Weltweite Unsicherheiten aufgrund steigender Lebensmittelpreise
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist nicht nur eine Katastrophe für die Menschen, die unmittelbar unter den Kampfhandlungen leiden. Denn der Krieg wird aufgrund des Ausfalls der ‚Kornkammer‘ Ukraine sowie der Sanktionen gegen Russlands verheerende Sekundäreffekte haben, die vor allem Ostafrika und den Nahen Osten weiter destabilisieren könnten. Schon 2021 hatte das Zusammenspiel aus extremen Wetterereignissen und der Coronakrise massive Auswirkungen auf die weltweiten Lebensmittelpreise, wie die Autoren Ende dieses Jahres in einem Artikel für die Zeitung The New Arab berichteten. Durch Dürren in Nordamerika, die Störung weltweiter Lieferketten und den damit verbundenen Anstieg der Energiepreise haben sich Grundnahrungsmittel im vergangenen Jahr deutlich verteuert, wobei mehrere Preisrekorde gebrochen wurden. Kostete eine Tonne Weizen im Dezember 2021 bereits 325 US-Dollar, stieg dieser in Folge des Krieges zwischenzeitlich auf über 450 US-Dollar pro Tonne – eine Preissteigerung über die letzten drei Jahre von mehr als 110 Prozent.
Hinzu kommt, dass die höheren Energiepreise nicht nur das Betanken von Landmaschinen und den Transport der Lebensmittel teurer machen. Ein noch größerer Preistreiber dürften aufgrund der steigenden Gaspreise mittelfristig auch die steigenden Kosten für Dünger werden. Damit den Landwirten die ohnehin schmalen Gewinnmargen nicht wegbrechen, sind diese gezwungen, höhere Preise am Markt zu verlangen. Die Leidtragenden werden vor allem die Menschen in Krisen- und Entwicklungsländern sein, deren Regierungen bereits jetzt große Summen für die Subventionierung von Grundnahrungsmitteln aufwenden müssen.
Der Krieg in der Ukraine als Brandbeschleuniger
In dieser ohnehin angespannten Lage an den globalen Lebensmittelmärkten ist Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine auch aus ernährungspolitischer Sicht eine Katastrophe. Denn alleine aus Russland und der Ukraine stammen etwa 31 Prozent der weltweiten Weizenexporte. Weite Teile der ukrainischen Landesfläche und auch große Regionen im Süden Russlands sind mit überaus fruchtbarer Schwarzerde bedeckt. Diese erlaubt beiden Ländern trotz teilweise stark veralteter Produktionstechniken und mit relativ wenig Dünger, große Mengen an Lebensmitteln zu produzieren. So liegen die beiden Länder neben dem Weizenexport auch bei Grundnahrungsmitteln wie Kartoffeln, Karotten, Gurken und Weißkohl jeweils in den Top 5. Bei Mais steht die Ukraine mit fast 15 Prozent im Weltmarkt an vierter Stelle. Durch das Kriegsgeschehen ist mit dem Schwarzen Meer die wichtigste Exportroute für ukrainische Güter blockiert. Und da weltweit Reedereien, Logistikunternehmen, Banken und Versicherungen davor zurückschrecken, durch Handel mit Russland von Sekundärsanktionen getroffen zu werden, kommen auch kaum noch russische Agrarexporte auf den Weltmarkt.
Erschwerend kommt noch hinzu, dass durch den Krieg Ernte und Aussaat in der Ukraine in Gefahr sind. Während die reichen Länder des globalen Nordens die Lebensmittelpreise abfedern können, wird besonders der globale Süden darunter leiden. Und selbst wenn in weniger fruchtbaren Regionen Agrarfläche genutzt wird, um den Wegfall der russischen und ukrainischen Produkte zu kompensieren, so wird dies aufgrund der kargen Bodenbeschaffenheit nur unter dem Einsatz immenser Mengen Düngemittel möglich sein. Da dieser zumeist aus Erdgas gewonnen wird, ist es nicht überraschend, dass Russland auch in der Düngerproduktion Marktführer ist. Am 10. März wurde jedoch vermeldet, dass das Land den Export von Dünger aussetzen werde. Angesichts der steigenden Gaspreise ist nicht damit zu rechnen, dass bald günstige Alternativquellen für Düngemittel aufkommen werden.
Schwindende Resilienz und staatliche Stabilität im Nahen und Mittleren Osten
Schon jetzt warnen die Vereinten Nationen vor einer nahenden Hungerkatastrophe. Besonders betroffen sind Ostafrika und die Nahostregion. Dürren und Konflikte haben beide Großregionen bereits massiv in die Importabhängigkeit getrieben, und eine weitere Verschärfung der Lage könnte unvorhersehbare sicherheitspolitische Konsequenzen haben. Regierungen zahlreicher Länder schaffen es schon jetzt nur mit Subventionen, ihre Bevölkerungen von Hungerrevolten abzuhalten. Erst Ende Februar hat zum Beispiel die libanesische Regierung die USA um 20 Millionen US-Dollar gebeten, um die leeren Getreidespeicher füllen zu können. Deren Kapazität reicht seit der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut nur noch für einen und nicht wie früher mindestens vier Monate. Da der gesamte libanesische Weizenimport aus der Region ums Schwarze Meer stammt, wird das bankrotte Land auch in der Lebensmittelversorgung weiter in die Abhängigkeit ausländischer Geldgeber getrieben werden.
Neben dem Libanon sind es vor allem Ägypten, Jordanien, Tunesien und Libyen, welche signifikant von Nahrungsmittelimporten abhängig sind und zeitgleich vor inneren Unruhen stehen werden. Besonders Ägypten steht vor großen Herausforderungen. Als weltweit größter Weizenimporteur bezog das Land zuletzt über 80 Prozent seiner Weizenimporte aus Russland und der Ukraine. Großstädte wie Kairo oder Alexandria tendieren ohnehin zu einer höheren Anfälligkeit für Nahrungsmittelengpässe, und das Regime unter Abd al-Fattah As-Sisi hat es bislang nicht geschafft, die Nahrungsversorgung seiner inzwischen über 102 Millionen Einwohner zu diversifizieren. Die nun steigenden Lebensmittelpreise erschweren dem finanziell angeschlagenen Staat die Subventionierung von Brot und anderen Konsumgütern, einem Grundpfeiler der sozialen Sicherung in Ägypten. Die Anhebung subventionierter Brotpreise hat bereits in den 1980er Jahren, dann im Vorfeld des Arabischen Frühlings, und zuletzt 2017 zu Unruhen geführt.
Wenngleich die Regierung in Kairo mit repressiven Maßnahmen nahezu die gesamte Opposition gleichgeschaltet hat, droht die Gefahr vor allem von islamistischer Seite. Seit ihrer Gründung hat etwa die Muslimbruderschaft stets Lücken im ägyptischen Sozialsystem gefüllt, und so versucht, sich als Alternative zum Staat zu etablieren. Sollte die Regierung bald gezwungen sein, aus fiskalischen Gründen die Brotpreise zu erhöhen, könnte das zu erheblichen Unruhen und einem Wiedererstarken der islamistischen Opposition führen. Radikalislamistische Organisationen sind nicht nur auf der Sinai-Halbinsel aktiv, sondern versuchen auch im Untergrund von der Schwäche des Staates zu profitieren. Sollte dieser in den kommenden Monaten auch die Nahrungsmittelversorgung nicht mehr gewährleisten, könnten neue Proteste ein Einfallstor für Unterwanderung durch den IS und andere radikal-islamistische Gruppierungen sein. Diese Gefahr im Auge hat Kairo bereits jetzt einen Ausfuhrstopp für sämtliche Agrarerzeugnisse verhängt und bemüht sich händeringend, neue Kontrakte für Lebensmittel auf dem Weltmarkt abzuschließen.
Da der ägyptische Haushalt maßgeblich durch Gelder aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und dem Königreich Saudi-Arabien gestützt wird, kommt es somit auf die Entscheider in Riad und Abu-Dhabi, Mohammad bin Salman und Mohammad bin Zayed, an. Beide haben – wie im Übrigen auch die europäischen Akteure – kein Interesse an einem Erstarken islamistischer Kräfte oder einem erneuten Bürgerkrieg wie 2011. Folglich müssten die Golfmonarchien nicht nur die eigene Versorgungssicherheit gewähren, sondern zusätzlich auch den Partnern in der Region bei Importen zur Seite stehen, will man die eigene Einflusssphäre nicht erneut gefährdet sehen. Da in den kommenden Monaten die Nahrungsmittelpreise an den Weltmärkten in die Höhe schießen werden, ist absehbar, dass dies massive finanzielle Belastungen mit sich bringen wird.
Da die Engpässe und die folgliche Teuerung bei Rohstoffen weltweite Auswirkungen haben, wird allerdings auch der große Konkurrent auf der anderen Seite des Golfes betroffen sein – der Iran. Anders als die meisten Golfmonarchien kann Teheran allerdings nicht auf einen stabilen Haushalt zurückgreifen, und solange die Sanktionen des Westens auf Gas und Öl bestehen bleiben, dürften weiterhin keine frischen Devisen ihren Weg ins Land finden. Hinzu kommt der Umstand, dass der Iran mit seinen über 80 Millionen Einwohnern ohnehin unter Druck steht: Erst 2021 hat ein massiver Wassermangel zu landesweiten Protesten geführt. Desertifikationsprozesse schreiten stetig voran und bedrohen frühere Landwirtschaftsregionen. Zusätzlich ist der Mittelstand im Iran weitgehend weggebrochen, was die soziale Spannung deutlich verschärft hat. Es ist somit diese gefährliche Gemengelage, welche durch steigende Nahrungsmittelpreise nun zusätzlich befeuert wird.
Anders als Ägypten kann das Regime in Teheran allerdings nicht auf wohlwollende Geldgeber im Ausland hoffen. Die Regierung unter Ebrahim Raissi muss sich daher auf einen Spagat einstellen, der zur Zerreißprobe für die Regierung werden könnte: Auf der einen Seite müssen die Sanktionen des Westens durch das Zustandekommen eines reformierten Atomabkommens abgewendet werden und zum anderen wird man nicht umhinkommen, sich weiter auf die Avancen aus China einzulassen. Besonders letzteres führt im Iran inzwischen zu immer größerem Unmut, da man nicht nur in der Öffentlichkeit einen zu starken Einfluss der kommunistischen Führung aus Peking befürchtet. Sollte der Westen wie im Falle Venezuelas über seinen Schatten springen und den Bedarf an Gas und Öl über die politischen Ambitionen stellen, so könnte der Krieg in der Ukraine sogar zum kleinen Gamechanger für die Atomverhandlungen werden, da vor allem die europäischen Partner ein großes Interesse an den iranischen Gasvorkommen haben. Der Ausbau des iranischen Gasnetzes sowie die Eröffnung eines neuen Gasterminals in Jask, in der iranischen Hormozgan-Provinz, verdeutlichen, dass der Iran auf diese Entwicklung hofft, um damit auch seinen Haushalt wieder stärken zu können.
Dass die schon jetzt einsetzende Nahrungsmittelkrise nicht nur finanzielle Lasten mich sich bringen wird, zeigen vor allem die Beispiele Jemen, Äthiopien, Somalia und Sudan. Alle Staaten ächzen unter massiven inneren Spannungen oder sind bereits wie im Falle des Jemens komplett zerfallen. Langanhaltende Dürreperioden aufgrund des fortschreitenden Klimawandels haben die jemenitische Landwirtschaft nahezu komplett zum Erliegen gebracht, und die Versorgung der Bevölkerung kann bereits jetzt nur durch Importe über Hilfsorganisationen gewährleistet werden. Steigende Nahrungsmittelpreise auf den Weltmärkten würden somit die humanitäre Krise ausweiten. Ein deutlich wachsender Migrationsdruck und eine fortschreitende Landflucht würden zunächst innerstaatlich zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen und schließlich auch die Nachbarn in Mitleidenschaft ziehen. Als Folge wird mittelfristig auch der regionale und überregionale Migrationsdruck deutlich zunehmen, sollte es uns nicht gelingen, den betroffenen Staaten zur Seite stehen.
Auch europäische Akteure sind gefragt
Zusätzlich zur ohnehin angespannten politischen Lage im Osten muss sich Europa also auf weitere Spannungen und Instabilitäten in seiner Nachbarschaft vorbereiten. Will die Europäische Union ab dem kommenden Sommer nicht in die nächste Krise unvorbereitet hineingeraten, müssen bestehende Resilienzmechanismen ausgebaut und die betroffenen Staaten unterstützt werden. Die Rohstoff- und Lebensmittelknappheit mag für die europäischen Staaten zu bewältigen sein. Doch es ist nicht davon auszugehen, dass der globale Süden und die Länder in der europäischen Peripherie die kommenden fiskalischen und politischen Verwerfungen alleine schultern können.
Dem gilt es, mit vorausschauenden entwicklungs- wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen zu begegnen. Die Bundesregierung und insbesondere das BMWK, das BMZ und das BMF sollten neue Mittel in Aussicht stellen, mit denen internationale Organisationen dazu befähigt werden, dem steigenden Druck in den benannten Ländern entgegen zu treten. So könnte Deutschland nicht nur seine eigenen Mittel in den jeweiligen Hilfsprogrammen der EU sowie der UN aufstocken, sondern über politische und diplomatische Kanäle auch andere, eher wohlhabende Staaten dazu animieren, die Höhe der Hilfsgelder für die betroffenen Staaten anzuheben. Auch die Europäische Union kann hier eine zentrale Rolle spielen – liegt es angesichts der drohenden Entwicklungen auch im Interesse ihrer Mitgliedsstaaten, Ernährungskrisen vor Ort frühestmöglich einzudämmen. Besonders die reicheren Golfmonarchien, welche aufgrund der derzeitigen Öl- und Gaspreise finanziell gut dastehen, können hier eine besondere Rolle einnehmen. Neben humanitären Akteuren wie dem UNHCR, dem Internationalen Roten Kreuz und anderen Organisationen ist vor allem das World Food Programme (WFP) der Vereinten Nationen zu nennen. Dieses hat bereits bestehende Strukturen, die gestärkt und mit deutlich mehr Mitteln ausgestattet werden müssen. Wenngleich sich auch hier abzeichnet, dass politische Auseinandersetzungen und der wachsende Einfluss Chinas in der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen neue Komplikationen mit sich bringen, müssen die westlichen Akteure gemeinsam auftreten, da neben den betroffenen Staaten besonders die europäischen Staaten vor massiven Herausforderungen stehen werden.
Des Weiteren zeigt sich in Europa und anderen Industriestaaten bereits jetzt, dass allein die Aussicht auf hohe Inputkosten Marktteilnehmer vor Investitionen zurückschrecken lässt. Der norwegische Düngerproduzent Yara hat angesichts steigender Gaspreise die Produktion bereits drastisch zurückgefahren. Auch schrecken Landwirte vor Investitionen zurück, wenn sie nicht wissen, ob sie ihre Produkte zu höheren Preisen verkaufen können. In einem so unsicheren Umfeld reicht es nicht darauf zu warten, dass private Akteure Lösungen finden. Hier müssen die jeweiligen staatlichen Akteure eingreifen und beispielsweise mit Zuschüssen und garantierten Abnahmepreisen sicherstellen, dass auch im kommenden Jahr Lebensmittel produziert werden können. Auch logistisch können Deutschland und die EU helfen. Durch die Bereitstellung von mobilen Silos und Containern ließen sich Reservekapazitäten aufbauen, die ein Grundmaß an Planungssicherheit ermöglichen. All das wird viel Geld kosten, doch vorausschauendes Handeln zahlt sich aus. Nichts zu tun, wird Europa deutlich teurer zu stehen kommen.
Stefan Lukas ist Nahost-Analyst in Berlin und Gastdozent an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Zudem ist er Advisor bei der Gesellschaft für Sicherheitspolitik und war zuletzt Lehrbeauftragter an den Universitäten Jena und Greifswald. In seiner Forschung und Lehre setzt er sich mit sicherheitspolitischen Aspekten des Nahen und Mittleren Ostens auseinander.
Marius Paradies ist politischer Analyst in Berlin auf dem Gebiet der Internationalen Beziehungen. Er hat Geschichte, internationale Politik und Arabisch in Berlin, Manchester und Edinburgh studiert. In seiner Forschung setzt er sich insbesondere mit der Sicherheit und politischen Ökonomie des Nahen Ostens auseinander.
Alle Ausgaben der Arbeitspapiere Sicherheitspolitik sind verfügbar auf:
www.baks.bund.de/de/service/arbeitspapiere-sicherheitspolitik