linie „die Androhung oder Inanspruchnahme hoheitlichen Zwangs“ sowie die Verwendung als „Droh- und Einschüchterungspotential“.3 Nicht vom Einsatzbegriff umfasst werden hingegen solche Maßnahmen, die typischerweise nicht mit der Ausübung von Hoheitsgewalt und damit auch nicht mit Grundrechtseingriffen verbunden sind. Hierzu zählen beispielsweise repräsentative oder karitative Maßnahmen und die Öffentlichkeitsarbeit. Auch bestimmte Formen der technischen Hilfeleistung können hierunter fallen, zum Beispiel die Hilfe bei durch technische Störungen verursachten Beeinträchtigungen der Luftsicherheit.4 Somit bedarf nicht jede Nutzung des Personals und der Sachmittel der Bundeswehr einer ausdrücklichen grundgesetzlichen Zulassung. Lediglich bei einer „Verwendung als Mittel der vollziehenden Gewalt in einem Eingriffszusammenhang“ 5 ist dies der Fall, also immer dann, wenn es durch Maßnahmen der Bundeswehr zu Grundrechtsbeeinträchtigungen kommt.

Die verfassungsrechtliche Grundlage für Maßnahmen, die der Unterstützung der Länder dienen und die unterhalb der Einsatzschwelle liegen, ist Art. 35 Abs. 1 GG, der die gegenseitige Rechts- und Amtshilfe zwischen den Behörden des Bundes und der Länder vorsieht. Art. 35 Abs. 1 GG wird auch im Rahmen der Flüchtlingshilfe als maßgebliche Rechtsgrundlage für die Bereitstellung von Liegenschaften der Bundeswehr, die Unterstützung durch „helfende Hände“, die Einbindung des Sanitätsdienstes und ähnliche Maßnahmen angeführt. Der Rückgriff auf die Rechts- und Amtshilfe hat jedoch auch ihre rechtlichen Grenzen. Insbesondere im Rahmen der technischen Hilfe müssen Art. 35 Abs. 2 und 3 GG beachtet werden. In diesen Vorschriften ist der Inlandseinsatz der Bundeswehr bei Naturkatastrophen und besonders schwerer Unglücksfälle geregelt. Zwar zählen beide Szenarien zu den ausdrücklich vom Grundgesetz vorgesehenen Fällen zulässiger Inlandseinsätze der Bundeswehr, doch ist der Einsatz hier nur unter erheblich gesteigerten Voraussetzungen möglich, die an späterer Stelle noch näher betrachtet werden. In diesen Konstellationen ist ein Rückgriff auf die einfache Amts- und Rechtshilfe nach Art. 35 Abs. 1 GG, um die hohen inhaltlichen Anforderungen an den Inlandseinsatz der Bundeswehr nach Art. 35 Abs. 2 und 3 GG zu umgehen, versperrt.

Übertragen auf die Flüchtlingshilfe bedeutet dies, dass solche Maßnahmen nicht unter den Einsatzbegriff fallen, in denen die Bundeswehr keine hoheitlich-exekutive Gewalt gegenüber Flüchtlingen ausübt. So ist in der Bereitstellung von Liegenschaften, in karitativen Tätigkeiten wie der Verteilung von Nahrungsmitteln oder in der Verwendung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr zur medizinischen Betreuung im Regelfall noch kein „Einsatz“ zu sehen, so dass Art. 35 Abs. 1 GG als Rechtsgrundlage ausreicht. Die gesteigerten grundgesetzlichen Vorgaben, wie sie durch andere Vorschriften zwingend vorgeschrieben werden, müssen in diesen Fällen nicht erfüllt werden. Anders ist dies jedoch, sobald die Bundeswehr quasi-polizeiliche Ordnungsfunktionen wahrnehmen soll, also wenn sie hoheitliche Exekutivbefugnisse ausübt. In diesen Fällen ist ein „Einsatz“ gegeben, was dazu führt, dass Art. 87a Abs. 2 GG greift und Art. 35 Abs. 1 GG als Rechtsgrundlage nicht mehr ausreicht. Hierunter fällt auch die Heranziehung von Angehörigen der Bundeswehr zur Bearbeitung von Asylanträgen, da in der Zulassung oder Ablehnung der Anträge eine Ausübung von Hoheitsgewalt mit erheblicher Grundrechtsrelevanz (vor allem im Hinblick auf das Asylgrundrecht nach Art. 16a GG) liegt. Die gleichen Maßstäbe müssen auch für eine mögliche Einbeziehung der Bundeswehr in Abschiebungsverfahren gelten. Für grundrechtsrelevante Eingriffe dieser Art sind primär die Polizei- und Ordnungsbehörden der Länder oder des Bundes zuständig. Nur subsidiär darf die Bundeswehr eingesetzt werden und dann auch nur unter den hohen Anforderungen, die das Grundgesetz ausdrücklich vorsieht. Eine Umgehung dieser Vorschriften, die an späterer Stelle noch näher betrachtet werden, durch eine sehr enge Auslegung des Einsatzbegriffs und ein sehr weitgehendes Verständnis der Rechts- und Amtshilfe nach Art. 35 Abs. 1 GG lässt das Grundgesetz jedenfalls nicht zu.

Im Hinblick auf den Inlandseinsatz der Streitkräfte zur Terrorismusbekämpfung ist die Frage nach dem Einsatzbegriff denkbar einfach zu beantworten. Hier steht gerade das „Droh- und Einschüchterungspotential“ und „die Androhung oder Inanspruchnahme hoheitlichen Zwangs“6 im Mittelpunkt. Dies verdeutlicht der Einsatz der Streitkräfte in Frankreich und Belgien in jüngster Zeit sehr anschaulich. Ein Einsatz im Sinne des Grundgesetzes wäre im Falle einer vergleichbaren Verwendung der Bundeswehr zweifellos gegeben.

2. Einsatz zur Verteidigung

Für diejenige Fälle, in denen von einem „Einsatz“ der Bundeswehr ausgegangen werden muss, eröffnet Art. 87a Abs. 2 GG zwei Szenarien, nach denen ein Inlandseinsatz der Bundeswehr mit dem Grundgesetz vereinbar ist: Entweder es handelt sich um einen Fall der „Verteidigung“ oder um einen Fall, in dem das Grundgesetz den Inlandseinsatz an anderer Stelle als Art. 87a Abs. 2 GG ausdrücklich zulässt.

Der Begriff der „Verteidigung“ wird in seinem Kern von der Definition des Verteidigungsfalles nach Art. 115a Abs. 1 S. 1 GG geprägt, welche voraussetzt, „dass das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht“. Hiernach ist ein Rückgriff auf den Fall der „Verteidigung“ im Rahmen der Flüchtlingshilfe offensichtlich ausgeschlossen. Umstritten ist jedoch die Frage, inwieweit die Reaktion auf terroristische Anschläge im Inland vom Begriff der „Verteidigung“ gedeckt sein kann. In Abgrenzung zu Art. 87a Abs. 4 GG, der den „inneren Notstand“, also beispielsweise die Bedrohung durch organisierte und militärisch bewaffnete Aufständische im Bundesgebiet, zum Gegenstand hat, wird ganz überwiegend davon ausgegangen, dass „Verteidigung“ in Sinne des Art. 87a Abs. 2 GG einen Angriff von außerhalb der Landesgrenzen voraussetzt. Ist ein solcher Angriff gegeben, so ist selbstredend auch die Verteidigung im Inland zulässig.

Würde „Verteidigung“ auch auf rein inländische terroristische Bedrohungen ohne jeden Auslandsbezug erstreckt, würden die hohen Anforderungen des Art. 87a Abs. 4 GG, der fest von einem vorrangigen Einsatz der Polizeikräfte ausgeht, für solche Fälle letztlich leerlaufen. Ein sinnvoller Anwendungsbereich verbleibt Art. 87a Abs. 4 GG nur dann, wenn der Begriff der „Verteidigung“ im Fall terroristischer Angriffe eng gefasst wird. Dass die Befugnisse der Bundeswehr selbst im Fall der „Verteidigung“ nicht alle Arten von Ordnungsaufgaben umfassen, zeigt die ausdrückliche Zuweisung bestimmter polizeilicher Aufgaben im Verteidigungsfall in Art. 87a Abs. 3 GG, welche nicht erforderlich wäre, wenn „Verteidigung“ solche Aufgaben bereits ohne weiteres umfassen würde. Vielmehr ist „Verteidigung“ idealtypisch gerade auf die Abwehr einer abgrenzbaren, von außerhalb der Landesgrenzen stammenden militärischen Bedrohung beschränkt. Diese Abwehr kann natürlich auch im Inland erfolgen, ist aber hinsichtlich der Mittel und des Ausmaßes der Tätigkeit der Streitkräfte eben auf diese Bedrohung beschränkt und befördert die Bundeswehr nicht zu einer umfassenden Ordnungsmacht in polizeilichen Angelegenheiten. Sofern es sich um einen Fall des reinen „Inlandsterrorismus“ handelt, wird man daher im Hinblick auf die Systematik des Grundgesetzes nicht ohne weiteres von einem Fall der „Verteidigung“ im Sinne des Art. 87a Abs. 2 GG ausgehen können, da hier der Auslandsbezug gänzlich fehlt. Gerade für solche Konstellationen gibt es Art. 87a Abs. 4 GG, der erhebliche Hürden für den Inlandseinsatz der Bundeswehr aufstellt, die durch ein weites Verständnis von „Verteidigung“ umgangen würden. Hinzu kommt auch die Möglichkeit eines Einsatzes nach Art. 35 Abs. 2 und 3 GG, wenn ein „besonders schwerer Unglücksfall“ vorliegt. Wie an späterer Stelle noch zu zeigen sein wird, können hiermit auch bestimmte Fälle des Terrorismus gemeint sein.

Über diese grundsätzlichen Erwägungen hinaus hat sich im Hinblick auf die Anschläge vom 11. September 2001 zunehmend die Ansicht durchgesetzt, dass eine enge Kategorie von terroristischen Anschlägen dennoch vom Begriff der „Verteidigung“ umfasst sein kann. Dies ist dann der Fall, wenn es sich um terroristische Angriffe von solcher Intensität und solchem Ausmaß handelt, dass sie Kriegshandlungen gleichstehen und wenn diese Angriffe zusätzlich maßgeblich durch im Ausland ansässige Akteure initiiert und gesteuert werden, so dass sie einem Angriff durch einen fremden Staat strukturell gleichzustellen sind. Eben diese Konstellation war bei den Anschlägen des 11. September 2001 aus der Sicht der USA gegeben. Würde man vergleichbare Anschläge in Deutschland nicht als Angriff verstehen, die als Reaktion eine „Verteidigung“ im Sinne des Art. 87a Abs. 2 GG zuließen, so hätte dies die merkwürdige Konsequenz, dass nach der völkerrechtlichen Betrachtung zwar ein „bewaffneter Angriff“ im Sinne von Art. 51 VN-Charta vorläge, diesem aber rein innerstaatlich nicht mit „Verteidigung“ begegnet werden dürfte. Eine solche Inkongruenz ist nur schwer zu vermitteln. Am überzeugendsten ist es, hier von einem Gleichlauf zwischen der völkerrechtlichen und der staatsrechtlichen Betrachtung auszugehen. Im Hinblick auf eine Konstellation wie die Terroranschläge vom 11. September 2001, bei denen rein völkerrechtlich gesehen ein „bewaffneter Angriff“ (Art. 51 VN-Charta) auf die USA ganz überwiegend bejaht wurde, könnte somit prinzipiell, falls die Anschläge in Deutschland stattfänden, auf den Begriff der „Verteidigung“ zurückgegriffen werden. Problematisch, aber an dieser Stelle nicht weiter zu vertiefen, ist hierbei natürlich die Frage der subjektiven Gewissheit über das Vorliegen dieser Ausnahmebedingungen. Im Falle eines sich gerade entfaltenden Terrorangriffs wird es oftmals nur schwer möglich sein, einen Auslandsbezug mit Sicherheit festzustellen. Bis dies geschehen ist, wird der konkrete Terroranschlag oft schon vorüber sein. Das Problem mangelnder subjektiver Gewissheit stellt sich jedoch auch in anderen Fallgestaltungen, wie bei der erst seit Kurzem im Fokus stehenden „hybriden Kriegsführung“. Auch hier mag es kurzfristig Unsicherheit geben, inwieweit hinter dem Aggressor ein fremder Staat steht oder lediglich lokale Aufständische. Im ersten Fall wäre zweifelsohne ein Fall der „Verteidigung“ gegeben, im zweiten Fall wäre Art. 87a Abs. 4 GG mit all seinen Hürden und Einschränkungen einschlägig. Eine klare rechtliche Antwort auf dieses Problem ist noch nicht in Sicht. Beide Varianten, Verdammnis zur Untätigkeit aufgrund subjektiver Ungewissheit wie auch die Gefahr des überschießenden Bundeswehreinsatzes aufgrund vorschneller Schlüsse sind rechtlich wie politisch nicht zufriedenstellend.

Geht man aber einmal davon aus, dass sich in bestimmten Fällen objektiv feststellen ließe, dass ein Auslandsbezug eines massiven terroristischen Angriffs gegeben ist, so würden sich daraus zumindest keine weitergehenden Befugnisse für die Bundeswehr ergeben als in konventionellen Fällen der „Verteidigung“ gegen staatliche Aggressoren. Soll die Bundeswehr über das hinausgehen, was zur Abwehr der konkreten terroristischen Bedrohung, also der „Verteidigung“ im engen Sinne, notwendig ist, so ist dies nur unter den zusätzlichen Anforderungen von Art. 87a Abs. 3 GG, Art. 87a Abs. 4 GG oder Art. 35 Abs. 2 Satz 2 oder Abs. 3 GG möglich. Die Vorstellung also, dass im Falle von terroristischen Bedrohungen die Bundeswehr wie die Streitkräfte in Frankreich und Belgien Seite an Seite mit der Polizei durch die Straßen patrouillieren und ein Gefühl der Sicherheit vermitteln, liegt jenseits dessen, was der Begriff der „Verteidigung“ hergibt. Hierzu muss jenseits der bloßen „Verteidigung“ im Sinne von Art. 87a Abs. 2 GG einer der Fälle gegeben sein, in denen das Grundgesetz einen Inlandseinsatz der Bundeswehr an anderer Stelle ausdrücklich zulässt. Neben dem bereits aufgeführten Art. 87a Abs. 4 GG („innerer Notstand“) und Art. 87a Abs. 3 GG („äußerer Notstand“) zählen hierzu auch Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG (Naturkatastrophen und besonders schwere Unglücksfälle).

3. „Äußerer Notstand“ und „innerer Notstand“

Art. 87a Abs. 3 GG („äußerer Notstand“) erlaubt den Streitkräften den Schutz ziviler Objekte und die Verkehrsregelung, soweit dies zur Erfüllung des Verteidigungsauftrags erforderlich ist, sowie auch den Schutz ziviler Objekte zur Unterstützung polizeilicher Maßnahmen. All diese Maßnahmen setzen aber die Feststellung des Verteidigungs- oder Spannungsfalles voraus. Wie bereits zuvor angedeutet setzt der Verteidigungsfall im Sinne des Art. 115a GG als „äußerer Notstand“ im Regelfall einen aktuellen oder zumindest unmittelbar drohenden Angriff auf das Bundesgebiet von außerhalb des Bundesgebietes voraus. Das heißt, dass selbst im Falle eines Angriffs auf ein NATO-Mitglied der Verteidigungsfall im Sinne des Art. 115a GG nur festgestellt werden kann, wenn sich der Angriff unmittelbar auf das Bundesgebiet auswirkt oder auszuwirken droht. Das schließt die Feststellung des NATO-Bündnisfalles (Art. 5 NATO-Vertrag) mit seinen völkerrechtlichen Konsequenzen in Fällen, in denen diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, nicht aus. Dieser sogenannte „isolierte Bündnisfall“ ist aber vom „Verteidigungsfall“ im Sinne des Grundgesetzes zu unterscheiden, der ganz eigene Voraussetzungen und (innerstaatliche) Rechtsfolgen hat. Selbst wenn also Frankreich in Reaktion auf die Anschläge vom November 2015 auf die Feststellung des Bündnisfalles in der NATO hingewirkt hätte, wäre die Feststellung des Bündnisfalles an sich noch keine hinreichende Grundlage für die Feststellung des Verteidigungsfalles mit all seinen rechtlichen Konsequenzen. Der Verteidigungsfall muss im Rahmen des in Art. 115a GG gegebenen Prozedere förmlich festgestellt werden (mit der eng gefassten Ausnahme des Art. 115a Abs. 4 Satz 1 GG).

Die genannten Voraussetzungen zeigen bereits, dass Art. 87a Abs. 3 GG für die Flüchtlingsproblematik offensichtlich keinerlei Handhabe bietet. Wie jedoch bereits beim Begriff der „Verteidigung“ angedeutet, ist wohl spätestens seit der Feststellung des NATO-Bündnisfalles nach Art. 5 NATO-Vertrag am 12. September 2001 beziehungsweise nach der VN-Resolution vom 28. September 2001 auf Grundlage des Kapitel VII der VN-Charta in Übereinstimmung mit dem völkerrechtlichen Begriff des „bewaffneten Angriffs“ (Art. 51 VN-Charta) davon auszugehen, dass auch terroristische Angriffe erheblichen Ausmaßes, die im Ausland organisiert und aus dem Ausland heraus gesteuert werden, den Verteidigungsfall auslösen können. Dem steht nicht entgegen, dass es bei den Anschlägen am 11. September 2001 im Rahmen der NATO aus deutscher Sicht bei einem „isolierten Bündnisfall“ geblieben ist. Gleiches gilt im Rahmen des „Spannungsfalles“ nach Art 80a Abs. 1 GG. Voraussetzung ist auch hier, dass die beiden Kriterien (hinreichende Schwere und Auslandsbezug) objektiv nachgewiesen werden können. Sind die beiden Kriterien erfüllt, und ist der Verteidigungsfall festgestellt, so beschränkt Art. 87a Abs. 3 GG den Umfang des Einsatzes der Streitkräfte in quasi-polizeilicher Funktion jenseits der Verteidigung jedoch auf den Umfang, der begleitend zur Erfüllung des Verteidigungsauftrages notwendig ist. Bei vereinzelten, massiven Terroranschlägen ist daher der Einsatz der Streitkräfte auf diese konkreten Bedrohungsszenarien zu beschränken. Die Regelung des Verkehrs et cetera ist insofern nur zulässig, sofern dazu ein zwingender, sich aus dem konkreten Bedrohungsszenario ergebender Grund besteht. Sowohl die Feststellung des Verteidigungs- wie des Spannungsfalls sind aber nach der derzeitigen Sachlage nicht sehr wahrscheinliche, aber auch nicht gänzlich auszuschließende Einstiegsszenarien für einen Inlandseinsatz der Bundeswehr.

Ein unter den derzeit gegebenen Umständen realistischeres Szenario deckt der bereits angesprochene Art. 87a Abs. 4 GG („innerer Notstand“) ab. Auch diese Norm ist lediglich im Kontext terroristischer Bedrohungen relevant, nicht aber im Hinblick auf die Flüchtlingskrise. Art. 87a Abs. 4 GG lässt den Einsatz der Streitkräfte im Inneren zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes (also der Bundespolizei) „beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer“ zu. Dies ist jedoch an drei Bedingungen geknüpft: Es muss zum einen eine drohende Gefahr für den Bestand des Bundes, eines Landes oder für die freiheitlich demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes gegeben sein; es muss zum anderen im Fall eines Landes an dessen Bereitschaft oder Fähigkeit mangeln, diese Gefahr zu bekämpfen; und letztlich dürfen die Polizeikräfte des Landes und die Bundespolizei nicht allein in der Lage sein, die Gefahr zu bekämpfen. Inhaltlich verweist Art. 87a Abs. 4 GG auf Art. 91 GG. Dennoch geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass selbst bei Vorliegen des inneren Notstandes nach Art. 91 GG die Anforderungen des Art. 87a Abs. 4 GG noch nicht automatisch erfüllt sind.7 Sind jedoch die oben genannten gesteigerten Voraussetzungen erfüllt, so liegt der Einsatz in der Verantwortung der Bundesregierung, solange nicht der Bundestag oder Bundesrat nach Art. 87a Abs. 4 Satz 2 GG verlangen, den Einsatz einzustellen. Ist ein Handeln der Bundeswehr nach Art. 87a Abs. 4 Satz 2 GG zulässig, so ist dieses nicht auf solche Mittel beschränkt, welche auch den Polizeikräften zur Verfügung stehen.8

Bei einem Rückgriff auf Art. 87a Abs. 4 GG als Grundlage für einen Einsatz der Bundeswehr gegen terroristische Bedrohungen ist Vorsicht geboten. Man kann selbst bei massiven terroristischen Bedrohungen nicht ohne weiteres von einer Bestandsbedrohung als Gefahr für die territoriale Unversehrtheit und die politische Unabhängigkeit Deutschlands oder eines der Länder 9 ausgehen. Naheliegender scheint ein Rückgriff auf die Gefährdung der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Doch bezeichnet dieser Ausdruck in erster Linie die tragenden Strukturprinzipien der grundgesetzlichen Ordnung, wie zum Beispiele den Bestand der Grund- und Menschenrechte, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und die Unabhängigkeit der Gerichte. Der Bestand dieser Elemente wird durch terroristische Angriffe jedoch auf normativer Ebene nicht angetastet. Die freiheitlich demokratische Grundordnung behauptet sich vielmehr im Kampf gegen den Terrorismus. Nach herkömmlichem Verständnis ist eine Bedrohung der freiheitlich demokratischen Grundordnung daher in erster Linie durch ihre normative Unterwanderung zu befürchten.

Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass die freiheitlich demokratische Grundordnung auch rein faktisch gefährdet sein kann. Dies ist bei einem Ausmaß an terroristischer Bedrohung, welches das öffentliche Leben gänzlich zum Erliegen bringt und bei welchem der Staat durch den Einsatz der herkömmlichen Polizeikräfte nicht mehr in der Lage ist, seiner ureigenen Funktion als Garant der Sicherheit nachzukommen, durchaus der Fall. Die normative Geltung basiert insofern auch auf einem Mindestmaß an faktischer Wirksamkeit. Die Schwelle hierfür ist jedoch sehr hoch anzusetzen. Solange der Staat in der Lage ist, ein nach den gegebenen Umständen realistisches Maß an Sicherheit unter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze zu gewährleisten, wird man von einer Gefahr für den Bestand der freiheitlich demokratischen Grundordnung noch nicht sprechen können. Insofern ist ein Rückgriff auf Art. 87a Abs. 4 GG nur unter Überwindung hoher Hürden möglich.

4. Naturkatastrophen und besonders schwere Unglücksfälle

Zwei weitere Vorschriften, die den Einsatz der Streitkräfte im Inneren ausdrücklich zulassen, sind Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG. Nach Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG kann ein Land zur Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall Streitkräfte anfordern. Nach Art. 35 Abs. 3 GG kann die Bundesregierung zur Unterstützung der Polizei Streitkräfte einsetzen, sofern eine Naturkatastrophe oder ein Unglücksfall im Sinne des Abs. 2 das Gebiet mehr als eines Landes gefährdet. Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG erlauben somit einen Einsatz der Bundeswehr nicht schon dann, wenn die Polizeikräfte der Länder überfordert sind. Wie Art. 35 Abs. 2 Satz 1 GG verdeutlicht, ist grundsätzlich die Anforderung von Einheiten der Bundespolizei vorrangig. Nur unter den engen in Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG genannten Zusatzbedingungen kommt ein Einsatz der Streitkräfte in Betracht. Entscheidend ist hierbei, was unter einer „Naturkatastrophe“ oder einem „besonders schweren Unglücksfall“ zu verstehen ist.

Der Begriff der „Naturkatastrophe“ setzt naheliegender Weise eine unmittelbare Verursachung durch Naturgewalten voraus. Im Kontext von Flüchtlingskrise und Terrorgefahr spielt diese Variante keine Rolle. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind vom „Begriff des besonders schweren Unglücksfalls nur Ereignisse von katastrophischen Dimensionen erfasst“.10 Somit ist nicht bereits jeder Fall umfasst, der die Polizeikräfte vor erhebliche Herausforderungen stellt. „Besonders schwere Unglücksfälle sind vielmehr ungewöhnliche Ausnahmesituationen.“ 11 Ein Einsatz der Bundeswehr zur allgemeinen Gefahrenabwehr jenseits dieser „ungewöhnlichen Ausnahmesituationen“ ist somit unzulässig.

Die Tatsache, dass ein besonders schwerer Unglücksfall absichtlich herbeigeführt wurde, wie beispielsweise bei einem Terroranschlag, schließt hierbei einen Unglücksfall nicht prinzipiell aus.12 Doch aufgrund der detaillierten Vorgaben zum „inneren Notstand“ nach Art. 87a Abs. 4 GG ist dieser bei organisierten und militärisch bewaffneten Aufständen sowie bei der Abwehr innerer Unruhen, die von nichtstaatlichen Angreifern ausgehen, vorrangig.13 Die strengen Beschränkungen, welche Art. 87a Abs. 4 GG auferlegt „dürfen nicht dadurch umgangen werden, dass der Einsatz statt auf der Grundlage des Art. 87a Abs. 4 GG auf der des Art. 35 Abs. 2 oder 3 GG erfolgt“.14 Die meisten Szenarien der Terrorismusbekämpfung verlagern sich hierdurch, sofern sie überhaupt erfasst sind, auf Art. 87a Abs. 4 GG und können nicht durch ein „Katastrophenszenario“ nach Art. 35 GG ersetzt werden, um die Anforderungen des Art. 87a Abs. 4 GG zu umgehen. Dennoch ist ein Rückgriff auf Art. 35 Abs. 2 oder 3 GG dann nicht ausgeschlossen, wenn Art. 87a Abs. 4 GG seiner Typik nach eine bestimmte Bedrohungssituation gar nicht einschließt. Dies ist, unabhängig von anderen sich dabei ergebenden juristischen Hürden, beispielsweise bei einer Verwendung entführter Flugzeuge als Waffe der Fall.15 Als zusätzliche Anforderung muss ein Unglücksfall zudem bereits vorliegen und nicht nur möglicherweise in der Zukunft eintreten. Reine Präventivmaßnahmen lassen sich nicht auf Art. 35 Abs. 2 oder 3 GG stützen.16 Es reicht jedoch, dass „der Unglücksverlauf (...) bereits begonnen hat und der Eintritt katastrophaler Schäden unmittelbar droht“.17

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schließen Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG eine Verwendung spezifisch militärischer Waffen bei Einsätzen der Streitkräfte nicht aus und eine Beschränkung auf rein polizeiliche Einsatzmittel lässt sich dem Wortlaut des Grundgesetzes auch nicht entnehmen. Insofern stünden hypothetisch betrachtet viele Optionen zur Gefahrenabwehr offen. Allerdings lässt das Grundgesetz derartige Einsätze nur unter sehr engen Voraussetzungen zu, die gerade verhindern sollen, dass die Begrenzungen des Art. 87a Abs. 4 GG unterwandert werden.18 Zudem schränkt Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG den Umfang des Einsatzes auf das zur „wirksamen Bekämpfung“ erforderliche ein. Eine umfassende und dauerhafte Übernahme von Ordnungsfunktionen durch die Bundeswehr ist daher ausgeschlossen. Der Einsatz der Bundeswehr ist insofern ultima ratio und die „Erforderlichkeitsklausel“ des Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG soll gerade die Subsidiarität der Handlungsoptionen des Bundes beim Einsatz der Bundeswehr im Verhältnis zu der Tätigkeit der Polizeibehörden der Ländern zum Ausdruck bringen.19

Wie sich aus diesen Ausführungen ergibt, ist somit weder in der Flüchtlingskrise noch bei aktuellen terroristischen Bedrohungen ein Rückgriff auf Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG ohne weiteres möglich. Auch hier gilt der Grundsatz, dass der juristische Sprachgebrauch nicht zwangsläufig identisch mit der Umgangssprache ist. Auch wenn Flüchtlingsströme und Terroranschläge im Umgangston „katastrophische Dimensionen“ annehmen und „ungewöhnliche Ausnahmesituationen“ darstellen, so heißt dies nicht, dass sich diese Einschätzung mit dem juristischen Sprachgebrauch deckt.

5. Fazit

Trotz der andauernden Herausforderungen durch die Flüchtlingskrise und die Gefahr terroristischer Anschläge bleiben die grundgesetzlichen Möglichkeiten des Inlandseinsatzes der Bundeswehr stark eingeschränkt. Auch wenn das Grundgesetz nicht kategorisch jeden Einsatz der Bundeswehr bei der Flüchtlingshilfe und gegen terroristische Bedrohungen ausschließt, so entsprechen die vom Grundgesetz vorgesehen Einsatzszenarien im Regelfall nicht der Typik der Einsätze, die zurzeit im öffentlichen Diskurs zur Debatte stehen. Ist daher der verstärkte Inlandseinsatz der Bundeswehr politisch gewollt und demokratisch legitimiert, so bliebe nur der Weg über eine Verfassungsänderung.

Carsten Kalla LL.M. (Columbia) ist Doktorand und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht der Universität Bonn, Prof. Dr. DDr. h.c. Matthias Herdegen, und Mitglied des Arbeitskreises Junge Sicherheitspolitiker der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Der Autor gibt seine eigene Auffassung der geltenden Rechtslage wieder.

1 BVerfGE 132, 1/9; siehe auch BVerfGE 132, 1/16; 115, 118/142.

2 BVerfGE 132, 1/9; 90, 286/356 f., 115, 118/142.

3 Vgl. BVerfGE 132, 1/20; BVerwGE 132, 110/119f.

4 Vgl. BVerfGE 132, 1/20.

5 BVerfGE 132, 1/20.

6 Vgl. BVerfGE 132, 1/20 sowie BVerwGE 132, 110/119f.

7 BVerfGE 132, 1/9f.

8 BVerfGE 115, 118/148.

9 Vgl. auch die Formulierung in § 92 Abs. 1 StGB.

10 BVerfGE 132, 1/17; vgl. auch BVerfGE 115, 118/143.

11 BVerfGE 132, 1/17.

12 BVerfGE 132, 1/18.

13 BVerfGE 132, 1/17.

14 BVerfGE 132, 1/16.

15 Vgl. hierzu BVerfGE 132, 1/18.

16 BVerfGE 132, 1/19.

17 BVerfGE 132, 1/18.

18 BVerfGE 132, 1/9.

19 BVerfGE 132, 1/19.

Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik | ISSN 2366-0805 Seite 1/7

 

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Bundeswehr
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