Am 27. Juni endete das diesjährige „Seminar für Sicherheitspolitik“, kurz SP14, der BAKS. Nationale Sicherheit, globale Verantwortung und Krisenbewältigung standen ein halbes Jahr lang im Zentrum der Betrachtung der Teilnehmer. Impulsvorträge, Panels, intensive Diskussionen, Exkursionen, Studienreisen und Feldstudien setzten den Rahmen. Bundespräsident Joachim Gauck, hohe Repräsentanten der Bundesregierung, Botschafter und weitere Angehörige des diplomatischen Corps, Vertreter aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft – sie alle haben dazu beigetragen, den Blick und das Verständnis der Seminarteilnehmer entscheidend zu vertiefen und zu erweitern. Darüber hinaus bildete sich unter den Teilnehmern aus befreundeten Nationen, aus den Ressorts des Bundes und der Länder, aus den Institutionen des Sicherheitsbereichs, aus der Wirtschaft und der Gesellschaft ein Netzwerk heraus, das „vernetzte Sicherheit“ zukünftig in besonderem Maße praktizierbar und erlebbar macht.
Neben den Grundlagen und Rahmenbedingungen deutscher Sicherheitspolitik bildete die Befassung mit globalen Fragen in einer multipolaren/polyzentristischen Welt die „langen Linien“ des Seminars. Die durch zahlreiche Inputveranstaltungen an der BAKS gesetzten Impulse konnten unter anderem durch Einblicke in alle im Bundessicherheitsrat vertretenen Ressorts sowie durch Reisen nach Brüssel, Washington D.C., New York, Peking und Jerusalem – um nur die wichtigsten Stationen zu nennen – vor Ort im Dialog mit maßgeblichen Repräsentanten und Entscheidungsträgern eindrucksvoll und nachhaltig vertieft werden.
Das Seminar unterbreitete Angebote und Denkanstöße. Die daraus zu ziehenden Folgerungen oblagen jedem Teilnehmer des SP14 selbst. Um diesen Transfer zu fördern, wurden die Teilnehmer gebeten, Modul- beziehungsweise Abschnittsanalysen als Namens-artikel in Netzwerkbildung unterstützender Gruppenarbeit zu erstellen. Angestrebt wurde dabei eine von den Teilnehmern zu erbringende Transferleistung, die als politische Handlungsempfehlung gesehen werden kann.
Die folgenden Artikel geben die persönlichen Auffassungen der jeweiligen Autoren wieder:
Module 1 und 2: Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik
Module 3 und 4: Globale Herausforderungen in einer im Wandel befindlichen weltpolitischen Ordnung
Modul 5: China im Aufbruch – Gravitationszentrum des 21. Jahrhunderts?
Modul 6: Engagement in Krisen
Dachzeile:
Module 1 und 2
Headline:
Notwendigkeit der Vernetzten Sicherheit
Vorspann:
Die Module 1 und 2, „Grundlagen und Rahmenbedingungen deutscher und internationaler Sicherheitspolitik“ und „Sicherheitsvorsorge bei übergreifenden Herausforderungen“, unterstrichen die Bedeutung einer allumfassenden Zusammenarbeit, die auch „Vernetzte Sicherheit“ genannt wird.
Autoren:
Hans Guttenthaler MBA, Carsten Jäger, Kristin Kathrine Johansen, Dr. Olaf Polster, Norbert Reez, Dr. Heide Wedemeyer
Copytext (10.000 Zeichen):
1. Ausgangssituation
Die Rahmenbedingungen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik haben sich grundlegend verändert. Neben traditionelle Gefahren und Bedrohungen sind neue, globale Risiken getreten. Zu nennen sind etwa Klimawandel, Pandemien, irreguläre Migration, Cyber-Angriffe, Internationaler Terrorismus, Ressourcenverknappung und Proliferation von Massenvernichtungswaffen. Fragile Staaten stellen eine zusätzliche Herausforderung für die globale Sicherheit dar. Die digitale Revolution (Social Media, Mobilkommunikation, Big Data et cetera) wirkt verstärkend auf die veränderten Rahmenbedingungen. Zum einen ermöglichen neue Technologien auch nichtstaatlichen Akteuren, in bislang nicht gekanntem Ausmaß auf ihre Belange aufmerksam zu machen, zum anderen resultieren aus der technischen Entwicklung auch neue Verwundbarkeiten und Zielkonflikte im Hinblick auf die Gewährleistung von Freiheits- und Bürgerrechten.
Die Schwerpunktverlagerung der US-Außenpolitik in den asiatisch-pazifischen Raum hat ein verringertes Engagement der USA im europäischen Umfeld zur Folge. Zu weiteren globalen Machtverschiebungen führt der starke wirtschaftliche Aufschwung von Schwellenländern wie China, Indien und Brasilien. Die EU und ihre Institutionen sind mit der Bewältigung der Folgen der Finanzkrise stark in Anspruch genommen, was eine Vertiefung der EU-Integration sowie die Fortentwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erschwert. Auch die NATO steht nach Abschluss von Einsätzen (zum Beispiel ISAF-Einsatz in Afghanistan), insbesondere aber wegen sinkender Militärhaushalte ihrer Mitgliedsstaaten vor einer grundlegenden Neuorientierung. Deutschland hat hierzu mit dem „Rahmennationen-Konzept“ („Framework Nations Concept“) einen neuen Ansatz vorgelegt, der von den NATO-Partnern grundsätzlich positiv aufgenommen worden ist. Das Konzept, das ein multilaterales Vorgehen im Verteidigungsbereich beinhaltet, soll auf dem NATO-Gipfel im September 2014 in Wales beraten und verabschiedet werden.
Die neue Bundesregierung bekennt sich im Koalitionsvertrag zur „Vernetzten Sicherheit“. Hochrangige Vertreter Deutschlands haben sich im Rahmen der 50. Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2014 für eine Abkehr von der bisherigen „Kultur der Zurückhaltung“ ausgesprochen – weg von der abwartenden Haltung hin zu einer aktiveren Außen- und Sicherheitspolitik. Deutschland müsse zum „Impulsgeber“ werden, aktiv zu Konfliktlösungen beitragen und international mehr Verantwortung übernehmen.
2. Analyse
Eine Analyse der skizzierten Gesamtsituation ergibt, dass alle neuen Herausforderungen für die globale Sicherheit durch ein sehr hohes Maß an Komplexität und Internationalität geprägt sind. Auch ursprünglich nationale beziehungsweise regionale Konflikte gewinnen zunehmend grenzüberschreitende Dimension. Politische, wirtschaftliche und militärische Interessen sind dabei in vielfältiger Weise miteinander verbunden und voneinander abhängig.
In Politik, Wissenschaft und Praxis besteht daher inzwischen im Grundsatz Einigkeit darüber, dass den neuen Herausforderungen nur mit einem übergreifenden Ansatz (Comprehensive Approach beziehungsweise „Vernetzte Sicherheit“), wie er im Weißbuch 2006 grob umrissen ist, begegnet werden kann. Es besteht die Grundüberzeugung, dass globale Risiken einen ganzheitlichen, ressortübergreifenden Ansatz erfordern. Nur so lassen sich knappe verfügbare Ressourcen optimal einsetzen und gemeinsame Ziele erreichen. Es gibt trotz beständig wachsender Anzahl der Akteure eine gegenseitige Abhängigkeit nie dagewesenen Ausmaßes – einen Zwang zum Multilateralismus. Kein Akteur ist stark genug, um den Herausforderungen alleine zu begegnen (multilateraler Imperativ).
Fragt man danach, wie der Ansatz der „Vernetzten Sicherheit“ bislang in den betroffenen Politikfeldern in die Praxis umgesetzt wurde, so ist dies nur teilweise der Fall. Zwar wurden bereits einige wichtige Veränderungsprozesse (zum Beispiel Nationaler Pandemieplan, Cybersicherheitsstrategie für Deutschland) angestoßen, es bestehen aber weiterhin Defizite im Bereich der Umsetzung. Neben den verfassungsrechtlichen Grenzen (Trennungsgebot, Ressortprinzip, Föderalismus) sind dies vor allem die methodischen Herausforderungen einer übergreifenden Zusammenarbeit und Abstimmung. Festzustellen ist, dass sich eine allgemeine Kultur ressortübergreifenden Denkens und Handelns noch nicht in allen Arbeitsfeldern etabliert hat. Das gilt auch für die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene. Hier zeigen sich ähnliche Defizite, etwa im Hinblick auf die praktische staatenübergreifende und interinstitutionelle Zusammenarbeit bei der Eindämmung der irregulären Migration.
Es ist davon auszugehen, dass die Anforderungen an eine gelingende multilaterale Kooperation aufgrund des Anwachsens der Anzahl der Akteure weiter steigen werden. Das gilt insbesondere für den Fall einer (pro-aktiven) Außen- und Sicherheitspolitik, die bereits im Vorfeld von Konflikten in Krisenregionen tätig werden muss.
Was also ist konkret zu tun, damit Deutschland tatsächlich zum „Impulsgeber“ innerhalb der Außen- und Sicherheitspolitik auf supranationaler und internationaler Ebene werden kann?
Sollen die Absichtserklärungen in der Koalitionsvereinbarung der Bundesregierung und die stimulierenden Äußerungen auf der Münchener Sicherheitskonferenz zur Neuorientierung in der Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands nicht nur Rhetorik bleiben, muss eine Strategie formuliert werden, um den Ansatz der „Vernetzten Sicherheit“ im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik konkret zur Anwendung zu bringen.
Grundlage einer solchen Sicherheitsstrategie muss ein multilateraler Ansatz sein. Wegen der Vielzahl und Heterogenität der Akteure ist über die grundlegende Diskussion hinaus eine Ausformulierung der wesentlichen Inhalte angezeigt.
Vordringlich ist die nähere Bestimmung der strategischen Ziele deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Für eine neu ausgerichtete präventive, vernetzte und vorausschauende Außen- und Sicherheitspolitik muss in einem ersten Schritt Einigkeit über die nationalen Sicherheitsinteressen und die strategischen Ziele hergestellt werden.
Notwendig ist zudem ein ergebnisoffener, transparenter und die Zivilgesellschaft einbeziehender öffentlicher Diskurs über deutsche Interessen und Werte. Dieser wurde bislang nicht in ausreichendem Maß geführt. Ein solcher Diskurs ist jedoch erforderlich, um Akzeptanz herzustellen und die erforderliche Legitimation für die neue Weichenstellung in der Außen- und Sicherheitspolitik innerhalb der Bevölkerung zu erreichen.
Um die Umsetzungschancen der formulierten Ziele zu erhöhen, ist ferner ein einheitliches Methodenverständnis für die vielfältigen Akteure und Partner anzustreben. Die Sicherheitsstrategie sollte sich hierzu positionieren und insbesondere Erfahrungen aus der Praxis sowie praxisnahe theoretische Ansätze berücksichtigen. Allen beteiligten Partnern muss vermittelt werden, dass ein multilateraler Ansatz eine hohe Verlässlichkeit von jedem einzelnen erfordert.
Der Weiterbildung von Sicherheitsverantwortlichen und der Evaluation von multilateral durchgeführten Einsätzen kommt eine herausragende Rolle zu. In dieser Hinsicht sollten ressortübergreifende gemeinsame Bildungseinrichtungen und konkrete Initiativen zur Verbreitung und Vertiefung des Ansatzes der „Vernetzten Sicherheit“ gestärkt werden.
3. Handlungsempfehlungen
Im Einzelnen wird folgendes empfohlen:
-
Vor dem Hintergrund zunehmender, hochkomplexer und bedrohlicher Herausforderungen in der Außen- und Sicherheitspolitik ist die Bundesrepublik Deutschland international stärker gefordert. Deutschland muss daher deutlich mehr Verantwortung als bisher übernehmen (Politik der neuen Verantwortung). Ein stärkeres internationales, mitgestaltendes Engagement bedeutet dabei nicht automatisch ein stärkeres militärisches Engagement.
-
Deutschland sollte sich in der EU, in der NATO und den VN als verlässlicher Partner zeigen (Einheit von Anspruch, Aussage und Handlung). Da fragile Staaten Terrorismus, Organisierte Kriminalität und irreguläre Migration begünstigen, muss zur Prävention bereits bei deren Stabilisierung angesetzt werden. Hierzu ist internationale Zusammenarbeit notwendig. Ein besonderer Fokus des verstärkten Engagements ist dabei auf folgende Regionen zu legen: Balkan, Kaukasus, Naher und Mittlerer Osten, Türkei und Nordafrika einschließlich Sahelzone. Innerhalb der EU sollte sich Deutschland für die Durchsetzung bestehender Vereinbarungen einsetzen, insbesondere bei der Sicherung der EU-Außengrenzen.
-
Deutschland braucht eine Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik. Voraussetzung eines größeren internationalen Engagements und einer um-fassenden Sicherheitspolitik ist die Benennung deutscher Sicherheitsinteressen und die Bestimmung strategischer Ziele.
-
Zur Erarbeitung einer Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik muss der Diskurs, der gerade erst begonnen hat, fortgesetzt und auf breiter Ebene geführt werden. Obgleich politisch im Zweifel unbequem, ist die Öffentlichkeit in diesen Diskurs zwingend einzubeziehen.
-
Der eingeschlagene Weg in der Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik sollte konsequent weitererfolgt werden. Um die Chancen für die Zielerreichung zu verbessern, sollte ein einheitliches Methodenverständnis für die Anwendung des Ansatzes der „Vernetzten Sicherheit“ entwickelt werden.
-
Im Rahmen der Erarbeitung der Sicherheitsstrategie für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik sollte der Aspekt Evaluierung von (multilateralen) Einsätzen mit deutscher Beteiligung angemessen berücksichtigt werden.
-
Es sollte geprüft werden, inwiefern das „Rahmennationen-Konzept“ auf den EU-Kontext übertragen werden kann.
-
Der Ansatz der „Vernetzten Sicherheit“ sollte im Rahmen einer systematischen Fortbildung von Führungskräften und der Weiterbildung von Schlüsselpersonal noch stärker zur Geltung gebracht werden. Hierbei kann auf Erfahrungen der Bundesakademie für Sicherheitspolitik zurückgegriffen werden.
Dachzeile:
Module 3 und 4
Headline:
Globale Ordnung im Wandel
Vorspann:
Das Modul 3 „Die weltpolitische Ordnung im Wandel“ legte besonderes Augenmerk auf die ordnungspolitischen Interessen und Erwartungen unter anderem der BRICS- und G20-Staaten, auf das internationale Engagement von Regionalorganisationen und nicht zuletzt auf einhergehende Herausforderungen für Deutschland und Europa. Daran knüpfte unmittelbar der Seminarabschnitt 4 „Globale Herausforderungen und die Rolle der USA“ an: Wie geht Amerika als lange Zeit dominante Gestaltungsmacht mit einer Welt im Umbruch um? Wie wirken sich die neuen Rahmenbedingungen auf das transatlantische Verhältnis aus?
Autoren:
Frédéric Dreher, Philip Lechtape, Carsten Loschinsky, Eckhard Volkmann, Sylvia Zahlmann
Copytext (19.600 Zeichen):
1. Einführung
Die weltpolitische Ordnung befindet sich im Wandel. Aufstrebende Staaten wie China, Brasilien, Indien, um nur einige zu nennen, streben nach mehr Einfluss im weltpolitischen Geschehen, während die bisherigen Großmächte langsam an globalem Einfluss verlieren. Gekoppelt mit den Entwicklungen des Arabischen Frühlings und den daraus erwachsenen Instabilitäten im arabischen Raum ist erkennbar, dass neue globale Herausforderungen entstehen, die ein Handeln der Völkergemeinschaft in vielerlei Hinsicht erforderlich machen. Von Deutschland, als einem starken internationalen Akteur, wird dabei von vielen anderen Staaten eine deutlich stärkere Rolle erwartet als bisher.
In Anlehnung an das Modell der „Wunderlichen Dreifaltigkeit“ einer gelungenen Strategie nach von Clausewitz, nach der es eines „großen Feldherrn“, eines „Primats der Politik“ sowie der „Zustimmung des Volkes“ bedarf, soll hier Deutschlands aktuelle Strategiefähigkeit bewertet werden.
Die drei Clausewitzschen Elemente werden dabei wie folgt übertragen:
-
die Bundesregierung steht für den „großen Feldherrn“
-
das Parlament sichert den „Primat der Politik“
-
zuletzt steht die Bundeswählerschaft für die „Zustimmung des Volkes“.
2. Ausgangslage
Beginnt man mit der allgemeinen Fragestellung, was der übergreifende Zweck des staatlichen Handelns in Deutschland ist, dann erkennt man aus den Aussagen der Politik relativ schnell, dass die allgemeine Wohlstandssicherung in Deutschland neben den Grundwerten der Freiheit und Gleichheit bisher im Vordergrund stand. Die aktuellen Diskussionen zeigen aber, dass diese Zweckbestimmung unter Berücksichtigung der sich global verändernden Rahmenbedingungen unter Umständen nicht mehr ausreichend ist.
Allgemeinen Wohlstand sichert sich Deutschland nur über ausreichende Handlungsoptionen im internationalen Kontext. Und die Sicherstellung von Handlungsoptionen basiert auf der anderen Seite auf einer wirtschaftlich starken Gesamtlage. Diese Themen müssen also in der Fortschreibung als kongruent angesehen werden.
Daher zielen die bisherigen Strategien der vorherigen und aktuellen Bundesregierung, wie das Weißbuch 2006, der Aktionsplan Zivile Krisenprävention, der Koalitionsvertrag und Ressortpolitiken sowie das vorherrschende Narrativ der außen- und sicherheitspolitischen Ressorts vor allem auf wirtschaftliche Prosperität Deutschlands als grundsätzliches Ziel außenpolitischen Handelns.
Bedingt durch die wirtschaftliche Prosperität und eine starke Rolle in Europa wird Deutschland von außen zunehmend auch eine Führungsrolle in der europäischen und internationalen Politik angetragen. Dies geschieht zum einen durch Strategiewechsel der USA und der NATO mit dem Konzept „leading from behind“, zum anderen durch den „pivot to Asia“ der USA. Daraus resultiert, dass von Deutschland als einem starken internationalen Player ein höheres Maß an internationaler Verantwortung erwartet wird, wie etwa vom polnischen Außenminister Sikorski jüngst gefordert. Aufgegriffen werden diese Forderungen durch Aussagen der Bundesregierung und des Bundespräsidenten auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Frühjahr 2014, bei der ein stärkeres Engagement Deutschlands auf dem Parkett der internationalen Sicherheitspolitik in Aussicht gestellt wurde als auch durch die schon länger bestehende Forderung Deutschlands nach einem ständigen Sitz im VN-Sicherheitsrat. Es gilt aber zu prüfen, ob die Fokussierung deutscher Politik auf seine wirtschaftliche Prosperität eine hinreichende Zweckbestimmung darstellt, oder ob Deutschland sich nicht eine neue Selbstbestimmung geben sollte, die nationale und internationale Sicherheit einschließen würde.
Dies würde gegebenenfalls zu profilierteren, ressort- und legislaturübergreifenden Zielvorgaben führen und könnte letztlich auch die öffentliche Zustimmung der Bevölkerung für eine deutsche „Grand Strategy“, bestehend aus allen dafür erforderlichen Ressortpolitiken, wie Wirtschaft, Umwelt, Sicherheit, Soziales und deren Umsetzung mit „soft“ und „hard power“ deutlich erhöhen.
3. Eine Welt im Wandel – nationale und globale Herausforderungen
Sicherheitspolitik gilt in der deutschen Politik meist lediglich als Mittel dieses Zwecks im Sinne der Sicherung von Handelsrouten, wie zum Beispiel die deutsche Beteiligung an der von der VN mandatierten Mission Atalanta am Horn vor Afrika, sowie der Energie und Rohstoffabsicherung, wie die jüngsten Diskussionen um die Ukraine unter anderem belegen. Entsprechende Ausführungen findet man auch im Weißbuch von 2006. In der jüngsten Rhetorik deutscher Politiker wird einem stärkeren sicherheitspolitischen Engagement Deutschlands zwar ein höherer Stellenwert beigemessen.
Daraus kann jedoch nicht auf eine grundsätzliche Neuausrichtung politischen Handelns geschlossen werden. Ein verstärktes sicherheitspolitisches Engagement scheint aus der deutschen Perspektive sinnvoll, um das deutsche Wohlstandsniveau tatsächlich zu sichern. Darüber hinaus würde Deutschland damit seiner globalen Verantwortung in der EU und der Welt weit über rein wirtschaftliche Prosperität hinaus gerecht werden. Von Deutschlands Nachbarn und Bündnispartnern wird dies mittlerweile deutlich gefordert.
Deutschland und die EU sind derzeit vielfältig sicherheitspolitischen und anderen Herausforderungen, wie zum Beispiel der Finanz- und Euro-Krise ausgesetzt. Deutschland muss sich folgende, sich ändernde Rahmenbedingungen vor Augen halten, wenn es sein globales Selbstverständnis neu fassen möchte:
-
Die Welt im Wandel
Die zunehmende Globalisierung von Handel, Finanzmärkten, Kommunikation und Migration geschieht vor einem zunehmenden Klimawandel, der viele der Aspekte verstärkt und global neue Probleme entstehen lässt. -
Neue Akteure im globalen Machtgefüge
Neben den staatlichen Formaten von G7, zeitweise G8, G20, BRICS verbreiten sich zunehmend auch nichtstaatliche Ansätze oft getrieben von internationalen Akteuren wie großen multinationalen Firmen und Nichtregierungsorganisationen. Neben diesen etabliert sich aber auch eine Vielzahl von nichtstaatlichen Akteuren, die zum Beispiel organisierte Kriminalität, Terrorismus aber auch Separatismus über internationale Grenzen hinweg forcieren. Dies alles passiert vor dem Hintergrund einer sich hin zu einer multizentrischen Weltordnung hin verschiebenden weltpolitischen Machtordnung mit einer langsam zunehmenden Zahl neuer Atommächte. -
Veränderte Interessen der Politik
Zunehmend spielen der Kampf um Ressourcen, inklusive Wasser, Energie in jeglicher Form und die zunehmende Sorge um die Sicherheit der Nationalstaaten im internationalen Gefüge eine wichtige Rolle. -
Neue Herausforderungen
Dies alles geschieht vor dem Hintergrund wachsender internationaler und auch nationaler Herausforderungen, wie Wirtschaftswachstum, Finanzen, internationalisierter Handel und Armutsbekämpfung. Demographie und Migration auf den unterschiedlichen Kontinenten und in den Nationalstaaten werden dabei eine immer größere Rolle spielen.
Retrospektiv betrachtet hat sich seit dem Ende des kalten Krieges eine multizentrische oder auch multipolare Weltordnung ergeben, in der Instabilität und Krisen zunehmen. Russland, auf der Suche nach neuer internationaler Geltung und Sicherung seiner Einflusssphären destabilisiert die territoriale Integrität am Rande Europas und der NATO und stellt die Energie- und Rohstoffsicherheit Deutschlands damit in Frage. Die Bündnispartner Deutschlands im Baltikum sehen sich davon unmittelbar bedroht und haben Sorge, der Willkür Russlands ausgeliefert zu sein.
China macht seinen Einfluss im süd- und ostchinesischen Meer geltend und sieht sich in mehrfacher Hinsicht bedrängt – ebenso, wie sich Chinas Nachbarn von der neuen Wirtschaftsmacht bedroht sehen. Damit steht eine der bedeutendsten Wirtschaftsregionen der Welt mit erheblicher Relevanz für die deutsche und globale Wirtschaft dauerhaft vor potenzieller Eskalation.
Die Zahl der nach Atomwaffen strebenden Staaten wächst unumkehrbar und droht die bisherigen globalen Machtverhältnisse grundlegend aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dies verpflichtet uns, uns mit unseren über Atomwaffen verfügenden Bündnispartnern (USA, UK, FR) für eine Stabilisierung der bereits mit Atomwaffen ausgestatteten Staaten (IDN, PAK, VRK) einzusetzen, um Extreme und Eskalationen zu verhindern.
Der internationale Terrorismus stellt für die westlichen Gesellschaften einschließlich Deutschlands nach wie vor eine konkrete Bedrohung dar (AFG, IRK, JEM).
Die Wirtschafts- und Finanzkrise hält an und auch die Finanzpolitik der US-Amerikanischen (FED) sowie der Europäischen Zentralbank (EZB) haben bisher keine nachhaltige Stabilisierung erreichen können. Dabei sind Finanzmärkte in hohem Maße voneinander abhängig und die Schockwellen eines Währungsraumes werden sich, wie bereits 2009, unweigerlich auf die Weltfinanz- und Wirtschaftsmärkte übertragen und haben damit das Potential die globale Ordnung aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Bei genauerer Betrachtung der Handlungsweisen der Vereinigten Staaten als der globalen Ordnungsmacht erkennt man als vorherrschendes Handlungsmuster, die Sicherstellung der ureigenen Bedürfnisse, sei es aus finanzpolitischer, sicherheitspolitischer, wirtschaftspolitischer oder auch energiepolitischer Sicht. Die USA sind dabei, auch als Lehre aus den beiden Kriegen im Irak und in Afghanistan, nur noch bedingt bereit, sich sicherheitspolitisch bis zum Äußersten zu beteiligen. Während Chinas Streben nach stärkerer militärischer Macht insbesondere im Südchinesischen Meer und bis zur ersten und zweiten Inselkette vor der Ostküste Chinas aufmerksam beobachtet wird, wird man insbesondere Russlands Verhalten nach den Lehren der Krim-Krise und bei der zumindest temporären Einmischung in die Angelegenheiten der Ukraine sicher tiefgehend analysieren. Dabei darf man jedoch nicht aus den Augen verlieren, dass die Vereinigten Staaten bei allen Kürzungen im Militärhaushalt immer noch ein Vielfaches der Militärhaushalte von etwa China oder Russland aufwenden, um die militärische Überlegenheit auch langfristig sicherzustellen.
Es sei noch erwähnt, dass mit dem Erschließen von riesigen Erdöl- und auch Erdgasvorkommen in Kontinentalamerika durch das Fracking eine Energieautonomie für die Vereinigten Staaten entsteht, die es ihnen ermöglichen bei potentiellen Konflikten im arabischen Raum oder anderswo, bei denen die Lieferungen von Erdöl und Erdgas bedroht erscheinen, längerfristig eine beobachtende Rolle einzunehmen, ohne dass die Ressourcen Interessen der USA kritisch bedroht wären.
4. Schlussfolgerungen und Handlungsbedarf
Deutschland kann es sich nicht leisten, sich der Verantwortung als gestaltende Regionalmacht nicht zu stellen. Daher scheint der Bedarf für eine deutsche „Grand Strategy“ unerlässlich. Diese sollte die Frage beantworten, ob es Deutschland tatsächlich, wie heute vielfach angenommen, nur um seinen Wohlstand und dessen Absicherung geht, oder ob Deutschland einen darüber hinaus gehenden Zweck als Nation verfolgen sollte. Die Autoren dieses Papiers plädieren in jedem Fall für eine umfassendere Zweckbestimmung.
Dafür eventuell auch erforderliche militärische Aspekte muss Deutschland immer vor dem Hintergrund seiner historischen Verantwortung formulieren und kommunizieren. Seine sicherheitspolitische Motivation folgt dabei
-
seiner tatsächlichen global-wirtschaftlichen Macht
-
seiner Verantwortung als Mitglied der Vereinten Nationen und europäischen Staatengemeinschaft
-
sowie seiner Bündnissolidarität mit der transatlantischen Wertegemeinschaft (NATO).
Im deutschen Selbstverständnis sind diese Begründungszusammenhänge immer auszuführen, um der deutschen Bevölkerung ebenso wie den ehemaligen deutschen Weltkriegsgegnern deutlich zu machen, dass eine solche Strategie nicht aus hegemonialem Interesse erfolgt.
Dieses Selbstverständnis trägt dem Eintreten für Menschenrechte, Rechtstaatlichkeit, technologischer Innovationskraft und ökologisch und sozial nachhaltiger Wirtschaftsentwicklung Rechnung und wird damit maßgeblich Deutschlands stärkstes außenpolitisches Kapital. Seine offene, demokratische Gesellschaft ist für Deutschland damit unmittelbar sicherheitspolitisch relevant.
Der Diskurs, der unbedingt auch in der öffentlichen Zivilgesellschaft geführt werden muss, könnte dazu führen, dass Deutschland sich stärker international positionieren wird und als Ultima Ratio auch stärker militärisch engagieren muss. Die Debatte sollte aber nicht nur auf mehr militärisches Engagement reduziert werden, sondern zu einem ausgewogenen Einsatz von „hard“ und „soft power“ führen.
Die deutsche Verfassung lässt den Ressorts ihre Kompetenz zur eigenverantwortlichen Ausgestaltung ihrer Politikfelder. Dieses Ressortprinzip steht nach Wahrnehmung vieler einer ressort- und sektorübergreifenden strategischen Abstimmung und operativen Zusammenarbeit im Wege. Umso wichtiger scheint eine starke, zentrale Koordination, die sich auch nicht scheut, strategische Leitplanken vorzugeben. Für kaum eine andere Armee gilt der politische Primat so sehr, wie für die Bundeswehr mit dem Parlamentsvorbehalt. Von Seiten der Politik bedarf es hierzu klarer strategischer Vorgaben. Diese wären auch für die komplementären, außenpolitischen Instrumentarien Deutschlands, wie beispielsweise die Entwicklungspolitik hilfreich, um den Anspruch der vernetzten Sicherheit erfüllen zu können, ohne dabei die operativen Handlungsräume einzuschränken. Hier stehen gleichermaßen das Bundeskanzleramt und das Auswärtige Amt in der Pflicht.
Konzeptionell und strategisch sind vor dem Hintergrund der genannten globalen Herausforderungen Änderungen in den meisten deutschen Ressortpolitiken erforderlich, denen eine übergeordnete strategische Richtlinie zu mehr Kohärenz verhelfen würde. Es ist beispielsweise unklar, inwiefern die aktuelle Niedrigzinspolitik der FED und EZB die Finanz- und Euro-Krise nachhaltig lösen wird und welche Implikationen dieses auf die Stabilität und Solidarität in der EU und ihren Nachbarregionen hat.
Die Modernisierung und Transformation der Bundeswehr ist zur Sicherung der Bündnisverlässlichkeit Deutschlands, auf die es nach wie vor zwingend angewiesen ist, unbedingt erforderlich. Sie sollte jedoch mehr als bisher in Abstimmung mit den deutschen Bündnispartnern der EU und NATO erfolgen, um in Zeiten sinkender Wehretats in den meisten westlichen Nationen, Synergien zu nutzen und unnötige Redundanzen zu vermeiden. Dabei ist herauszuarbeiten, wie sich eine mögliche Weiterentwicklung der NATO, bei der Kernfähigkeiten der einzelnen Bündnispartner verteilt bei den Partnern liegen, mit dem in Deutschland per Gesetz verankerten Parlamentsvorbehalt vereinen lässt. Dazu wird es in Deutschland weiterer Diskussionen in Regierung und Parlament bedürfen.
Ebenso scheint mittelfristig die Stärkung des Bündnisses Deutschlands und Europas mit den USA ohne nennenswerte Alternative, wenngleich – zumindest von deutscher Seite – Beziehungen und Wertedialog nach Ende des kalten Krieges intensiviert werden müssten. Exemplarisch sind hier die Themen zu benennen wie etwa die Folgeeinschätzung des Irakkrieges, der Vertrauensverlust insbesondere in Deutschland durch den NSA-Skandal sowie die deutsche Enthaltung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zum Libyeneinsatz.
Die Verhandlungen des EU-USA-Freihandels- und Investitionsabkommen (Transatlantic Trade and Investment Programme/TTIP) sollten vor diesem Hintergrund auch auf ihr Potenzial als vertrauensbildendes Instrument untersucht und noch breiter als bisher in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Die im offenen Diskurs teils einseitige Kritik sollte vor dem Hintergrund von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ernst genommen werden. Die Verhandlungen sollten dabei transparenter ausgelegt werden und Alternativen wie Handelseinschränkungen und Wirtschaftsbündnisse Dritter Staaten in die öffentliche Diskussion eingebracht werden.
Auf Ebene der EU wird mittel- bis langfristig ein kollektiver Verteidigungsmechanismus notwendig werden, der mehr als die Summe der einzelnen Armeen der Mitgliedstaaten darstellt. Dies nicht allein, um den häufigen Doppelungen und Ineffizienzen der Streitkräfte der EU-Mitgliedsstaaten zu begegnen. Es geht auch darum, die gemeinsam beanspruchten Wertvorstellungen der EU künftig – neben der durchaus wirksamen „soft power“ der EU – schneller, entschlossener und effektiver auch mit militärischer Macht, Abschreckung und Einsätzen dort umsetzen zu können, wo zivile Mittel versagen.
Insgesamt mangelt es der deutschen EU-Politik an Inspiration. Dabei war Deutschland Gründungsideengeber und nachhaltiger Förderer der EU und verfolgte damit einst eine für alle Deutschen und seine Verbündeten nachvollziehbare, richtungsweisende „Grand Strategy“. Nach der deutschen Wiedervereinigung fehlt es in der Öffentlichkeit derzeit am gemeinsamen, europäischen Projekt. Analog zur deutschen Führungsrolle in der europäischen Finanz- und Währungspolitik während der Euro-Krise sollte Deutschland versuchen, sich auch in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik akzentuierter und gewinnender einzubringen.
Die Politik täte gut daran, den hier abgebildeten Diskurs zu deutschen Interessen und Werten sowie zu Sicherheitsfragen auch näher an die Bevölkerung zu bringen. Deutsche Interessen und Werte haben im vergangenen Jahrzehnt bereits tragische menschliche und hohe materielle Opfer von Deutschland gefordert. Diese müssen erklärt werden. Sie zu rechtfertigen erfordert auch, ihnen durch eine klare strategische und politische Vorgabe einen sinngebenden Zweck zu geben und diesen öffentlich zu diskutieren. Alle politischen Parteien lassen Ansätze zu einer profilierteren Außen- und Sicherheitspolitik erkennen.
Erschwert wird der öffentliche Diskurs für ein stärkeres Engagement in Deutschland vorrangig durch die Lehren der jüngeren Geschichte, aber vor allem auch durch ein Gefühl des ‚garantierten‘ Wohlstands in Deutschland. Dabei wird es der zentrale Punkt der öffentlichen Diskussion sein, darzustellen, dass dieser Wohlstand in Deutschland nur nachhaltig sichergestellt werden kann, wenn sich die starken und gestaltenden Länder der Weltgemeinschaft langfristig für gemeinsame Ziele engagieren. Die Diskussion muss in der Folge dazu beitragen der deutschen Bevölkerung bewusst zu machen, dass die Attraktivität unserer grundrechtebasierten, freiheitlich-demokratischen Gesellschaft keine Selbstverständlichkeit ist.
5. Fazit
Für Deutschland kann der wirtschaftliche Wohlstand nicht mehr als alleiniger außenpolitischer Zweck dienen. Die globalisierte Welt schaut seit der Wende und insbesondere seit Deutschlands Erfolg, im Umgang mit der Finanz- und Wirtschaftskrise, auf den Wiederaufstieg Deutschlands in Europa und in der internationalen Staatengemeinschaft. Unsere Partner appellieren an uns, mehr globale Verantwortung zu tragen. Eine weitere Fokussierung auf unseren wirtschaftlichen Erfolg in der Begründung unserer Außenpolitik würde uns als Egoismus angelastet werden. Eine reine Konzentration auf klassische Machtansprüche würde uns als Rückkehr hin zu deutschem Nationalismus und dessen Gefahren des 20. Jahrhunderts vorgehalten werden.
Eine, wie oben geforderte „Grand Strategy“ sollte daher eng mit unseren Rivalen von früher und Partnern von heute (Großbritannien, Frankreich und Polen) abgestimmt werden und aus dem Selbstverständnis heraus formuliert sein, dass wir Teil eines größeren Staatenensembles sind und bleiben müssen. Es spricht viel dafür, dass wir uns in Europa als führende Integrationsmacht engagieren und mit Europa weltweit zu Stabilität und Prosperität beitragen.
Dachzeile:
Modul 5
Headline:
China im Fokus
Vorspann:
„Asien-Pazifik im Aufbruch – Gravitationszentrum des 21. Jahrhunderts?“ war das Oberthema des Seminarmoduls 5. Die Perspektive war bewusst die Pekings: Welche Rolle besetzt China in seinen nachbarschaftlichen und globalen Beziehungen und wie sieht es sich selbst dabei? Welche Verbindung besteht zwischen Innen- und Außenpolitik der Volksrepublik?
Autoren:
Christian Albrecht, Thomas Breitwieser, Katrin Klüber, Dr. Günter Lemmer, Olaf Lindner, Robert Rider und Christian Sachgau
Copytext (19.100 Zeichen):
1. China intern und der „Chinesische Traum“
Die VR China bezeichnete sich noch im Jahr 2013 in offiziellen Verlautbarungen als Entwicklungsland – gemessen am Rang 101 im Human Development Index des UNDP-Report 2013 sowie an der Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur mit einem, für das Folgejahr 2014 geschätzten, Bruttoinlandsprodukt von 7.140 US-Dollar pro Kopf.
Während der VR China in den letzten zwanzig Jahren – beginnend mit der „Reise in den Süden“ Deng Xiaopings und der Entwicklung einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ am XIV. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas 1992 – ein beispielloser wirtschaftlicher Aufschwung gelang und sie heute die größte Exportnation und die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt ist, haben die soziale und die innenpolitische Entwicklung mit der wirtschaftlichen nicht Schritt gehalten. Die Verteilung von Armut und Wohlstand ist sowohl regional als auch gesellschaftlich höchst ungleich (GINI-Koeffizient für 2011: 0,47; ein Wert ab 0,40 gilt als Indikator für mögliche soziale Unruhen). Während ein Teil der Bevölkerung in den Küstenregionen im Osten und den städtischen Agglomerationen in anderen Landesteilen verhältnismäßig wohlhabend, wenn nicht reich, geworden ist, haben die ländlichen Regionen West- und die ehemals starken Industrieregionen Nordostchinas sowie insbesondere die Landbevölkerung keinen oder nur geringen Anteil an der Prosperität. Die Regierung hat zwar schon vor etwa fünfzehn Jahren Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut ergriffen. Sichtbare Erfolge lassen allerdings auf sich warten.
Wesentlich aus dieser ungleichen Verteilung des Wohlstands folgen einerseits erhebliche intrastaatliche Migrationsbewegungen (Wanderarbeiter), andererseits wiederholte, mitunter gewaltsame, Aufstände in den ländlichen Gebieten, aber auch in den Industrieregionen der Provinz Guangdong und am Unterlauf des Chiang Jiang (Yangtse), die von bewaffneter Polizei und Schlägertrupps lokaler oder regionaler Parteikader niedergeschlagen werden.
Hinzu kommen ethnisch und religiös grundierte Spannungen zwischen Tibetern in den Provinzen Qinghai, Gansu und Yunnan beziehungsweise Uiguren in der Provinz Xinjiang und der han-chinesischen Mehrheit. Neben den Han-Chinesen, die etwa 98 Prozent der rund 1,3 Milliarden Staatsbürger ausmachen, gibt es 55 nationale Minderheiten, die Rechte und Schutz genießen, sofern sie sich den Vorgaben der KPCh und der Verwaltung unterwerfen. Ob eine terroristische Organisation namens ETIM (East Turkestan Islamic Movement), die die chinesische Regierung für eine Vielzahl von Anschlägen und Aufständen in Xinjiang verantwortlich macht, tatsächlich existiert, ist bislang nicht gesichert.
Industrie und Dienstleistung tragen die Steigerung des BIP um jährlich circa 8 Prozent mit aktuell sinkender Tendenz zu 90 Prozent. Lediglich 10 Prozent steuert die Landwirtschaft bei. Andererseits schreiten durch fortdauernde Umweltzerstörungen Desertifikation, Luftverschmutzung sowie die Vergiftung von Boden und Grundwasser voran. Die wachsende Bevölkerung kann von der eigenen Landwirtschaft kaum noch ernährt werden. So haben die Bauern in Hunan aufgrund der hohen Kadmiumbelastung der Pflanzen den Reisanbau zugunsten von Blumenzucht aufgeben müssen. Wasser, obwohl scheinbar reichlich vorhanden, ist in 70 Prozent der Städte Mangelware; gleichzeitig sind etwa 60 Prozent der Flüsse durch ungeklärt eingeleitete Abwässer stark verunreinigt.
Um das wasserärmere Nordchina zu versorgen, sollen mit mehreren großen Bauprojekten Flüsse umgeleitet werden. Die – inzwischen abgemilderte – „Ein-Kind-Politik“, verbunden mit nach wie vor in der Gesellschaft vorhandenen konfuzianischen Vorstellungen, denen zufolge nur männliche Nachkommen die Familie erhalten, führte zu einem Männer-Überschuss, einem Mangel an Arbeitskräften und einer rasch alternden Gesellschaft.
Nach dem Tian’anmen-Massaker vom Juni 1989, als zum bisher letzten Mal eine breite Reformbewegung die Führungsrolle der KPCh in Frage zu stellen gewagt hatte, schloss die Bevölkerung mit der Zentralregierung anscheinend eine Vereinbarung: Wirtschaftswachstum, Zulassung von Privateigentum und die Chance auf individuellen Wohlstand gegen Verzicht auf politische Teilhabe und Anerkenntnis der Vorherrschaft der KPCh. Die Ereignisse vom Juni 1989 sind in der chinesischen Gesellschaft weithin kein Thema. Allenfalls literarisch werden sie von Außenseitern aufgearbeitet (Liao Yiwu: „Die Kugel und das Opium“ und „Für ein Lied und hundert Lieder“; Chan Koochung: „Die fetten Jahre“). Im Vorfeld des 25. Jahrestages des Tian’anmen-Massakers hat die Regierung in den letzten Wochen damit begonnen, regimekritische Rechtsanwälte und Journalisten zu inhaftieren.
Durch die neuen Medien – selbst wenn sie nur zensiert verfügbar sind – verändert sich der politische Entscheidungsprozess. Zwar ist das Volk nach wie vor an den Entscheidungen der KPCh nicht beteiligt. Intensive Diskussionen zu politischen Themen und Ereignissen auf KKKK sina-weibo, fanfan KKKK und anderen Äquivalenten zu Twitter und Facebook, führen jedoch seit etwa fünf Jahren dazu, dass beabsichtigte Entscheidungen vorab zur Diskussion gestellt oder bereits verkündete Entscheidungen unter dem Einfluss der Diskussionen in den sozialen Medien überprüft und geändert werden. Zumindest der internetaffine Teil der Bevölkerung (etwa 600 Millionen Menschen mit steigender Tendenz) hat so eine indirekte Teilhabe an den Entscheidungsprozessen erreicht.
Staatspräsident Xi Jinping will den „chinesischen Traum“ verwirklichen. Die VR China soll eine national geeinte, wirtschaftliche, politische und militärische Macht werden und das „Jahrhundert der Schande“, vom ersten Opiumkrieg 1840 bis zur Gründung der VR China 1949, überwinden. Diese nach außen bedrohlich wirkende Absichtserklärung erscheint indes vor allem nach innen gerichtet und findet bei der Bevölkerung breite Zustimmung. Abgesehen von wirtschaftlicher Stärke sind die weiteren Ziele des „chinesischen Traums“ noch nicht erfüllt. Allerdings setzt Staatspräsident Xi Jinping alles daran, sie zu erreichen. Wie bislang nur Mao und Deng ist er Staatspräsident, Vorsitzender der Militärkommission und Generalsekretär der KPCh. Darüber hinaus hat er neue Institutionen geschaffen, deren Vorsitz er ebenfalls innehat, so den Nationalen Sicherheitsrat, die Kommissionen für Internet-Sicherheit und für die Reform der Volksbefreiungsarmee. Diese Machtfülle nutzt er konsequent, etwa um die weit verbreitete Korruption zu bekämpfen und die Reform des Staates und der Institutionen, zum Beispiel der Justiz, voran zu treiben. Grundlage seiner Politik scheint eine Neuinterpretation konfuzianischen Gedankenguts zu sein. Geordnete und moralisch gefestigte staatliche Strukturen führen demnach zu Integrität nach innen und Stärke nach außen.
2. China und seine Nachbarn am südchinesischen Meer und die „Chinesische Ochsenzunge“
Das heutige China besitzt längst wieder Weltgeltung. Es blickt auf eine etwa viertausendjährige Geschichte, von den Xia- und Shang-Königreichen circa 1989 v.Chr. bis zum heutigen „demokratischen Zentralismus“ der KPCh, zurück. Nur zweimal ist es von außen erobert worden, von den Mongolen 1271, die das Yuan-Khanat errichteten, und den Mandschu 1644, die als Qing-Dynastie das Land bis 1911 regierten. Seine Machtstellung verdankte das chinesische Kaiserreich nicht Eroberungskriegen, sondern der Unterwerfung abtrünniger Fürstenhäuser und der Anerkennung durch Tribut leistende schwächere Nachbarländer. Selbst die Gesandtschaft der britischen Regierung von 1793 betrachtete Kaiser Qianlong als Tributmission wie alle anderen auch. Der chinesische Hof konnte nicht verstehen, dass hier eine zweite Großmacht nicht Tribut zu leisten gedachte, sondern Handels- und Wirtschaftsabkommen unter gleichrangigen Partnern schließen wollte. Aus dieser auch heute noch gültigen Selbstwahrnehmung Chinas rühren manche diplomatische Schwierigkeiten, denn das Verständnis für die Positionen anderer Staaten und das Rüstzeug zur Krisen- und Konfliktbewältigung fehlen.
Die Machtbestrebungen der VR China zur See sind vergleichsweise neu. Zwar hatte es bereits zur Tang-Zeit (618–907) regen Seehandel bis in den arabischen Raum gegeben. Seit Zheng He (gestorben 1435), der zur Zeit der frühen Ming (1368–1644) mit hochseetüchtigen Flotten siebenmal nach Indien, Arabien und Ostafrika segelte, hatte China jedoch keine bedeutenden Aktivitäten zur See mehr entfaltet und sich stets als Landmacht verstanden, sieht man einmal von fehlgeschlagenen Versuchen der Mandschu zur Eroberung der japanischen Inseln ab. Die Gebietsansprüche innerhalb der „Neun-Striche-Linie“ im Südchinesischen Meer, etwas despektierlich auch als „Chinesische Ochsenzunge“ bezeichnet, leitet die VR China aus diesen Jahrhunderte alten Gegebenheiten ab. Eigentlich wäre dies eine außen- oder wirtschaftspolitische Aufgabe. Allerdings besitzen Ministerien innerhalb der chinesischen Regierung nur geringe Bedeutung. Sie sind eher Ressortverwaltungen denn eigenständige Geschäftsbereiche. Insgesamt erheben daher, je nach Zählweise, neun bis elf Akteure, darunter Institutionen wie die Fischereiverwaltung, die Küstenwache oder Ölexplorationsunternehmen Ansprüche unterschiedlichster Art auf das Südchinesische Meer und die darin vermuteten Bodenschätze.
Die Regierung der Philippinen hat die VR China im Januar 2013 vor dem Ständigen Schiedsgerichtshof in Den Haag (Permanent Court of Arbitration/PCA) verklagt. Obwohl sie das Seerechtsübereinkommen (UNCLOS) ratifiziert und sich damit einer schiedsgerichtlichen Entscheidung nach dessen Anhang VII unterworfen hat, weist die VR China den philippinischen Antrag zurück und hat bereits angekündigt, die Entscheidung des PCA nicht zu akzeptieren. Das Streben nach Vorherrschaft auf See wird unterstützt durch den Bau von bis zu vier Flugzeugträgergruppen. Die Philippinen ihrerseits haben mit den USA einen Beistandspakt geschlossen und den amerikanischen Streitkräften Nutzungsrechte auf philippinischen Militärbasen eingeräumt.
Als Rechtsnachfolgerin der Republik China auf der Grundlage der Resolution der Generalversammlung A/RES 2758 (XXVI) vom 25. Oktober 1971 ist die VR China seither ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Inzwischen stellt sie von allen ständigen Mitgliedern die meisten Soldaten für Operationen der VN. Sie ist Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) seit 1991 und Gründungsmitglied der „Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit“ (1996 entstanden als „Shanghai 5“, 2001 in die SCO umgewandelt). Außerdem ist die VR China wesentlicher Akteur bei den multilateralen Verhandlungen mit Nordkorea und baut ihren Einfluss auf dem afrikanischen und anderen Kontinenten kontinuierlich aus.
3. China und der Westen oder die „Strategie der Neuen Seidenstraße“
Staatspräsident Xi Jinping verkündete anlässlich seines Besuchs in Deutschland im März 2014 einmal mehr die „Strategie der Neuen Seidenstraße“. Gemeint ist damit neben dem „klassischen“ Seeweg vor allem eine Eisenbahnverbindung von China quer durch Zentralasien bis nach Duisburg, auf der künftig täglich Züge rollen sollen. Derzeit sind es drei pro Woche.
Neu ist diese Idee nicht und schon gar keine chinesische. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beflügelte der Gedanke einer Wiederbelebung des Handels und des Ausbaus der Infrastruktur der nun selbständig gewordenen zentralasiatischen Staaten die amerikanischen Administrationen unter den Präsidenten Bush (senior) und Clinton, ohne dass diese Planspiele indes in konkrete Projekte übergegangen wären.
Die „Strategie der Neuen Seidenstraße“ erscheint so als Teil des „Chinesischen Traums“. Einen möglichen Konflikt mit Russland, das seine Einflusszone in Zentralasien berührt sieht, nimmt die VR China in Kauf und hätte mit der SCO bereits ein Schlichtungsforum, dem alle Beteiligten angehören. Die „Strategie der Neuen Seidenstraße“ ist zugleich ein Versuch, die wirtschaftliche Orientierung Deutschlands und der Europäischen Union nach Osten zumindest zu erweitern und damit ein Gegengewicht zu TTIP zu schaffen.
4. Deutsche und europäische Möglichkeiten
4.1 Deutschland
Die Bundesrepublik Deutschland unterhält sowohl zu Japan wie zu China besonders enge Verbindungen. Auf seiner Reise Mitte April 2014 hat Bundesaußenminister Steinmeier in beiden Staaten für einen politischen Dialog auf hoher Ebene geworben, um die Spannungen mit Japan um die Diaoyu- beziehungsweise Senkaku-Inseln zu beizulegen. Eine Rolle als Vermittler oder Mediator in den Streitigkeiten zwischen China und seinen Nachbarn dürfte die Möglichkeiten deutscher Außenpolitik übersteigen.
Deutschland gilt indes in der Region als „ehrlicher Makler“, vertrauenswürdig und ohne geostrategische Interessen. Insbesondere China betrachtet jede Einflussnahme auf den Konflikt als Einmischung in seine inneren Angelegenheiten. Als geduldiger Zuhörer und Impulsgeber für Anläufe, die Spannungen zu lösen, dürfte Deutschland insoweit eine angemessene Rolle einnehmen. Bei den unter 2. dargestellten inneren Herausforderungen begleitet die Bundesrepublik Deutschland China bereits bei der langfristigen Bearbeitung, insbesondere auf den Gebieten Wirtschaft, Energie und Umwelt sowie Urbanisierung.
Der deutsch-chinesische Rechtsstaatsdialog mit den Zielen, die Reform des Justizwesens und Gesetzesinitiativen, etwa im Gesellschaftsrecht, zu unterstützen, könnte die Modernisierungsbemühungen der Zentralregierung nachhaltig stärken.
4.2 Europäische Union
Staatspräsident Xis Besuch bei der EU am 31. März 2014 diente vor allem dem Zweck, die EU als Gegenpol zu den USA zu stärken. Die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit könnte durch die Strategie der neuen Seidenstraße noch verstärkt werden. Einerseits erschlössen sich den EU-Unternehmen in Zentralasien neue Absatzmärkte, anderseits würden diese verhältnismäßig schwachen Staaten überhaupt erst befähigt, an dem Wirtschaftsraum teilzuhaben. Die VR China ist in die Verhandlungen über die transatlantischen und transpazifischen Freihandelsabkommen (TTIP beziehungsweise TPP) nicht einbezogen und fühlt sich von den USA eingehegt. Ihr Interesse gilt eher bilateralen denn multilateralen Vereinbarungen.
Gleichwohl scheint sie seit Neuestem die Anregung vom APEC-Gipfel 2006 in Hanoi zu Verhandlungen über ein Asiatisch-Pazifisches Freihandelsabkommen (FTAAP) aufgreifen zu wollen. Auch könnte ein Freihandelsabkommen EU-China den beiderseitigen Wirtschaftsinteressen entgegen kommen. Derzeit allerdings wird nur ein Investitionsabkommen verhandelt.
Wenngleich die EU keine geostrategischen Interessen in der Region hat, liegt es auch in ihrem Interesse, dass der Konflikt im Südchinesischen Meer friedlich beigelegt wird, denn die wichtigsten Seehandelsrouten führen durch das umstrittene Gebiet. Daher war die VR China wohl auch etwas überrascht, dass sich neben den pazifischen Staaten auch die EU gegen die Expansionserklärung gewandt hat. Allerdings tritt die EU sehr zurückhaltend auf und bedarf immer wieder deutscher Impulse zur Herausarbeitung einer eigenen Position zu pazifischen Fragen. Gerade in sicherheitspolitischer Hinsicht sollte sich die EU im pazifischen Raum mehr engagieren, um den Einfluss nicht gänzlich zu verlieren. Es ist nicht wünschenswert, dass sich die EU auf das Mittelmeer und den Atlantik beschränkt und dem „pazifischen“ Amerika und China den Einfluss überlässt, zumal die zukünftigen Absatzmärkte eher in den aufstrebenden Volkswirtschaften Südostasiens liegen als im europäisch-amerikanischen Umfeld.
5. Ausblick
Grundsätzlich sind vier Szenarien für die weitere Entwicklung Chinas denkbar:
-
Die VR China verhält sich ihrer Tradition gemäß, setzt auf ihre wirtschaftliche Dominanz und ihr Gewicht als flächen- und bevölkerungsbezogen größte Regionalmacht und lässt die Zeit für sich arbeiten.
-
Die VR China setzt auf friedlichen Ausgleich der Interessen mit den Nachbarstaaten.
-
Die VR China entwickelt sich zu einem aggressiven Hegemon im asiatisch-pazifischen Raum.
-
Die VR China zerfällt in ein weiterhin von der Han-Mehrheit geprägtes China und mehrere überwiegend monoethnische Gebiete teils wiederhergestellter, teils neuer Eigenstaatlichkeit, insbesondere im Südwesten (Tibet, Xinjiang) und Westen (Innere Mongolei). Taiwan bleibt unabhängig. Hong Kong verselbständigt sich wieder.
Nach Einschätzung der Arbeitsgruppe erscheint mittel- bis langfristig eine Kombination aus den Szenarien 1) und 3) am wahrscheinlichsten. Das zweite Szenario erscheint nach dem bisherigen Auftritt der VR China und den Erkenntnissen aus der Feldstudienreise nicht realistisch. Auch das vierte Szenario, ein Zerfall der VR China, erscheint eher wirklichkeitsfern, wenngleich nicht völlig ausgeschlossen. Voraussetzung hierfür wäre einerseits eine dramatisch zunehmende Verschlechterung der Lebensbedingungen der dort lebenden Bevölkerung infolge Vernachlässigung durch die Zentralregierung, andererseits eine starke, charismatische Führungspersönlichkeit, der es erfolgreich gelänge, ein alternatives erstrebenswertes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell anzubieten und einen machtvollen Aufstand zu organisieren. In der Geschichte Chinas sind tief greifende Umstürze mehrfach unter maßgeblicher Beteiligung der Landbevölkerung zu Stande gekommen (Ming-Dynastie und die VR China selbst). Gleichzeitig müsste das politische und militärische System der VR China geschwächt und nur bedingt reaktionsfähig (geworden) sein. Darauf deutet jedoch nichts hin.
Für die nähere Zukunft bis etwa 2020 nehmen wir an, dass die VR China ihre Wirtschaftsmacht und ihre Position als größter Staat in der gesamten südost- und ostasiatischen Region nutzen wird, um Dominanz auszubauen und ihre Ansprüche zu untermauern. Gleichzeitig wird sie durch bilaterale Verträge und Mitarbeit in Regionalorganisationen geduldig, aber hart in der Sache, auf die Veränderung der bestehenden Ordnung zu ihren Gunsten hinarbeiten. Um ihre maritimen Territorialansprüche aggressiv durchzusetzen, besitzt die VR China zurzeit noch keine ausreichenden Fähigkeiten. Sie arbeitet indes aktiv an einer Transformation der Volksbefreiungsarmee und dem Ausbau der Marine.
Ein Angriffskrieg auf Nachbarstaaten zu Lande erscheint wenig wahrscheinlich. Insoweit wird sie eher Instrumente wie die „Strategie der Neuen Seidenstraße“ einsetzen, um Abhängigkeiten zu erzeugen. Militärische Auseinandersetzungen zur See in dem von ihr beanspruchten Gebiet wird sie stets als Landesverteidigung und nicht als Angriffshandlung verstehen. Einen militärischen Angriff auf Taiwan halten wir für nicht wahrscheinlich. Insoweit wird die VR China wie bisher eher auf „soft power“, Zeit und – möglicherweise von ihr beeinflusste – günstige Regierungswechsel in Taiwan setzen.
Bis zum Jahr 2049, in dem sich die Gründung der Volksrepublik zum hundertsten Mal jährt, wird China alles daran setzen, ein im Inneren und im Äußeren stabiler, einflussreicher und machtvoller Staat zu werden und die Vorherrschaft in Ostasien zu besitzen, gegebenenfalls auch um den Preis einiger demokratischer Zugeständnisse, zum Beispiel auf lokaler und regionaler Ebene. Die Zugeständnisse werden indes nicht die Privilegien der Parteieliten infrage stellen.
Dachzeile:
Modul 6
Headline:
Grenzen Vernetzter Sicherheit
Vorspann:
Das Modul 6, „Engagement in Krisen“, analysierte Rahmenbedingungen, Instrumente und Ziele des deutschen Engagements in fragilen Staaten und gewaltgeprägten Kontexten. Möglichkeiten und Grenzen externer Bemühungen veranschaulichte eine Feldstudie in Israel und den Palästinensischen Autonomiegebieten.
Autoren:
Markus Bensmann, Matthäus Friederich, Helmut Landes, Detlef Scheuer, Manfred Taschler und Anne-Katrin Wahl
Copytext (12.400 Zeichen):
Das Ende des Kalten Krieges führte zu einer Änderung der bis zu diesem Zeitpunkt primär praktizierten Abschreckungspolitik durch zwei klar definierte Machtblöcke. Seit dieser Zäsur ist eine Veränderung von Konflikten zu verzeichnen: Über 90 Prozent der aktuellen Konflikte finden in Entwicklungsländern statt. Circa 1,5 Milliarden Menschen sind heute unmittelbar von Gewalt, Konflikt beziehungsweise Fragilität betroffen (Vortrag an der BAKS von Stella Seibert-Palascino, BMZ, am 6. Mai 2014). 2012 existierten 47 fragile Staaten (Vortrag an der BAKS von Prof. Dr. Tobias Debiel, INEF, am 9. Mai 2014). Mit dem Übergang von einer bipolaren zu einer multipolaren Weltordnung hat sich auch ein globaler Wandel von zwischenstaatlichen zu innerstaatlichen Konflikten vollzogen. Dies wurde besonders deutlich in Afrika (zum Beispiel 1994 in Ruanda), aber vor allem Ende der 1990er Jahre auf dem Balkan.
Hinzugekommen ist das Phänomen des international vernetzten Terrorismus. Durch die Abnahme von klassischen Staatenkriegen ist zwischen Krieg und Frieden nicht mehr deutlich zu unterscheiden. Zudem kann nicht mehr von einer Gleichartigkeit der Konfliktparteien ausgegangen werden, sondern von Asymmetrie in Bezug auf die Akteure (staatlich versus nichtstaatlich beziehungsweise nichtstaatlich versus nichtstaatlich), Zweck und Ziele sowie Raum, Zeit und Methoden. Tendenziell ist im Rahmen von innerstaatlichen Konflikten ein Wandel vom Bürger-krieg zu bewaffneter Gewalt („armed violence“) zu verzeichnen. Dabei sind die Grenzen nicht eindeutig zu identifizieren beziehungsweise Überlagerungen möglich. Damit stehen die staatlichen Sicherheitsinstitutionen vor neuen Herausforderungen.
Durch diese „neuen Bedrohungen“ reichen die traditionellen Instrumente und Mechanismen zur Konfliktlösung nicht mehr aus. Damit stoßen sowohl das Völkerrecht als auch die Vereinten Nationen, die ursprünglich zur friedlichen Streitvermeidung/-beilegung in zwischenstaatlichen Konflikten konzipiert wurden, an Grenzen. Die Rechtfertigung von Kriegen beziehungsweise militärischen Interventionen zur Wahrnehmung einer Schutzverantwortung fällt auf Basis der derzeitigen völkerrechtlichen Grundlagen schwer. Gleichwohl gibt es Ansätze, einen derart indizierten Krieg anhand von Kriterien wie Legalität, Legitimität und Effizienz zu rechtfertigen.
Zusätzlich bestimmend für die aktuelle Situation ist die zunehmende wirtschaftliche und technologische Globalisierung, die zu immer stärker werdenden Interdependenzen führt. Kriege lediglich aufgrund nationaler Machtinteressen stellen eher die Ausnahme dar.
Dem wurde seitens der internationalen Staatengemeinschaft mit einer „Kultur der Prävention“ begegnet. Neben der Verantwortung, Krisen zu verhindern, geht es um ein aktives Einschreiten mit globaler Verantwortung und letztendlich auch um Krisennachsorge.
Seit Ende des Kalten Krieges konnten 58 Konflikte auf dem Verhandlungsweg beigelegt werden. Hingegen führte der Einsatz von militärischen Kräften in nur 28 Fällen zu einer Konfliktbewältigung (Vortrag an der BAKS von Dr. Véronique Dudouet, Berghof Foundation, am 8. Mai 2014). Insofern sind die klassischen Mittel der Diplomatie und des Einsatzes von Militär nicht mehr ausreichend. Es erfolgte eine Ergänzung mit neuen Instrumenten (zum Beispiel zivile Friedensdienste, erweiterte Diplomatie durch Mediation, Monitoring et cetera).
Auf der Grundlage eines vernetzten Ansatzes kommt es im Sinne des erweiterten Sicherheitsbegriffes zu einer Kombination von „hard power“ (zum Beispiel Sanktionen, Militärinterventionen) und „soft power“ (zum Beispiel Bildung, Kultur, Medien). Weiterhin wurden konzeptionelle Ansätze geschaffen; zum Beispiel „state building“, „institution building“, „capacity building“ und „nation building“. In Deutschland wurde dieser Entwicklung konkret durch die Erstellung beziehungsweise Umsetzung der Leitlinie „Fragile Staaten – ressortübergreifende Ansätze im Umgang mit Krisenprävention und Friedenssicherung“ und des Aktionsplanes „Zivile Krisenprävention“ Rechnung getragen.
2. Analyse
Die fortschreitende Globalisierung und die Charakteristik von zunehmend innerstaatlichen, asymmetrischen Konflikten stellen die aktuelle Konzeption des Konfliktmanagements vor große Herausforderungen. Gerade der Widerspruch zwischen wertegeleiteter Außenpolitik und wirtschaftlichen Interessen sowie das Bedürfnis nach Legalität und Legitimität erschweren für Nationalstaaten und internationale Organisationen ein wirkungsvolles Vorgehen vor allem gegen nichtstaatliche Konfliktparteien und Akteure des internationalen Terrorismus. Das grundsätzliche Gewaltmonopol von Nationalstaaten wird von nichtstaatlichen Akteuren zunehmend in Frage gestellt.
An Stelle von Interessenorientierung tritt zunehmend Werteorientierung in der Außen- und Sicherheitspolitik. Durch den genannten Wandel von Konflikten stellt sich auch vermehrt die Frage nach humanitären Interventionen (Prinzip der Schutzverantwortung). Dem steht allerdings das Prinzip der Nichteinmischung in innerstaatliche Angelegenheiten entgegen.
Sowohl die Veränderungen der bisherigen Weltordnung, als auch die Vielzahl neu auftretender sicherheitspolitischer Akteure machen den Ausbruch von Konflikten wahrscheinlicher, wenn auch in lokal begrenzterem Rahmen. Die zunehmende Dynamik gestaltet die Früherkennung von Konflikten („early warning“) schwieriger. In diesem Lichte kommt der Prävention in Zukunft eine noch größere Bedeutung zu, da nur über dieses Instrument ein frühzeitiges Engagement („early action“) zur Verhinderung oder Eindämmung von Konflikten schon in deren Entstehungsphase ermöglicht wird. Darüber hinaus führt ein verzögertes, zu spätes Intervenieren erfahrungsgemäß zu hohen Kosten. Dies bietet zusätzliche Reibungsflächen im politischen Diskurs.
Der unzureichende Rahmen des Völkerrechts erschwert jedoch wirkungsvolle Maßnahmen bereits vor Ausbruch eines Konfliktes. Derzeit ist das Völkerrecht noch als Staatenrecht zu bezeichnen. Zudem nutzen einige staatliche Akteure die Unzulänglichkeiten des Völkerrechtes zur Durchsetzung eigener Interessen (unter anderem Ablehnung militärischer humanitärer Interventionen).
Die Institutionen der Vereinten Nationen gehen unmittelbar auf die Nachkriegsordnung des Zweiten Weltkrieges zurück. Insbesondere der Sicherheitsrat spiegelt die Gegebenheiten von 1945 wider. Der aktuelle Umgang mit Krisen zeigt die Schwerfälligkeit beziehungsweise Unzulänglichkeit auf institutioneller Ebene. Zudem sind die Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zuweilen in einem Konflikt parteiisch oder verfolgen nationale Interessen (zum Beispiel Vermeidung von Präzedenzfällen). Daher wirken sie nicht immer unmittelbar auf eine Konfliktlösung hin. In der jetzigen Verfasstheit führt dies fallweise zu einer Handlungsunfähigkeit, vor allem des Sicherheitsrates.
Bisher sind die konzeptionellen Ansätze des „state building“, „institution building“, „capacity building“ und „nation building“ hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Dies wird in Ländern wie Afghanistan, Irak, Somalia und anderen deutlich. Zum Teil ist dies darin begründet, dass die angestrebten Ziele zu ambitioniert formuliert wurden. Die bisherigen bescheidenen Erfolge beim „nation building“ gehen aber auch auf mangelnde Nachhaltigkeit und eine unzureichende Vernetzung ziviler und militärischer Maßnahmen zurück. Erfolgreiche Staatenbildung konnte eher dort erreicht werden, wo die Machtfrage eindeutig zu Gunsten eines Akteurs geklärt wurde (zum Beispiel Kosovo, Liberia). Eine selbsttragende Konflikttransformation hat bisher zu besseren Ergebnissen geführt.
Die Lösung von Konflikten „von innen heraus“ ist grundsätzlich nachhaltiger als eine Lösung von außen. Zudem ist eine Abhängigkeit von der Größe einer Konfliktregion zu erkennen. Je kleiner das betroffene Land ist, desto größer sind die Chancen für ein erfolgreiches Konfliktmanagement. Ein externes und umfassendes Engagement kann dabei besser stabilisieren. Somit stellt sich die grundsätzliche Frage, ob eine bestimmte Größe eines Krisengebietes (Bevölkerung, Staatsgebiet, Topografie) beziehungsweise die Zusammensetzung der Bevölkerung ein erfolgreiches Krisenmanagement nicht per se unmöglich macht.
3. Handlungsempfehlungen
Auch vor dem Hintergrund der Beiträge der Vertreter der Bundesregierung sowie des Bundespräsidenten anlässlich der 50. Münchner Sicherheitskonferenz 2014, die ein früheres, entschiedeneres und substantielleres Engagement Deutschlands in Krisen forderten, gilt grundsätzlich: Engagement in Krisen ist nur ein Teilaspekt staatlichen Handelns, der zwangsläufig in ein Gesamtkonzept beziehungsweise eine Gesamtstrategie der nationalen Außen- und Sicherheitspolitik einzubetten ist. Die folgenden Maßnahmen zum Engagement in Krisen sollen hierzu einen Beitrag leisten.
3.1 National
Die Fähigkeit zur Früherkennung von Krisen ist zu stärken. Dies könnte über ein Zusammenführen vorhandener Systeme und Instrumentarien über Ressortgrenzen hinweg verwirklicht werden. Organisatorisch könnte dies durch ein gesamtstaatliches Lagezentrum mit Analysefähigkeit geschehen. Dabei kommt einer fortlaufenden, ressortgemeinsamen Risikobewertung eine hohe Bedeutung zu. Eine enge Verschränkung mit derartigen Systemen sowohl von anderen Partnerstaaten als auch der Europäischen Union (zum Beispiel EU Intelligence Analysis Centre/INTCEN) ist geboten. Zudem könnte der Ansatz über eine Verstärkung der Präsenz vor Ort (zum Beispiel Botschaften) beziehungsweise eine verbesserte Zusammenarbeit der verschiedenen Ministerien und Institutionen verfolgt werden. Insbesondere sollten die Kontakte zu lokalen Zivilgesellschaften auf allen Ebenen intensiviert werden, einschließlich der vor Ort agierenden Nichtregierungsorganisationen.
Eine substantielle Überprüfung der Entwicklungszusammenarbeit und Stärkung der Vernetzung mit anderen politischen und wirtschaftlichen Akteuren wird empfohlen. Eine engere Abstimmung zwischen bestehenden Krisenstäben sollte zu schnelleren Entscheidungsprozessen führen.
3.2 International
Zur Früherkennung beziehungsweise Bewältigung von Krisen könnte – gerade im Rahmen der EU – ein aufgabenteiliges Vorgehen beitragen. So könnten vorhandene Expertise und spezifische Erfahrungen (zum Beispiel Frankreichs in Nord-/Westafrika; baltische Staaten oder Polen für Russland; Österreich auf dem Balkan) besser genutzt werden. Exemplarisch ist das koordinierte Vorgehen der EU im Zuge der Krise in der Ukraine durch das Weimarer Dreieck (Deutschland, Frankreich, Polen) gemeinsam mit der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik zu nennen. Dies würde zugleich zu einer Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU führen.
Auf der Ebene der internationalen Staatengemeinschaft ist zwischen strukturellen und völkerrechtlichen Maßnahmen zu unterscheiden. Da der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nach den Gegebenheiten von 1945 konzipiert wurde, wird er den heutigen Herausforderungen immer weniger gerecht. Einerseits ist die Zusammensetzung den heutigen Gegebenheiten anzupassen und andererseits sind die Entscheidungsmechanismen (zum Beispiel Veto-Recht) zumindest zu hinterfragen. Aber auch andere VN-Instrumentarien müssen sowohl qualitativ als auch quantitativ weiterentwickelt werden. Zum Beispiel ist das Department for Peacekeeping Operations (DPKO) nicht mehr den gegenwärtigen Anforderungen entsprechend aufgestellt. Die bisherigen Maßnahmen, die zu einer besseren Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen führen sollten (zum Beispiel SHIRBRIG), müssen im Sinne einer besseren Krisenprävention weiterentwickelt werden.
Aufgrund der unzureichenden Ausgestaltung des derzeitigen Völkerrechts ist eine Anpassung dringend geboten. Zur Gewährleistung der rechtmäßigen Ausübung ist „responsibility to protect“ (zum Beispiel durch militärische Interventionen aus humanitären Gründen) als erforderliche Schutzverpflichtung zu kodifizieren und damit in den Bestand des Völkerrechtes aufzunehmen.
4. Fazit
Zusammenfassend ist festzustellen, dass basierend auf einer effektiven Früherkennung und valider Analyse der Krisensituation ein frühzeitiges, entschiedenes und substantielles Engagement der Schlüssel zu einem erfolgreichen und nachhaltigen Krisenmanagement ist. Letztendlich ist dies auch unter dem Gesichtspunkt der Kostenintensität vorzuziehen.