Die Strategische Vorausschau hilft dabei, Zukunftsfragen systematisch zu durchdenken und aktuelle Entscheidungen zukunftsrobust zu gestalten. Wie wird die neue Bundesregierung damit umgehen? Sebastian Bollien vom Kompetenzzentrum Strategische Vorausschau der BAKS wirft einen genauen Blick in den Koalitionsvertrag.
Seit dem 8. Dezember 2021 steht die neue Bundesregierung aus SPD, Bündnis90/Die Grünen und der FDP. Insbesondere Grüne und Liberale freuten sich bei der Bundestagswahl 2021 über viele Stimmen von jungen Menschen, die sich angesichts globaler Herausforderungen und Krisen eine zukunftsgerichtete und nachhaltige Politik wünschen. Strategische Vorausschau (englischsprachig: strategic foresight) kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Mit Hilfe von Foresight-Methoden können schon heute Zukunftsfragen mit einem Zeithorizont, der weit über das Jahr 2030 hinaus geht, durchdacht und heutige Entscheidungen zukunftsrobuster und -fähiger gestaltet werden. Länder wie Finnland oder Singapur sind derzeit führend bei der Anwendung dieser Methoden. Internationale Organisationen, wie die NATO oder die EU, veröffentlichen regelmäßig Foresight-Studien. Wie geht die neue Bundesregierung, insbesondere im Bereich der Sicherheitspolitik, mit diesem hochaktuellen Thema um?
Foresight: Eine Fähigkeit nimmt Gestalt an
Ein Rückblick: In Deutschland war die Bundeswehr ein Vorreiter beim Ausbau staatlicher Foresight - bereits seit 2006 beschäftigt sich ein Referat für Zukunftsanalyse in den Streitkräften mit den Methoden der Strategischen Vorausschau. Mit dem Koalitionsvertrag 2013 nahm sich die damalige Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD vor, die Vorausschau in der Bundesregierung weiter zu institutionalisieren. Darin heißt es: „Wir stärken die Kompetenzen und Kapazitäten der strategischen Vorausschau in den Ministerien, um Chancen, Risiken und Gefahren mittel- und langfristiger Entwicklungen besser erkennen zu können.“
In den folgenden Jahren kamen mehr vorausschauende Akteure in den Ressorts hinzu. Dazu gehören mittlerweile das PREVIEW-Programm des Auswärtigen Amtes, Horizon-Scanning-Prozesse des Umweltbundesamtes und ein Ressortkreis Strategische Vorausschau des Bundeskanzleramtes. Netzwerktreffen und Methodenseminare zur Strategischen Vorausschau an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) sind seit fünf Jahren fester Bestandteil der deutschen Foresight-Landschaft. Derzeit wird an der BAKS ein eigenes Kompetenzzentrum Strategische Vorausschau in Dienst gestellt. In den 2017 veröffentlichten Leitlinien der Bundesregierung Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern heißt es im Punkt 4.1: „Die Bundesregierung […] wird Methoden der strategischen Vorausschau anwenden und eine enge internationale Zusammenarbeit bei Krisenfrüherkennung und Fragilitätsanalysen suchen.“
Auch im Bundestagswahlkampf 2021 spielten Foresight-Fragen durchaus eine Rolle. So warf das schnelle Vordringen der Taliban in Afghanistan die Frage auf, ob der Abzug der internationalen Streitkräfte mit besserer Vorausschau nicht anders abgelaufen wäre. Entsprechende Forderungen nach mehr Foresight in der Außen- und Sicherheitspolitik waren demnach parteiübergreifend zu vernehmen. Zugleich erinnerte die fortdauernde Coronapandemie daran, wie wichtig trotz verschiedenster Prognosemodellen eine kontinuierliche, vorausschauende Lagebeurteilung ist.
Zurück auf Anfang?
In den Wahlprogrammen der Bundestagsparteien bildete sich die Strategische Vorausschau nur zum Teil ab. Explizit gebrauchte lediglich die CDU/CSU den Begriff im Zusammenhang mit ihrer Forderung nach einem Nationalen Sicherheitsrat, der neben der außen- und sicherheitspolitischen Koordinierung die Strategische Vorausschau auf Bund- und Länderebene zusammenführen sollte. Die FDP forderte einen Nationalen Sicherheitsrat, „der es ermöglicht, bei internationalen Herausforderungen vorausschauender und schneller planen, entscheiden und handeln zu können“, während die Grünen mit „Vorausschau gemäß der VN-Agenda für nachhaltige Entwicklung“ warben. Im SPD-Programm findet sich der allgemein gehaltene Wunsch nach vorausschauendem und nachhaltigem Regieren.
SPD, Grüne und FDP präsentierten am 24. November 2021 den Koalitionsvertrag der Öffentlichkeit. Angelehnt an Willy Brandts Losung „Mehr Demokratie wagen“ will die Koalition „Mehr Fortschritt wagen“ und möchte Deutschland nachhaltiger und gerechter gestalten – mit großen Fortschritten in der Digitalisierung auch des Staates selbst. Schon in der Präambel heißt es: „Wir wollen staatliches Handeln schneller und effektiver machen und besser auf künftige Krisen vorbereiten“. Der Begriff „Strategische Vorausschau“ oder das englischsprachige Pendant „Foresight“ finden explizit keine Erwähnung. Sieben Mal taucht der Begriff „vorausschauend“ auf, bei einer entsprechenden Planung von Netzinfrastrukturen, dem digitalen Staat, Infrastruktur und Migration.
Im Bereich Freiheit und Sicherheit heißt es: „Wir sorgen für eine vorausschauende, evidenzbasierte und grundrechtsorientierte Sicherheits- und Kriminalpolitik. Dies werden wir mit einer unabhängigen interdisziplinären Bundesakademie begleiten“. Die konkrete Ausgestaltung dieses Vorhabens bleibt spannend zu beobachten, insbesondere im Hinblick auf institutionelle Foresight, die interdiziplinär und damit ressortübergreifend zu nachhaltigeren Strategien und Lösungen führen kann. Dabei ist zentral: Bei der Vorausschau im eigentlichen Sinne geht es um mehr als um Krisenprävention und –Reaktion, sondern vielmehr um die aktive Mitgestaltung der Zukunft, dem Mitdenken auch wünschenswerter Zukünfte.
Vorausschau und internationale Sicherheitspolitik
Unter Abschnitt VI des Koalitionsvertrags geht um die Außen- und Sicherheitspolitik. Dort heißt es: „Die deutsche Außenpolitik soll aus einem Guss agieren und ressortübergreifend gemeinsame Strategien erarbeiten, um die Kohärenz unseres internationalen Handelns zu erhöhen“. Hier blickt die Strategische Vorausschau zwischen den Zeilen durch, unter dem Postulat eines verbesserten Vernetzten Ansatzes. Planziele sollen definiert werden, „um verlässlich und schnell Personal sowie finanzielle Mittel für zivile Krisenprävention bereitstellen zu können.“ Die Aufgaben der Bundeswehr „müssen sich an den strategischen Herausforderungen und Sicherheitsbedrohungen unserer Zeit orientieren“.
Die Lehren aus dem Afghanistan-Abzug 2021 finden Beachtung in der Forderung, dass „jedem Einsatz der Bundeswehr eine kritisch-inhaltliche Auseinandersetzung und eine Überprüfung der Voraussetzungen vorausgehen [muss] sowie die Erarbeitung möglicher Exit-Strategien“. Erkenntnisse aus einem Evaluierungsprozess sollen praxisnah und zukunftsgerichtet aufgearbeitet werden, um so in die Gestaltung künftiger Einsätze einfließen zu können. Der Passus erinnert damit stark an die Leitlinien der Bundesregierung für zivile Krisenprävention aus 2017, in deren Kapitel 4 bereits von der Selbstverpflichtung zu einer zukünftigen ressortgemeinsamen Lernplattform die Rede ist.
Zusammenfassend spielt die Strategische Vorausschau im aktuellen Koalitionsvertrag keine explizite Rolle, wenngleich sie in mehreren Bereichen durchscheint. Die Koalition ist um Nachhaltigkeit bemüht (der Begriff „nachhaltig“ taucht über 50 Mal auf); Strategische Vorausschau wird dabei nicht näher erörtet. Der Koalition ist bewusst, dass die Welt von „Unsicherheit und Systemkonkurrenz“ geprägt ist – ein Befund, angesichts dessen gerade Foresight helfen kann, Unsicherheiten zu verringern und zukunftsrobuste Strategien zu entwickeln. Die ersten Schritte zu ihrer Institutionalisierung in vielen Bundesministerien und Behörden haben den Boden dafür bereitet. Die strategische Vorausschau sollte künftig konsequent in der Strategieformulierung und der politischen Entscheidungsfindung eingesetzt werden. Das erhöht auch die Legitimation für die anberaumten politischen Veränderungen, die sich die Ampelkoalition vorgenommen hat.
Autor: Sebastian Bollien ist Mitarbeiter des Kompetenzzentrums Strategische Vorausschau der BAKS. Er gibt seine persönliche Meinung wieder.