Arbeitspapiere

Der Zusammenbruch der Afghan National Army: Folgerungen für den Aufbau von Partnerstreitkräften

1/2022
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Der Streitkräfte Afghanistans waren über viele Jahre mit westlicher Unterstützung aufgebaut worden, brachen aber nach dem Abzug der internationalen Truppen im Sommer 2021 überraschend schnell zusammen. Obwohl Afghanistan nie Teil der 2011 begonnenen deutschen Ertüchtigungsinitiative war, wirft der Fall Fragen nach den Erfolgsaussichten in anderen Krisenregionen auf, in denen westliche Staaten derzeit regionale Sicherheitskräfte ausbilden und ausrüsten. Ein historisch informierter Blick zeigt, dass rein operative Analysen des Zusammenbruchs der afghanischen Streitkräfte ebenso wie Forderungen nach mehr Mitteln zu kurz greifen. Entscheidend für die Erfolgschancen einer Ertüchtigung von Sicherheitskräften erscheint stattdessen ein gefestigtes politisches Zentrum des betreffenden Partnerstaats.

Afghanistan war zwar nie Teil der deutschen Ertüchtigungsinitiative, doch durchgehend Adressat von Ausbildungs- und Ausrüstungsmaßnahmen - hier im Bild: eine Ausbildung afghanischer Soldaten der Logistiktruppe mit Unterstützung deutscher Mentoren in Kabul 2010. Foto: Bundeswehr/Stollberg

Ertüchtigungsinitiative am Scheideweg

Unmittelbar nachdem die internationalen Truppen im Juni und Juli 2021 aus Afghanistan abgezogen waren, brach die Afghan National Army (ANA) zusammen. Offiziell umfasste die ANA am Ende noch fast 200.000 Soldatinnen und Soldaten, denen geschätzt bestenfalls einige zehntausend Taliban-Kämpfer gegenüberstanden. Allein die USA hatten in den Aufbau der ANA seit 2005 fast 50 Milliarden US-Dollar investiert. Auch zahlreiche Verbündete, darunter Deutschland, hatten sich daran beteiligt.

Der rasche und vollständige Zusammenbruch der ANA erfordert, seine Ursachen zu analysieren und insbesondere nach Lehren für die deutsche Ertüchtigungsinitiative zu fragen, die das Weißbuch 2016 als zentrales Instrument benennt und welche auch die Leitlinien der Bundesregierung zur zivilen Krisenprävention mehrfach erwähnen (vgl. auch #angeBAKS*t Nr. 2/2021). Im Rahmen dieser 2011 vom Bundeskanzleramt ausgegangenen Initiative versuchen Auswärtiges Amt und Bundesministerium der Verteidigung, die Sicherheitskräfte ausgewählter außereuropäischer Staaten sowie Regionalorganisationen so zu ertüchtigen, dass sie für Sicherheit und Stabilität in der betreffenden Region sorgen können. Streitkräfte und Polizei erhalten dazu Ausrüstung; Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr bilden Sicherheitskräfte aus und leiten sie an (siehe die Arbeitspapiere Sicherheitspolitik Nr. 1/2016 und Nr. 29/2017 der BAKS).

Zu den Adressaten der Ertüchtigung zählen Anrainerstaaten von Krisenregionen wie Jordanien, Tunesien und Nigeria sowie auch fragile Staaten wie Somalia und Irak. Für die Initiative stellte der Bund bereits rund 780 Millionen Euro zur Verfügung. Konkrete Angaben zu den sehr diversen Projekten sind selten öffentlich zugänglich. Doch beispielsweise festhalten lässt sich an bisher erfolgreich angelaufenen und ausgeführten Projekten, dass für Jordanien 75 Schützenpanzer Marder umgerüstet, überführt und den dortigen Streitkräften übergeben wurden. In Tunesien begann der Bau einer Grenzüberwachungsanlage; gleichzeitig wurden Journalisten der nationalen Presseagentur zur Bedeutung von guter Regierungsführung im Sicherheitssektor fortgebildet. Die Initiative trägt auch dazu bei, eine Mobile Grenzschutzkompanie in Niger aufzustellen.

Die Ertüchtigungsinitiative reiht sich ein in vergleichbare Programme von UN, EU und NATO. Eine breitere historische Perspektive zeigt zudem, dass westliche Staaten bereits seit dem 19. Jahrhundert außereuropäische Streitkräfte ausrüsteten, ausbildeten und anleiteten. Sie verfolgten dabei freilich andere politische Zwecke als heutige Ertüchtigungsinitiativen, nutzten aber ähnliche Methoden und standen vergleichbaren Herausforderungen gegenüber. Aus einer solchen geographisch und zeitlich breiten Perspektive lassen sich Einsichten in die Ursachen für Erfolge und Misserfolge gewinnen.


Viele Ursachen des Zusammenbruchs der ANA

Afghanistan war zwar nie Teil der deutschen Ertüchtigungsinitiative, doch durchgehend Adressat entsprechender Maßnahmen für Militär, Polizei und Geheimdienst. Bereits 2002 wurden die USA lead nation für den Aufbau der ANA. Weitere Verbündete, darunter Deutschland, Frankreich und Großbritannien waren (zeitweise) für einzelne Ausbildungsabschnitte oder Ausbildungseinrichtungen verantwortlich, die ab 2005 zunehmend im Rahmen der NATO erfolgten. Ab 2015 bildete die NATO-Mission Resolute Support ausschließlich die afghanischen Sicherheitskräfte aus und leitete sie an.

Damit die ANA schneller auf eigenen Füßen stehen konnte, planten die USA Anfang der 2000er Jahre zunächst, sie als kleine, leicht und einfach ausgestattete Streitkraft aufzustellen. Allerdings wurde die Sollstärke in den Folgejahren immer weiter bis auf schließlich 195.000 Angehörige erhöht. Zugleich sollte die ANA fast alle Truppengattungen einer westlichen Armee, darunter Panzer, Artillerie und Pioniere sowie eine Luftwaffe erhalten, um das „Gefecht der verbundenen Waffen“ führen zu können. Den planmäßigen Aufbau der ANA behinderten allerdings durchgehend Ausbildungsdefizite, die sowohl Folge als auch Ursache ihrer hohen Verluste und sonstigen Abgänge waren. Hinzu kam, dass hohe Offizielle regelmäßig Sold und Material der ANA veruntreuten.

Fachleute sehen drei Ursachen für den raschen Zusammenbruch der ANA wie auch der anderen Sicherheitskräfte, Polizei und Geheimdienst, im Sommer 2021. Erstens führten die Taliban eine sehr geschickte Offensive im Frühjahr des Jahres aus. Sie kombinierte diplomatische, geheimdienstliche und militärische Mittel, flankiert durch wirkungsvolle Öffentlichkeitsarbeit. Richtigerweise legten die Taliban ihren Schwerpunkt zunächst in den schwerer zu nehmenden Norden und Westen des Landes. Gleichwohl hätte die ANA angesichts ihrer überlegenen Ressourcen und Personalstärke diese Herausforderung meistern müssen.

Zweitens trugen verschiedene Faktoren zur Schwächung der ANA bei. In den letzten Jahren ihres Daseins fiel es ihr schwerer, Verluste zu ersetzen, wodurch sich auch ihr Ausbildungsstand verschlechterte. Vorgesetzte meldeten zudem häufig offene Stellen nicht weiter, sondern führten diese als besetzt, um den Sold dieser „Geistersoldaten“ einzustreichen. Dadurch war die Ist-Stärke geringer als gedacht. ANA-Angehörige veruntreuten zudem häufig Nachschub und sonstiges Material. Verbunden mit dem zu niedrigen Ausbildungsstand sorgte dies dafür, dass die auf das arbeitsteilige „Gefecht der verbundenen Waffen“ zugeschnittenen ANA-Teile nicht zusammenwirken konnten. Besonders deutlich wurde dies im Bereich der Luftwaffe. Diese fiel zu einem Großteil aus, nachdem die USA 2021 die von ihnen zur Instandhaltung der Luftfahrzeuge bezahlten zivilen Vertragsnehmer abgezogen hatten. Das an die US-Streitkräfte angelehnte taktische Vorgehen der ANA war aber darauf ausgerichtet, dass Luftunterstützung vorhanden war.

Drittens hat die geringe Legitimität der afghanischen Regierung im Großteil der Bevölkerung und in der ANA selbst zum raschen Zusammenbruch der Streitkräfte entscheidend beigetragen. Das Ansehen des afghanischen Staats litt insbesondere durch die vielfach wahrgenommene Korruption und die stets umstrittenen Wahlen. Mit dem USA-Taliban-Abkommen vom Februar 2020 ließen zudem die USA und effektiv hiernach auch die NATO-Verbündeten die afghanische Regierung fallen. Im August 2021 sagte US-Präsident Joseph Biden öffentlich, dass sie auf sich gestellt sei. All dies beschädigte das Ansehen der Regierung innerhalb Afghanistans weiter. Während die afghanischen Streitkräfte in den vorherigen Jahren hohe Verluste im Kampf erlitten hatten, weigerten sich die meisten ANA-Angehörigen 2021 mit Ausnahme einiger Gefechte letztlich, ihr Leben für diese Regierung zu riskieren.


Abwesenheit eines gefestigten politischen Zentrums als Hauptursache

All diese Defizite lassen sich auf eine Hauptursache zurückführen: Es gab kein starkes politisches Zentrum Afghanistans, das eigenverantwortliche Entscheidungen hätte treffen, die Korruption eindämmen und damit das Ansehen des afghanischen Staats im In- und Ausland erhöhen können. Wie viele nachkoloniale Staaten befindet sich Afghanistan auf einer Stufe des Staatsbildungsprozesses, auf der unterschiedliche Gruppen ganz grundsätzlich um die nationale Macht konkurrieren. Sie tun dies nicht mehr zuvorderst gewaltsam wie während des Bürgerkriegs von 1992 bis 2001. Allerdings gehen ihre Auseinandersetzungen so weit, dass sie den üblichen Parteienstreit in konsolidierten Staaten übertreffen und die Funktionsfähigkeit der Regierung stark einschränken.

Die militärische Intervention der USA und ihrer Verbündeten zwang die afghanischen Machthaber mit dem Bonner Abkommen 2001 in eine gemeinsame Zentralregierung. Gleiches galt für die nur durch immensen äußeren Druck zustande gekommenen „Nationalen Einheitsregierungen“ von 2014 und 2020. Insbesondere in den ersten beiden Regierungen Hamid Karzais stand der Präsident mächtigen ehemaligen Mudschaheddin-Führern gegenüber. Deren faktische Macht versuchte er auszugleichen, indem er mit staatlichen Finanzen eigene Netzwerke als Hausmacht aufbaute. Gleiches taten seine Konkurrenten. Daher befürworteten afghanische Regierungsvertreter internationale Hilfsprojekte immer dann, wenn sich aus diesen viele Ressourcen für ihre politischen Zwecke ableiten ließen.

Offenbar war dies auch der wichtigste Grund, weshalb sie die überkomplexe ANA-Struktur mittrugen. Denn aus der umfangreichen Logistik und den immer weiter erhöhten Planstellen ließen sich viele Ressourcen abzweigen. Zudem nutzten einflussreiche Akteure die ANA auch direkt für wirtschaftliche Aktivitäten, indem sie mit dieser etwa Schmuggelrouten oder Edelsteinminen absicherten. Die ANA wie auch die übrigen Sicherheitskräfte waren damit selbst ein Kampfplatz der politischen Konkurrenz. Dass Regierungsvertreter erbittert um die Ressourcen des Staats kämpften und sich diese aneigneten, beschädigte nachhaltig das Ansehen der Regierung in der Bevölkerung und unter den ANA-Angehörigen. Dies minimierte die Kampfmoral und sorgte dafür, dass viele Soldatinnen und Soldaten ihre Verträge nicht verlängerten. Zum Beispiel setzten sich Pilotinnen und Piloten oft ins Ausland ab, um dort für zivile Fluggesellschaften zu arbeiten. Somit reduzierte sich der Ausbildungsstand der ANA. Die Veruntreuung der Ressourcen wiederum entzog der komplexen Streitkräftestruktur ihre Existenzgrundlage.


Parallelen zu den Problemen in Vietnam, Irak und Mali

Der Vergleich mit anderen Fällen bestätigt – so unterschiedlich sie auch in zeitlicher und geographischer Hinsicht sind –, dass das Fehlen eines gefestigten politischen Zentrums ursächlich für das Scheitern von externen Versuchen ist, funktionsfähige Streitkräfte in anderen Staaten aufzubauen. Spiegelbildlich zur ANA erscheint das Schicksal der südvietnamesischen Army of the Republic of Vietnam (ARVN) am Ende des Vietnamkriegs. Auch ihr drängten die USA ihre Streitkräftestruktur auf und unterfütterten sie mit enormen Ressourcen, die Südvietnam selbst nicht bereitstellen konnte. Durch den mit Nordvietnam geschlossenen Vertrag von Paris ließen die USA 1973 Südvietnam ebenso fallen wie später Afghanistan. Die auf dem Papier überlegene ARVN zerfiel nach der ersten entschlossenen Offensive Nordvietnams nach Abzug der USA im Jahr 1975. Auch im Fall Südvietnams gab es kein gefestigtes politisches Zentrum. Die beim Zusammenbruch amtierende Regierung war die erste verfassungsgemäße nach einer Reihe von Staatsstreichen. Sie ließ keinen Generalstab zu, um nicht selbst einem Militärputsch zum Opfer zu fallen. Die Regierung verhinderte nicht, dass hochrangige Vertreter der ARVN regelmäßig ihr Budget und Material veruntreuten. Dementsprechend niedrig war ihre Legitimität in der Bevölkerung und unter den Soldaten, die am Ende massenhaft flohen.

Gegenwärtig laufen noch internationale Missionen, um die Streitkräfte von Irak und Mali aufzubauen. Sie lassen sich daher noch nicht abschließend bewerten; dennoch sind Parallelen zu den Fällen Afghanistan und Vietnam offensichtlich. Dies gilt insbesondere für die erste US-dominierte Phase des Aufbaus der irakischen Streitkräfte, die mit der Besatzung der USA 2003 begann und mit ihrem vorläufigen Abzug 2011 endete. Da auf US-Seite oft dieselben Personen für den Irak wie Afghanistan verantwortlich waren, planten und führten sie den Aufbau der irakischen Streitkräfte fast identisch aus wie oben für die ANA geschildert.

Ebenso waren die politischen Bedingungen Iraks in dem Sinne vergleichbar, dass eine hochgradig zerstrittene politische Klasse verhinderte, dass ein gefestigtes politisches Zentrum entstand und Korruption eindämmte. Dementsprechend brachen die irakischen Streitkräfte 2014 noch schneller als die ANA zusammen als sie auf einige hundert entschlossene Kämpfer des „Islamischen Staats“ trafen. In Mali ist nach dem dritten Militärputsch seit 2012 ebenso kein gefestigtes politisches Zentrum in Sicht. Es ist nicht erkennbar, dass die wechselnden Regierungen bisher die Korruption begrenzten oder bemüht waren, eine eigene Streitkräftestruktur durchzusetzen, die stärker auf die lokalen wirtschaftlichen und personellen Verhältnisse zugeschnitten wäre. Dementsprechend überrascht nicht, dass die malischen Streitkräfte empfindliche Niederlagen gegen die zahlenmäßig und materiell unterlegenen Aufständischen einstecken mussten.


Historische Erfolge in Japan und der Türkei

Eindeutige Erfolge beim Aufbau außereuropäischer Streitkräfte finden sich bislang nur in der weiter zurückliegenden Vergangenheit, etwa in Japan und dem Osmanischen Reich beziehungsweise der Türkei. Japan verdeutlicht am stärksten, wie bedeutend ein gefestigtes politisches Zentrum hierfür ist. Auch dank seiner Insellage kontrollierte bereits seit dem 17. Jahrhundert eine Regierung das gesamte Land, wenn auch Feudalherren unter ihrer Ägide lokal herrschten. Das Schicksal des vom Westen unterworfenen Chinas vor Augen, ergriff die neue kaiserliche Regierung in den 1870er Jahren die Initiative, das Land einschließlich der Streitkräfte nach westlichem Vorbild zu modernisieren. Sie lud daher westliche Experten aus unterschiedlichen Ländern als Ausbilder ein und wählte selbst aus, welchen Planungen sie bis zu welchem Grad folgte. Die Regierung nutzte ihre neuen Streitkräfte, um das Feudalsystem gewaltsam zu überwinden und imperial zu expandieren. Spätestens mit dem Sieg über Russland 1905 wurde deutlich, dass Japan militärisch zum Westen aufgeschlossen war.

Etwas schlechtere politische Bedingungen bot das Osmanische Reich, das ab Anfang des 19. Jahrhunderts vermehrt eigeninitiativ westliche Militärhilfe ersuchte, um sein zerfallendes Imperium zu retten. Um den Monarchen konsolidierte sich in den folgenden hundert Jahren schrittweise ein politisches Zentrum in Form einer säkularen Beamten- und Offiziersklasse, die nach dem Ersten Weltkrieg vollständig die Macht übernahm. Im Takt mit den politischen Veränderungen – also nicht diesen vorauseilend – erfolgten anfangs zurückhaltende und später umfassendere Maßnahmen, um die Streitkräfte nach westlichem Vorbild zu modernisieren. Zwar verlor das Osmanische Reich den Ersten Weltkrieg, doch hatten sich seine materiell und zahlenmäßig unterlegenen Streitkräfte als kampfkräftig erwiesen. Mit ihnen vermochte die neue Regierung sogar, die Alliierten 1923 zu schlagen und die Friedensbedingungen des Vertrags von Sèvres zu revidieren. Gleichzeitig erlangte das Militär dauerhaften politischen Einfluss, der erst in jüngster Zeit endete.


Politikempfehlung: Die Ertüchtigung von der Stabilität des politischen Zentrums abhängig machen

Manche Beobachter ziehen aus Afghanistan die Lehre, dass noch mehr Ressourcen gerade zu Beginn einer Intervention einzusetzen seien. Ebenso wird oft gefordert, dass die Modernisierung außereuropäischer Streitkräfte mit zusätzlichen Finanzmitteln, Material und Ausbildungspersonal forciert werden müsse. Angesichts des bereits sehr hohen Ressourcenansatzes in den fehlgeschlagenen Interventionen in Afghanistan, Irak und einst Vietnam erscheint dies allerdings nicht überzeugend. Auch ist es unrealistisch, überhaupt noch mehr Finanzmittel und politische Unterstützung für solche Engagements zu erhalten. Ebenso wird oft empfohlen, beim Aufbau außereuropäischer Streitkräfte mehr kulturelle Sensibilität walten zu lassen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Die Ertüchtigenden sollten ihre Hilfe aber auch den materiellen Bedingungen und Fähigkeiten der Menschen vor Ort anpassen. Rein militärisch betrachtet, wäre daher womöglich das ursprünglich von den USA geplante ortsübliche Miliz-Modell für die ANA, vermittelt durch eine kleine internationale Mission, angemessener gewesen. Die überwiegend infanteristischen Fähigkeiten hätten sich besser vermitteln lassen und ihre Verbände auf dieser Grundlage leichter zusammenwirken können. Gleichzeitig hätte der afghanische Staat eine solche sehr viel günstigere Struktur eher finanziell schultern können.

Gleichwohl stellt sich die Frage, warum die bisherigen Bemühungen in fragilen Staaten keine derzeit erkennbaren klaren Erfolge vorweisen konnten, obwohl viele Verantwortliche sich grundsätzlich bewusst sind, dass kulturelle und sonstige lokale Unterschiede wichtig sind. Die hier angeführten Fälle verweisen darauf, dass es im zu ertüchtigenden Land eines Gegenübers bedarf, das nicht nur formal über local
ownership verfügt. Es muss eigeninitiativ und selbstbewusst auswählen, welche Teile westlicher Streitkräftestrukturen es bis zu welchem Grad übernimmt und sie damit kulturell anpassen. Die Ertüchtigenden hingegen können kaum die kulturelle Kompatibilität herstellen, sondern neigen auch aufgrund mangelnden Wissens dazu, ihre eigenen Streitkräftestrukturen zu reproduzieren.

Folgendes lässt sich im Kern aus den hier diskutierten Fällen ableiten: Je weniger stabil das politische Zentrum eines Staates ist, umso weniger erfolgversprechend sind die Bemühungen Externer, seine Streitkräfte zu ertüchtigen. Und umgekehrt gilt: Je stabiler das Zentrum, desto aussichtsreicher die Ertüchtigung. Wenn die Bundesregierung also laufende Ertüchtigungsmaßnahmen evaluiert oder zukünftige erwägt, sollte das Kriterium der Stabilität des politischen Zentrums des Empfängerlandes eine maßgebliche Rolle spielen.

Was sind typische Warnzeichen mangelnder politischer Stabilität? Besonders deutlich zeigt ein intensiver innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, dass das politische Zentrum heftig umkämpft, also nicht gefestigt ist. Gleiches gilt für häufige, insbesondere gewaltsame Regierungswechsel in jüngster Zeit. Ebenso sind ungewöhnlich viele Ministerien mit entsprechend kleinteiligen und abwegig erscheinenden Aufgabenbereichen ein Anzeichen dafür, dass es sich um ein fragmentiertes politisches Feld im betreffenden Land handelt. Denn in solchen Fällen dienen Ministerposten dazu, eine hohe Anzahl einflussreicher Konkurrenten ruhigzustellen. Der Preis hierfür ist, dass die schiere Anzahl der Ressorts eine gemeinsame Politik erschwert. Schließlich sollte auch das Ausmaß von Korruption in die Bewertung einfließen.

Doch oft ist es die Schwäche des politischen Zentrums, die politisch Verantwortlichen anderer Staaten überhaupt erst ein Eingreifen erforderlich erscheinen lässt. Auch sind übergeordnete politische Fragen, etwa der europäischen Solidarität, oft kraftvolle Treiber für Stabilisierungseinsätze. Unter diesem Druck hat es sich mittlerweile zur Standardantwort entwickelt, die Sicherheitskräfte vor Ort zu ertüchtigen oder gar komplett neu aufzustellen. Allerdings war dies bisher in fragilen Staaten wenig erfolgreich.
Die Verantwortlichen sollten sich daher stärker auf ihren breiten außenpolitischen ‚Werkzeugkasten‘ besinnen. Fehlt im fraglichen Staat ein stabiles politisches Zentrum, wäre daher grundsätzlich zu prüfen, ob Deutschland der Ertüchtigung von Streitkräften nicht eher andere Instrumente vorziehen sollte. Zu denken wäre an wirtschaftliche Hilfe, etwa über gegenseitigen Marktzugang, der wirtschaftliche Ungleichgewichte berücksichtigt, oder Investitionen in politische Bildung und Unterstützung beim Aufbau des Rechtsstaates.

Dr. Philipp Münch leitet den Projektbereich Deutsche Sicherheitspolitik und Bundeswehr am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw). Zuvor war er Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr (FüAkBw). Der Autor gibt seine persönliche Auffassung wieder.

Alle Ausgaben der Arbeitspapiere Sicherheitspolitik sind verfügbar auf:
www.baks.bund.de/de/service/arbeitspapiere-sicherheitspolitik

Working Paper topic: 
Bundeswehr
Enable and Enhance Initiative
Intrastate Conflicts
NATO
Region: 
Africa
Central Asia
Tags: 
Ertüchtigung
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