Arbeitspapiere

Gipfeltreffen: Die NATO zwischen Wales und Warschau

5/2014
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Die Fokussierung des jüngsten Gipfeltreffens des westlichen Bündnisses auf die Russland-Ukraine-Krise markiert den Beginn einer erneuten Wandlung der NATO. Aber darüber hinaus wird sich Warschau 2016 mit offen gebliebenen Fragen auseinandersetzen müssen.

Ob das Treffen der NATO Staats-und Regierungschefs im walisischen Cardiff wirklich –wie häufig gesagt –„einer der wichtigsten NATO-Gipfel in der Geschichte der Allianz“ gewesen ist, muss sich erst noch zeigen. In jedem Fall war es ein bedeutendes Ereignis, vor allem seit sich Russland als anti-westliche Macht geriert, getroffene Vereinbarungen bricht und Grenzen in Europa gewaltsam verändert. Dadurch ist das Bündnis gezwungen, sich zusätzlich zu dem breiten Spektrum anstehender Herausforderungen (Abzug aus Afghanistan, Finanzkrise, islamistische Bedrohungen) wieder verstärkt den „klassischen“ Elementen der Abschreckung und Rückversicherung zu widmen.

Dass die Russland-Ukraine-Krise das dominierende Thema war, zeigte sich auch darin, dass etwa 70 Prozent der Gipfeldauer auf die Diskussion über diese Krise und die Gegenmaßnahmen der NATO verwandt wurden. Etwa 20 Prozent fielen auf die Debatte über die Verteidigungshaushalte und die (abgeschwächte) Selbstverpflichtung der Bündnisstaaten, künftig zwei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung aufzuwenden. In den restlichen rund 10 Prozent der Gipfelzeit wurden alle übrigen Themen, von der Bedrohung durch den „Islamischen Staat“ (IS), über die Erweiterungsfrage bis hin zum Abzug aus Afghanistan, abgehandelt. Ähnliches Gewicht dürften die Themen auch in der Vorbereitung des Gipfels eingenommen haben.

Nachdem nun die mit NATO-Gipfeln verbundene mediale Aufmerksamkeit abgeklungen ist und andere Probleme wie das Vorrücken islamistischer Kämpfer in Syrien und im Irak die Schlagzeilen beherrschen, lässt sich eine abgewogenere Bewertung der Beschlüsse von Wales vollziehen. Eine Einordnung mit zeitlichem Abstand empfiehlt sich auch deshalb, weil sich Wales von den meisten anderen Spitzentreffen des Bündnisses unterscheidet: Der Gipfel bildet weniger den Abschluss eines Prozesses, einer neuen Strategie oder einer Diskussionsphase innerhalb der Allianz, sondern markiert eher einen Beginn. Während nach einem Treffen der Staats-und Regierungschefs auf der Arbeitsebene der Bündnisgremien und der Mitgliedsstaaten in der Regel wieder eine gewisse Beruhigung eintritt, geht derzeit die Sacharbeit mit nahezu unverändertem Tempo weiter. Man bereitet mit Hochdruck den nächsten NATO-Gipfel vor, der 2016 in Warschau stattfinden wird. Sieben Punkte sind für die weitere Entwicklung der euroatlantischen Sicherheitsdebatte in der Folge von Wales 2014 besonders bedeutsam.

1. Transatlantischer Konsens

Gemessen an der Brisanz der Situation in der Ukraine und den verständlichen Sorgen der NATO-Mitglieder in Osteuropa verlief der Gipfel – auch im Vergleich zu anderen Spitzentreffen des Bündnisses – erstaunlich konsensual. Das zeigte sich bereits an den Entwürfen der Gipfelerklärung, die weit weniger substanzielle „Klammern“ – also umstrittene Formulierungen, die unmittelbar vor oder auf dem Gipfel von der Spitzenebene geklärt werden müssen – als die Kommuniqué-Vorschläge anderer NATO-Treffen enthielten.

Die entscheidende Annäherung der Positionen kam erst in den letzten Wochen vor dem Gipfeltermin zustande, wobei gerade der Abschuss des malaysischen Verkehrsflugs MH17 zur Ernüchterung in vielen NATO-Staaten beigetragen hat. So ist etwa Frankreich nicht zuletzt auf vielfältigen Druck über seinen Schatten gesprungen und hat die geplante Lieferung eines Hubschrauberträgers der „Mistral“-Klasse an Russland zumindest verschoben. Gleichzeitig bestand Konsens gerade über den deutschen Wunsch, den Gesprächsfaden zu Moskau nicht abreißen zu lassen. Dass in einigen Medien während des Gipfels dennoch von der vermeintlich zerstrittenen NATO die Rede war, gehört zu den Merkwürdigkeiten, die solche Großereignisse kennzeichnen.

Zum Bild gehört aber auch, dass einige NATO-Staaten das Russland-Ukraine-Problem aufgrund geografischer oder historischer Realitäten als weniger bedrohlich empfinden und die wirklichen Gefahren eher südlich des Mittelmeers sehen. Einige Gipfelteilnehmer konzentrierten die Gespräche während der Konferenzpausen ausschließlich auf Russland, während andere Staats- und Regierungschefs ebenso ausschließlich über das ISIS-Problem in Syrien und Irak debattierten. Ein Austausch zwischen den beiden Gruppen fand kaum statt. Diese grundverschiedenen Perspektiven haben Auswirkungen auf die Bewertung der Gipfelergebnisse. Länder wie Polen oder die Baltischen Staaten wer den die militärischen Maßnahmen der NATO gegen eine mögliche russische Bedrohung immer als grundsätzlich verbesserungswürdig ansehen, während für andere die obere Grenze des Machbaren und Bezahlbaren bereits erreicht ist. Die Bereitschaft, zusätzliche Mittel für Verteidigung bereit zu stellen, wird mit wachsendem Abstand zur russischen Grenze tendenziell geringer.

2. Renaissance des Artikel 5

Gerade nach Ansicht vieler osteuropäischer NATO-Mitglieder hat sich das Bündnis mit Blick auf die Bedeutung des Artikels 5 des Washingtoner Vertrages lange widersprüchlich verhalten. Einerseits wurde die in diesem Artikel festgehaltene Solidaritätsverpflichtung im Verteidigungsfall stets an die Spitze der NATO-Aufgaben gestellt und als raison d‘être der Allianz bezeichnet. Nicht umsonst wurde im Strategischen Konzept von 2010 die kollektive Verteidigung als die erste von drei Kernfunktionen, neben Krisenmanagement und kooperativer Sicherheit durch Partnerschaften, genannt. De facto hatte sich die NATO allerdings in der Vergangenheit eher mit Krisenmanagement jenseits des Bündnisgebietes befasst (Afghanistan, Balkan, Nordafrika) und gerade die militärischen Planungen zur Bündnisverteidigung vernachlässigt.

Auch planerisch waren Artikel-5-Operationen ins Hintertreffen geraten. Die Allianz hatte nahezu alle ihre Verteidigungspläne (Contingency Plans) bis auf vier eher allgemein gehaltene Planungen für bestimmte Regionen ad acta gelegt. Dem lagen auch politische Motive zugrunde, sollte doch Russland signalisiert werden, dass man gegenüber einem „strategischen Partner“ keine Verteidigung beabsichtige.

2005 haben einige Mitglieder sogar vorgeschlagen, alle Artikel-5-Planungen zu beenden, wogegen sich aber die Ostereuropäer verwahrten. Nach der Aufnahme Estland, Lettlands und Litauens in die NATO 2004 wiesen diese darauf hin, dass ihre Region in die Contingency Plans gar nicht einbezogen sei. Die NATO rang sich aber erst Jahre später im Zusammenhang mit dem Georgienkrieg 2008 dazu durch, einen der vier bestehenden Regionalpläne um das Baltikum zu erweitern. Hinter vorgehaltener Hand wurde vielen osteuropäischen Regierungen eine gewisse Paranoia gegenüber Moskau unterstellt. Nach den Aktionen Russlands in der Ukraine fühlten sich gerade Polen und die baltischen Staaten in ihren Befürchtungen bestätigt und drängten auf Maßnahmen zur Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit. Die unter dem Stichwort „Readiness Action Plan“ getroffenen Gipfelbeschlüsse zur schnellen militärischen Reaktion in Europa bringen nun die Bündnisrealitäten wieder näher an die deklaratorische Politik. Dem Artikel 5 wird auch in seiner militärischen Umsetzung eine größere Bedeutung beigemessen.

3. Readiness Action Plan

Mit den Entscheidungen zum Readiness Action Plan (RAP) dem Aufbau einer Schnellen Eingreiftruppe, die Verstärkung der militärischen Aktivitäten auf See und in der Luft, die vorgeschobene Einlagerung von militärischem Gerät, die Aufwertung von Hauptquartieren, die Erhöhung der Übungstätigkeit ist die NATO zu klassischen Instrumenten der Abschreckung gegenüber Russland zurückgekehrt. Verbesserte militärische Fähigkeiten sind nicht nur ein Signal der Rückversicherung gegenüber den osteuropäischen Verbündeten. Sie verändern auch das Kosten-Nutzen Kalkül eines potentiellen Angreifers und wirken damit konfliktverhindernd. Allerdings handelt es sich bei den Maßnahmen zur Verbesserung der Reaktionsfähigkeit im Fall von Angriffen gegen das Bündnisgebiet um Rahmenbeschlüsse, die nun konkretisiert werden müssen. Details über Gesamtumfänge und Einzelbeiträge werden in diesen Wochen ausgehandelt. Damit steht der gesamte Readiness Action Plan unter Vorbehalt dessen, was die Bündnismitglieder künftig leisten können und wollen.

Allerdings sind die Beschlüsse von Wales damit keinesfalls völlig beliebig, sondern folgen einer bündnisweit geteilten Lagebeurteilung. Die NATO hatte sich relativ früh darauf verständigt, dass es in Reaktion auf das Handeln Russlands militärische Stationierungen in Osteuropa in der einen oder anderen Form wird geben müssen, weswegen koalitionsinterne Kritik in Deutschland an Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, die diesen Punkt publik machte, völlig unbegründet war. Entscheidend war, dass die Verlagerung von Truppen nach Osteuropa nicht mehr als politische Frage betrachtet wurde, ob sie eskalierend wirken würde oder nicht, sondern vor allem als eine finanzielle. Eine dauerhafte oder rotierende Stationierung von Streitkräften ist sehr kostspielig.Gleiches gilt für die Schnelle Eingreiftruppe, die „Very High Readiness Joint Task Force“ (VJTF), die deutlich flexibler sein soll als die bestehende „NATO Response Force“ (NRF).

Der NATO-Oberbefehlshaber, General Philip M. Breedlove, hatte frühzeitig erklärt, dass die Allianz an ihren Ostgrenzen eine militärische Reaktionsfähigkeit von zwei Tagen benötige, um mit dem von Russland in der Ukraine-Krise gezeigten raschen Truppenaufmarsch fertig werden zu können. Die NRF hat bis-lang eine Reaktionszeit, „notice to move“ genannt, von 30 Tagen. Der erforderliche schnelle Aufwuchs und vor allem die nötige militärische Effizienz der VJTF legen nahe, dass sie nicht von vielen und nicht von den „kleineren“ Bündnismitgliedern bestückt werden sollte. Stattdessen werden sich zwei oder drei große NATO-Staaten die Aufgabe teilen müssen, was für diese Länder mit erheblichen Kosten verbunden sein wird. Mittlerweile wird aus dem Pentagon angezweifelt, ob eine so kurze Reaktionszeit überhaupt erreicht werden kann.

Neben vermehrten Patrouillenflügen, verstärkten Marineaktivitäten und erhöhten Manöverzahlen ist aus Sicht der Osteuropäer gerade die Einlagerung von militärischem Gerät von großer Bedeutung. Ein solches „Prepositioning“ verkürzt nicht nur die militärische Reaktionszeit des Bündnisses, sondern es ist auch politisch bedeutsam. Manöver oder Schiffsaktivitäten können wieder reduziert werden, wenn aus Moskau Zeichen der Entspannung kommen sollten. Da die NATO angekündigt hat, ihre Reaktionen dem Handeln Russlands anzupassen, befürchtet man in Osteuropa, dass einige der westlichen NATO-Verbündeten allzu bereitwillig auf vermeintlich positive Signale des Putin-Regimes reagieren und ihr militärisches Engagement wieder vermindern würden. Einmal eingelagertes Material hingegen könnte nicht so rasch der jeweiligen politischen Stimmungslage entsprechend reduziert werden. Das Abschreckungssignal wäre von längerer Dauer.

Ein wichtiges deklaratorisches und vergleichsweise kostengünstiges Mittel der Abschreckung und Rückversicherung ist die Erarbeitung neuer Verteidigungspläne für Artikel-5-Szenarien. Dabei geht es nicht allein um konventionelle militärische Angriffe gegen das Bündnisgebiet, sondern auch um die so genannten „hybrid warfare“, Aggression aus örtlichen Aufruhrsituationen heraus, wobei der Aufruhr selbst vom Angreifer angefacht wurde. Solche Aktionen verdeckter Kämpfer, Agenten oder Soldaten ohne Hoheitsabzeichen (wie die „kleinen grünen Männchen“ auf der Krim) sind kein neues Phänomen. Die NATO verfügte während des Kalten Krieges über ein breites Spektrum von „Contingency Plans“ für mögliche unkonventionelle Aktionen des Warschauer Paktes. Gerade im Rahmen der „BERCON“-Planungen (Berlin Contingencies) gab es Optionen gegen ein hybrides Vorgehen des Gegners oder für den Fall von Geiselnahmen ganzer Städte durch den Warschauer Pakt an der innerdeutschen Grenze. Diese lassen sich sicher nicht deckungsgleich auf heute übertragen, zeigen aber: Man kann auf Überlegungen zu unkonventionellen Bedrohungen zurückgreifen. Neue Verteidigungspläne sollen nun bis Ende 2014 erarbeitet sein. Die wichtigsten Elemente des RAP sollen bis zum Treffen der Verteidigungsminister des Bündnisses im Februar 2015 vorliegen.

4. Die Zwei-Prozent-Verpflichtung

Angesichts der neuen Herausforderungen durch Russland oder den islamistischen Terror sowie der fortbestehenden Aufgaben der NATO in Afghanistan oder auf dem Balkan konnten sich die Staats-und Regierungschef der Finanzfrage nicht verschließen. Gerade Washington hatte vehement darauf verwiesen, dass die Schere zwischen den sicherheitspolitischen Anforderungen einerseits und den Mitteln, die die Mehrheit der europäischen Verbündeten bereitstellen, andererseits sich immer stärker weitet. Nach heftigen Debatten einigte sich die Allianz auf eine eher weich formulierte Selbstverpflichtung, die Verteidigungshaushalte der Mitgliedsstaaten schrittweise auf zwei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes anheben zu wollen. Skeptiker verweisen darauf, dass dieses Versprechen schon häufig gemacht und ebenso häufig gebrochen wurde, auch von Deutschland. Gleichfalls machen die dramatische Überschuldung einiger europäischer NATO-Mitglieder oder der Wunsch anderer, keine neuen Schulden aufzunehmen, die Sache nicht leichter.

Allerdings übt eine solche Selbstverpflichtung in einem Gipfeldokument einen gewissen politischen Druck aus, der über dem liegt, was von „normalen“ NATO-Dokumenten ausgeht. Hinzu kommt, dass Russlands Präsident Wladimir Putin mit Formulierungen, er könne das Baltikum innerhalb weniger Tage einnehmen, die Notwendigkeit von militärischer Leistungsfähigkeit ebenso hervorhebt, wie die Videos wahllos mordender Islamisten in Irak oder Syrien. Auch die gesteigerten Luftraumverletzungen durch russische Kampfflugzeuge sind Wasser auf die Mühlen derer, die mehr Mittel für die Abwehrfähigkeit der NATO fordern. Polen und die baltischen Staaten schließlich gehen mit gutem Beispiel voran und stellen mehr Finanzmittel zur Verfügung – was umgekehrt die zu geringen Verteidigungsausgaben Ungarns oder der Slowakei noch blamabler erscheinen lässt. Selbst wenn kurzfristige Budgetsprünge nicht überall zu erwarten sind, dürften sich die Verteidigungsausgaben der Bündnispartner langfristig insgesamt erhöhen.

5. Das Verhältnis zur MENA-Krisenregion

Die Herausforderung durch den „Islamischen Staat“ wurde in Wales diskutiert, ist aber derzeit noch keine direkte Bündnisangelegenheit – außer wenn durch einen Angriff von IS-Kämpfern auf die Türkei der Artikel 5 des Washingtoner Vertrages betroffen wäre. US-Präsident Barack Obama hat deshalb seine Anti-IS-Koalition zwar mit NATO-Mitgliedern, aber außerhalb der Allianzstrukturen geschmiedet. Folgerichtig bestätigte der Gipfel, dass der NATO vor allem eine Rolle bei der Koordination nationaler Unterstützungsmaßnahmen zukomme.

Indirekt ist die NATO aber seit langem über ihr Kooperationsprogramme „Mediterranean Dialogue“ (MD) und „Istanbul Cooperation Initiative“ (ICI) ein Akteur in der Region geworden. Darüber hinaus hat die NATO 2011 mit dem Eingreifen in Libyen militärisches Krisenmanagement mit Mandat der Vereinten Nationen betrieben. Jedoch deuten die dramatischen Umbrüche in der Region Mittlerer/Naher Osten und Nordafrika (MENA) darauf hin, dass sich auch die Rolle der NATO verändern und die Allianz erheblich an Einfluss in der Region verlieren dürfte. Offenbar durchläuft die Region nicht bloß eine Krise, der früher oder später eine neue Ordnung folgen würde. Stattdessen sieht man die mörderische Konkurrenz religiöser Gruppen, die Erosion von Staatlichkeit und die Auflösung von zum Teil noch kolonialen Grenzen. Zerfallen aber Staaten, so gibt es keine Ansprechpartner für Partnerschaften mehr. Auch wird schwerer zu bestimmen, für wen oder gegen wen militärisch interveniert werden sollte.

Schließlich dürfte Russland künftig noch weniger bereit sein, im VN-Sicherheitsrat für eine NATO-Intervention zu stimmen, ein militärisches Eingreifen des Bündnisses wird damit immer unwahrscheinlicher. Offensichtlich werden zwei der wesentlichen Werkzeuge der NATO, Partnerschaft und militärisches Krisenmanagement, in der MENA-Region zunehmend stumpf.

6. Partnerschaften

Die NATO hat sich zwar erneut mit der Organisation ihrer vielfältigen und weltweiten Partnerschaften befasst, konnte sich aber zu einer wirklichen Neustrukturierung und zu einer Beantwortung der drängenden Fragen nicht durchringen. Die Probleme mit durchaus erfolgreichen, aber immer weniger schlüssigen Partnerschaftsmodellen werden offensichtlich.

  • Das „klassische“ Forum „Partnerschaft für den Frieden“ (PfP) kann kaum noch ernst genommen werden, wenn derzeit zwei große Gründungsmitglieder – Ukraine und Russland – Krieg gegeneinander führen.
  • Man hat auf dem Gipfel eine „Plattform zur Interoperabilität“, ein Gesprächsforum für die Partnerstaaten, welche die NATO in Afghanistan unterstützt haben, geschaffen. Damit scheint sicher gestellt, dass man mit diesen Ländern auch nach dem Ende des gemeinsamen Kampfeinsatzes weiter zusammenarbeiten kann. Allerdings umfasst dieses Forum sehr unterschiedliche Mitglieder (etwa Australien, Mongolei, Schweden oder Marokko) mit unterschiedlicher Fähigkeit und Bereitschaft zur Kooperation. Das verbindende Element ist nicht zu erkennen.
  • Man hat sich mit einer Untergruppe von vermeintlich besonders fortgeschrittenen Partnerstaaten gesondert getroffen, wobei die Zusammensetzung (Australien, Schweden, Finnland, Georgien, Jordanien) nicht wirklich schlüssig ist. Ähnliche Merkwürdigkeiten gab es schon beim vergangenen NATO-Gipfel in Chicago, auf dem sich eine Gruppe von 13 Partnerstaaten gesondert zum Dinner traf, ohne dass klar wurde, wozu ein Treffen gerade mit dieser Staatenkombination führen sollte. Der damalige österreichische Botschafter bei der NATO fragte deshalb auch, ob diese Zusammenkunft als ein „one night stand“ anzusehen sei.
  • In ein anderes Sondertreffen zum Aufbau militärischer Fähigkeiten wurde die Republik Moldau einbezogen. Dafür mag es angesichts der aktuellen Politik Russlands Gründe geben; eine tragende Säule des NATO-Partnerschaftskonzeptes ist Moldau sicher nicht.

Die Entwicklungen in der MENA-Region stellen die Rolle der beiden Partnerschaftsforen „Mediterranean Dialogue“ und „Istanbul Cooperation Initiative“ infrage.

Nach wie vor umgeht die Atlantische Allianz die Frage, wie sie aus der Vielzahl der über zwei Jahrzehnte gewachsenen Partnerschaften, Kooperationen und Gruppierungen von der NATO vermeintlich nahe stehender Staaten ein den heutigen Anforderungen genügendes Konzept schmieden kann. Partnerländer sind nicht alle gleich und können auch nicht gleich behandelt werden. Gerade angesichts eines sich als „anti-westlich“ definierenden Russlands, des Aufstiegs Chinas im asiatisch-pazifischen Raum und einer sich möglicherweise abzeichnenden „Kernschmelze“ in der arabischen Welt muss sich die NATO als westliche Wertegemeinschaft besonders den Partnern widmen, die diese Werte teilen und zu gemeinsamen Handeln beitragen können. Diese demokratischen, „westlichen“ Leistungsträger unter den Partnern (Australien, Schweden, Finnland, Japan, Neuseeland etc.) müssen stärker in die Entscheidungsfindung der NATO einbezogen werden. Entsprechende Signale dieser Länder gibt es seit langem –so haben Australien und Finnland auf dem Gipfel gebeten, in die Entwicklung neuer „Contingency Plans“ einbezogen zu werden. Ein Forum für den kontinuierlichen und vor allem privilegierten Dialog mit diesen Ländern existiert immer noch nicht.

7. Der Ausblick auf den Folgegipfel

Entscheidend für die Zukunft des Bündnisses wird sein, die in Wales getroffenen Beschlüsse zur Verbesserung der militärischen Leistungsfähigkeit der NATO auch umzusetzen. Bereits jetzt zeigt sich ein erstes Zögern von Mitgliedsstaaten etwa mit Blick auf die finanziellen Versprechungen oder auf die gesetzten Zieldaten für einzelne Projekte. Nicht zuletzt deshalb hat Polen angeboten, 2016 das nächste Gipfeltreffen auszurichten. Warschau möchte die aktuelle Dynamik nutzen und selbst aktiv dazu beitragen, dass das Bündnis von seinen Vorhaben nicht wieder abrückt.

Der kommende NATO-Gipfel in der polnischen Hauptstadt wird aber nicht nur die Umsetzung der Entscheidungen von Wales bewerten müssen. Er wird sich auch den Fragen stellen müssen, die 2014 zu kurz gekommen sind. Das bereits genannte Partnerschaftskonzept ist nur eines von mehreren offenen Problemen.

Polen wird mit Sicherheit größeren Wert auf die Frage der NATO-Erweiterung legen. Bis Ende 2015 will die Allianz über eine mögliche Aufnahme Montenegros entscheiden und es ist nur schwer vorstellbar, dass dieser Beschluss negativ ausfällt. Die Ukraine dürfte bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass die NATO in Sofia 2008 das feste Versprechen gegeben hat, die Ukraine und Georgien aufzunehmen. Selbst wenn mit dem Versprechen keine zeitliche Zusage verbunden war und sich die Mitgliedsfrage hinsichtlich der Ukraine akut nicht stellt, wird die Allianz mit dem Drängen Kiews umgehen müssen. Auch die Frage einer klaren Beitrittsperspektive für Georgien wird sich nicht so leicht vom Tisch wischen lassen. Immer weniger Verbündete können die deutsche Haltung nachvollziehen, Georgien die Aufnahme in den Membership Action Plan (das Vorbe-reitungsprogramm für einen NATO-Beitritt) zu verweigern.

Eine weitere Frage, die in Wales vertagt wurde, ist die der Ausrichtung der NATO-Raketenabwehr. Vor der Ukraine-Krise, als Moskau noch als „strategischer Partner“ galt, hat die NATO immer betont, dass die im Aufbau befindliche Raketenabwehr nicht gegen Russland gerichtet sei. Als Begründung für die Raketenabwehr wurde stattdessen eher vage von den Gefahren aus dem Nahen und Mittleren Osten gesprochen. Vage auch deshalb, weil die Türkei verhinderte, Iran mit seinen Raketen- und Nuklearprogrammen als die wesentliche Bedrohung aus der Region zu benennen. Demnach errichtet die NATO also einen Schutz gegen Raketenangriffe und baut auch Anlagen in Polen und Rumänien ohne explizit zu definieren, vor wem sie sich schützen muss.

Auf dem walisischen Gipfel konnten sich noch einmal die Länder durchsetzen, die Russland immer noch nicht als Bedrohung in dieser Hinsicht darstellen wollten. Da Moskau die NATO aber immer mehr als Gegner definiert und seine militärischen Fähigkeiten verstärkt, wird die Frage des „gegen wen“ auch die Raketenabwehr-Debatten in Warschau bestimmen. Ein Thema, das in Wales vollkommen ausgeblendet wurde, waren die Entwicklungen im asiatisch-pazifischen Raum und die Absicht der USA, dieser Region mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Selbst wenn das von Washington angekündigte „rebalancing“ der politischen und militärischen Aufmerksamkeit weg von Europa und hin zu Asien nicht in dem angekündigten Umfang passieren sollte – die NATO kann den asiatisch-pazifischen Raum nicht länger ignorieren.

Gerade für die europäischen NATO-Länder stellt sich die Frage, wie man mit einer Region umgeht, die zunehmend von vitaler Bedeutung ist, in der aber nur die USA die Kapazitäten haben, als sicherheitspolitischer Akteur wahrgenommen zu werden. Wie kann die NATO ihr sicherheits- und militärpolitisches Interesse für den Raum Asien-Pazifik signalisieren, ohne mit Streitkräften präsent sein zu können? Sich allein auf wirtschaftliche Aktivitäten zu beschränken, wird mit einem Amerika, das immer stärker auf eine faire Lastenteilung im Bündnis drängt, nicht mehr möglich sein.

In Wales hat die NATO einen Grad der Übereinstimmung und Handlungsfähigkeit gezeigt, der vielleicht auch russische Beobachter überrascht hat. Vor allem bestand Konsens, dass es sich bei der Russland-Krise nicht um ein durchziehendes Schlechtwettergebiet, sondern um einen fundamentalen Klimawandel handelt. Daraus folgt aber, dass Wales 2014 der Beginn einer grundlegenden Debatte über die künftigen Aufgaben der NATO ist. Diese Debatte dürfte mit dem Folgegipfel in Warschau 2016 nicht abgeschlossen sein, sondern weit darüber hinausgehen.

Dr. Karl-Heinz Kamp ist Direktor für Weiterentwicklung an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Er gibt hier seine persönliche Meinung wieder.

Working Paper topic: 
NATO
Transatlantic Relations
Defence Policy
Region: 
Europe
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Europa
NATO
Verteidigungspolitik
Transatlantische Beziehungen
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