Russlands Angriff auf die Ukraine hat in Deutschland nicht nur eine sicherheitspolitische Zeitenwende ausgelöst, sondern auch die nuklearen Realitäten wieder ins allgemeine Bewusstsein gerückt. Moskaus unverhohlene Drohungen, Kernwaffen gegen die Unterstützer der Ukraine einzusetzen, haben die westlichen Öffentlichkeiten erstmals seit dem Ende des Kalten Krieges wieder mit der Gefahr der nuklearen Eskalation konfrontiert. Träume von der atomwaffenfreien Welt, denen etwa die Unterstützer des Nuklearen Verbotsvertrags der Vereinten Nationen gefolgt sind, haben sich endgültig als Illusion erwiesen. Kernwaffen haben als Machtwährung sogar erheblich an Bedeutung gewonnen, weil sie die russische Aggression absichern und verhindern, dass westliche Staaten, über die Lieferung von Waffen hinaus, an der Seite der Ukraine in den Krieg eintreten. Damit ist das Konzept der nuklearen Abschreckung mit all seinen Vorteilen, Gefahren und Dilemmata wieder ein Kernelement deutscher, europäischer und transatlantischer Sicherheitspolitik. Die NATO verspricht in ihrem Strategischen Konzept von 2022, alle erforderlichen Schritte zu unternehmen, um die Glaubwürdigkeit, Wirksamkeit und Sicherheit der nuklearen Abschreckung zu gewährleisten. Wie das genau zu geschehen hat, wird künftig Gegenstand der strategischen Diskussionen im Bündnis sein, in die auch Deutschland seine nuklearen Interessen und Positionen einbringen sollte. Das erfordert fachliche Kompetenz – oder, wie es in der NATO genannt wird, einen ausreichenden nuklearen Intelligenzquotienten (IQ). Dies gilt nicht nur für die politischen Entscheidungsträger und jene, die im engeren oder weiteren Sinn mit sicherheitspolitischen Themen befasst sind, sondern auch mit Blick auf die Schaffung einer informierten Öffentlichkeit.
Um den nuklearen IQ Deutschlands ist es derzeit schlecht bestellt. Die kurze öffentliche Debatte Anfang 2024, wie man auf die Ankündigungen Donald Trumps reagieren solle, als US-Präsident das amerikanische Schutzversprechen für die Verbündeten in Frage zu stellen, hat eine tiefe Ahnungslosigkeit in weiten Teilen der Politik, in der Presse und selbst bei vermeintlichen Experten offenbart. Äußerungen von Parlamentariern offenbarten erhebliche Wissenslücken, und ein bekannter deutscher Historiker schlug in einem Presseinterview allen Ernstes vor, die Europäische Union möge eigene Kernwaffen beschaffen und – mangels Staatlichkeit der EU – den „Roten Einsatzknopf“ abwechselnd zwischen den europäischen Hauptstädten rotieren lassen.
Von Freunden umzingelt – und vom strategischen Denken verlassen
So viel Unkenntnis erschreckt, ist aber angesichts der Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte durchaus nachvollziehbar. Das in Deutschland seit den 1990er Jahren verbreitete Narrativ, nur noch „von Freunden umzingelt“ zu sein, hat das allgemeine Interesse an Sicherheits- und Verteidigungspolitik schwinden lassen. Nuklearfragen waren geradezu verpönt und wurden, wenn überhaupt, nur noch in kleinen Expertenzirkeln diskutiert. „Friedensforschung“ wurde oft als Ersatz für strategisches Denken missverstanden und Kernwaffen wurden nahezu ausschließlich als Objekte nuklearer Abrüstung gesehen. Allein die Auseinandersetzung mit konventioneller Verteidigung rief bisweilen kritische bis aktivistische Stimmen auf den Plan, die Fragen von Sicherheit, Militär und Rüstung oftmals unwidersprochen ganz aus der öffentlichen Debatte verdrängen wollen. Rund siebzig deutsche Universitäten haben sich selbst eine sogenannte „Zivilklausel“ auferlegt, die besagt, dass universitäre Forschung nicht für den rüstungstechnologischen Bereich nutzbar gemacht werden dürfe und dass man folglich keine Gelder für militärische Auftragsforschung annehmen werde. Selbst die Jugendoffiziere der Bundeswehr, die jungen Menschen durch Vorträge und Diskussionen sicherheitspolitische Fragen nahebringen konnten, wurden von vielen Schulen verbannt.
Das Desinteresse und die Stigmatisierung von Nuklearfragen vollzog sich parteiübergreifend und setzte sich in den betreffenden Ministerien fort, ganz gleich, unter welcher politischen Führung. Eine CDU-Verteidigungs-ministerin ließ vor öffentlichen Auftritten regelmäßig verbreiten, dass sie keine Fragen zur nuklearen Abschreckung beantworten werde. Eine sozialdemokratische Ministerin weigerte sich, unter Verweis auf ihre Vergangenheit in der Friedensbewegung, Nuklearfragen auch nur Kenntnis zu nehmen. Als die Leitung der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin (BAKS) nach Russlands Annexion der Krim vorschlug, das Thema nukleare Abschreckung in Kurse zur Fortbildung sicherheitspolitischer Entscheidungsträger aufzunehmen, wurde dies von den zuständigen Regierungsstellen als „nicht hilfreich“ abgelehnt.
Die nukleare Dimension deutscher Sicherheitspolitik
Mit der Zeitenwende hat die Bundesregierung eine Kehrtwende in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vollzogen, die mittlerweile weit über die Erhöhung der Verteidigungshaushalte hinausgegangen ist. Die Nationale Sicherheitsstrategie – die erste ihrer Art in der Geschichte der Bundesrepublik – spricht von der „Integrierten Sicherheit“ und benennt die nukleare Dimension klar als einen Teil davon: Solange es Nuklearwaffen gebe, sei glaubwürdige nukleare Abschreckung für die NATO und die Sicherheit Europas unerlässlich, um Frieden zu erhalten, Aggression vorzubeugen und nukleare Erpressung zu verhindern. Ebenso bekennt sich die Bundesregierung in der Strategie eindeutig zur Nuklearen Teilhabe der NATO.
Der Bundesminister der Verteidigung fordert eine „kriegstüchtige Bundeswehr“ – eine Formulierung, für die ein Minister vor einigen Jahren vermutlich hätte zurücktreten müssen. Das Bildungsministerium hat sich für Zivilschutzübungen an Schulen ausgesprochen, und das Wirtschaftsministerium fordert mehr Rüstungsforschung an deutschen Hochschulen. Sogar das Gesundheitsministerium sieht die Notwendigkeit, deutsche Kliniken besser auf die Folgen militärischer Konflikte vorzubereiten. Ein solches Umdenken ist auch mit Blick auf die Rolle von Kernwaffen in der Sicherheitspolitik erforderlich. Allerdings verbieten sich hier einfache politischen Parolen oder Forderungen nach „mehr“ oder „besser“.
Nukleare Abschreckung ist ein umstrittenes, widersprüchliches und letztlich gefährliches Konzept, das Kriege dadurch zu verhindern sucht, indem es einem potentiellen Angreifer mit nuklearer Vergeltung droht und ihn mit einem inakzeptabel hohen Schaden konfrontiert. Agiert der Aggressor rational, so erkennt er, dass die erwartbaren Kosten jeden erhofften Nutzen eines Angriffs übersteigen und verzichtet auf den Waffeneinsatz. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Verteidiger nicht nur über Kernwaffen verfügt, sondern willens und in der Lage ist, diese auch einzusetzen. Oder anders formuliert: Ein Staat muss Atomwaffen einsetzen können, um sie nicht einsetzen zu müssen. Dies zu akzeptieren ist schwierig, birgt die nukleare Abschreckung doch immer die Gefahr des Versagens, wenn ein Angreifer – allen Vergeltungsdrohungen zum Trotz – zu den Waffen greift und damit eine Eskalation wechselseitiger nuklearer Zerstörung auslöst. Die Beschreibung solcher Endzeit-Szenarien füllt mittlerweile ganze Bibliotheken.
Noch komplizierter wird es mit Blick auf das auch für Deutschland geltende Konzept der „erweiterten Abschreckung“, in dem die Nuklearmacht USA eine nukleare Schutzverpflichtung für ihre nicht-nuklearen Verbündeten übernimmt. Hier stellt sich unmittelbar die Frage der Glaubwürdigkeit: Wie plausibel ist es, dass Washington auf einen russischen Angriff auf Europa mit Kernwaffen reagiert, wenn es dadurch selbst einem möglichen nuklearen Vergeltungsschlag durch Moskau ausgesetzt ist? Präsidentschaftskandidat Donald Trump hatte Anfang 2024 diese Frage in der ihm eigenen Schlichtheit beantwortet und damit die ganze Idee eines nuklearen Sicherheitsschirms ins Wanken gebracht. Diese letztlich unauflöslichen Widersprüche zu vermitteln, gehört ebenso zum nuklearen IQ wie die Erkenntnis, dass es kein Zurück in die vor-nukleare Zeit gibt. Ein nuklearer Realismus, der weder die Augen vor Kernwaffen verschließt noch in atomaren Alarmismus verfällt, muss dauerhaft in Politik und Gesellschaft verankert werden. Fünf Institutionen kommt hierbei eine wichtige Rolle zu.
1. Die Rolle der Hochschulen
Sicherheitspolitisches Fachwissen für die Politik, den Journalismus oder die Öffentlichkeit zu generieren, beginnt bereits an den Universitäten. Die Zahl der Professorinnen und Professoren, die in ihren politischen Seminaren an deutschen Hochschulen Abschreckung oder Nuklearthemen behandeln, ist derzeit jedoch verschwindend gering. Es gibt beispielsweise in Deutschland nur eine einstellige Zahl an Professuren für Sicherheitspolitik und eine einzige für Militärgeschichte. Dies zu ändern wäre eine Aufgabe der Länder und des Bundes. So hatte im Jahr 2000 die damalige Bildungsministerin Edelgard Bulmahn 50 Millionen DM zur Verfügung gestellt, um die Deutsche Stiftung Friedensforschung zu gründen, die militärische Mittel oder die Idee der Abschreckung pauschal ablehnte und sich von der ansonsten zumeist im gleichen Atemzug genannten Konfliktforschung dezidiert abgrenzte. Würde eine in heutigen Preisen vergleichbare Summe für entsprechende Professuren bereitgestellt, ließe sich der Mangel an sicherheitspolitischer und strategischer Expertise in deutschen Universitäten rasch und vergleichsweise kostengünstig beheben.
Konstrukte wie die bereits erwähnte Zivilklausel, die erstmals 1986 an der Universität Bremen eingeführt wurde, wirken angesichts der veränderten Weltlage aus der Zeit gefallen. Folgerichtig hat Bayern ein Gesetz eingebracht, das sich gegen solche Begrenzungen wendet und die Universitäten des Bundeslandes auch für Forschungsmittel aus der Verteidigungsindustrie öffnet. Länger wird es vermutlich dauern, bis die generelle Marginalisierung und teilweise Stigmatisierung von Sicherheitspolitik an deutschen Universitäten abnimmt. Nach wie vor haben die wenigen Hochschullehrenden, die sich diesen Fragen widmen, mit Ablehnung und Protest sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer Fakultäten zu kämpfen.
2. Die Rolle der Bundeswehr
Zur Zeit des Ost-West-Konfliktes bestimmten nukleare Konfliktlagen selbstredend die Ausbildungs- und Übungstätigkeit der Streitkräfte. Sicherheitspolitik und Nuklearstrategie wurde bereits in den Grundlehrgängen für Stabsoffiziere an der Führungsakademie der Bundeswehr gelehrt. Im darauffolgenden Lehrgang für den Generalstabsdienst galten „Sicherheitspolitik und Strategie“ (SPS) und damit auch Nuklearfragen stets als Königsdisziplin. Für die Informationsarbeit der Bundeswehr wurden die 90 hauptamtlichen und etwa 500 nebenamtlichen Jugendoffiziere, die bundesweit als Referenten für Sicherheitspolitik vor allem in Schulklassen und bei Veranstaltungen vortragen, auch mit Nuklearfragen eingehend vertraut gemacht, um kompetent in der Öffentlichkeit argumentieren zu können.
Heute behandeln die Lehrgänge der Führungsakademie Nuklearfragen, ganz im Sinne der Friedens-dividende, nur noch am Rande. So bot etwa das Flaggschiff dieser Institution, der „LGAN“ (Lehrgang Generalstabs-/Admiralstabsdienst National), in den vergangenen Jahren keine speziellen Module für Fragen nuklearer Abschreckung mehr an – mit den entsprechenden Folgen für das nukleare Fachwissen der meisten Offiziere. Auch die Rolle der Jugendoffiziere hatte in den vergangenen Jahrzehnten erheblich abgenommen, was aber weniger an der Bundeswehr lag, sondern am schwindenden öffentlichen Interesse an sicherheits- und verteidigungspolitischen Themen. Zeitweise wurde ihnen in manchen Bundesländern und Regionen sogar der Zugang zu Schulen und Jugendveranstaltungen verwehrt. Seit Russlands Angriff auf die Ukraine ist die Nachfrage von Schulen an sicherheitspolitischer Bildung wieder deutlich gestiegen. Entsprechend dringlich ist die intensive Ausbildung dieser Soldatinnen und Soldaten in Nuklearfragen, um auf (berechtigte) Kritik und Fragen vorbereitet zu sein.
Spiegelbildlich verhielt es sich mit der Relevanz von nuklearstrategischen Fragen im Bundesministerium der Verteidigung, in dem das für nukleare Abschreckung zuständige Referat für Militärpolitik früher sowohl zahlenmäßig als auch mit Blick auf das politische Gewicht eine besondere Rolle einnahm. In den folgenden Jahrzehnten nahm die Bedeutung des Nuklearen ständig ab. Was einst das Thema von ganzen Referaten war, wird heute in der Abteilung Politik von einem einzigen Offizier im NATO-Referat erledigt, der nebenbei auch noch für andere Themen zuständig ist. Es ist offensichtlich, dass mit diesen begrenzten Kräften den Anforderungen der NATO an eigenständige nukleare Positionen nur schwer entsprochen werden kann – und dies, obwohl Deutschland als Stationierungsland von amerikanischen Kernwaffen traditionell ein besonderes Gewicht zukommt. Trotz kleinerer struktureller Reformen im Ministerium in jüngster Zeit hat sich an der Situation nichts Grundlegendes geändert.
3. Die Rolle der Think Tanks
Einen ähnlichen Bedeutungsverlust hatte das Abschreckungsthema in der deutschen Think-Tank-Landschaft der vergangenen Jahrzehnte erlitten. Von einzelnen interessierten Experten abgesehen, befasste sich lediglich das Flaggschiff der deutschen Politikberatung, die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), dauerhaft und strukturiert mit Nuklearfragen. Jedoch sah man auch hier die Thematik lange vor allem unter dem Aspekt der nuklearen Abrüstung und weniger als strategisches Element der Sicherheitspolitik. Seit 2020 hat sich dies allerdings – auch durch Personalwechsel – zum Positiven verändert. Gleichwohl bleibt bis heute die Nuklearkompetenz bei deutschen Think Tanks insgesamt eher gering. Vermutlich hätte neben der SWP die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) aufgrund ihrer Ausrichtung und Größe noch am ehesten die Möglichkeit, entsprechendes Fachwissen anzusammeln und an politische Entscheidungsträger weiterzugeben. Erschwert wird eine solche Politikberatung durch ein strukturelles Problem in Deutschland. Da es, anders als etwa in den USA, wenig Personalaustausch zwischen Ministerien und außen- und sicherheitspolitischen Forschungsinstituten gibt, ist das Verhältnis beider Welten nicht immer spannungsfrei. In Ministerien wird oftmals bemängelt, dass die Think Tanks nicht die Analysen oder Beratungspapiere liefern, die für tagtägliche Arbeit erforderlich sind, während Think-Tank-Vertreter häufig eine Beratungsresistenz politischer Entscheider beklagen. Das hat zur Folge, dass Expertenwissen zwar oft in Printmedien und Talkshows nachgefragt wird, aber nur begrenzt in die Regierungsarbeit einfließt.
Die Gründe hierfür liegen in Versäumnissen auf beiden Seiten. Das Auswärtige Amt zeigte sich stets vergleichsweise offen für Beratung von außen, indem die verschiedenen Leitungen des Hauses immer wieder zu Expertenrunden eingeladen haben. Auch versteht sich der dortige Planungsstab als Bindeglied zur Think-Tank-Welt. Das Verteidigungsministerium gibt sich hingegen eher verschlossen. Das wird oft mit Auflagen zur Geheimhaltung gerechtfertigt, liegt aber eher in der Kultur des Hauses begründet. Nur wenige Minister haben in der Vergangenheit externe Fachleute zu Gesprächen empfangen oder ein besonderes Interesse an deren Arbeit gezeigt. Entsprechend gering ist bis heute die Wahrnehmung externer Expertise wie Fachzeitschriften, Studien und Policy Papers in den jeweiligen Fachabteilungen. Umgekehrt sind zu wenige Vertreter von Think Tanks mit den Abläufen in Behörden und Ministerien vertraut und deshalb oft nicht in der Lage, Produkte zu liefern, die dem Bedarf operativer Regierungsarbeit entsprechen. Hier schließt sich der Kreis zu den Universitäten als Lehr- und Forschungsstätten, da Politikwissenschaft, Internationale Beziehungen und ähnliche Disziplinen in Deutschland größtenteils auf die Grundlagen-forschung ausgerichtet sind. Wer Karriere in der Wissenschaft machen möchte, muss in einem harten Wettbewerb Fördermittel anwerben, Publikationen vorlegen und Präsenz auf Fachkonferenzen zeigen – da bleibt wenig Zeit für Einblicke in die Arbeit von Behörden.
Abhilfe kann auf zwei Wegen geschaffen werden. Zum einen muss sich die Politikberatung in Deutschland wieder stärker mit Nuklearfragen befassen und in den entsprechenden Instituten das Thema nukleare Abschreckung auf die Forschungsagenda setzen. Zum anderen müssten mehr Wissenschaftler bereit sein, einige Monate in einem Ministerium zu hospitieren, um zu erfahren, welche Form der Politikberatung in Ministerialbürokratien erforderlich ist. Das erfordert Flexibilität auf beiden Seiten und vor allem die Bereitschaft der Politik, externe Fachleute nicht als „Kaliberexperten“ abzuwerten, wie es derzeit oft mit Blick auf die Unterstützung der Ukraine geschieht, nur weil deren Position nicht in die eigene politische Linie passt. Ein positives Beispiel setzte jüngst das Bundesfinanzministerium, das ein Referat für Sicherheitspolitik aufbaut (in dem es auch um Nuklearfragen gehen wird) und dafür gezielt Fachleute von außerhalb einstellt. Im Verteidigungsministerium gibt es seit einigen Jahren Projektstellen, auf denen Masterstudierende ein Praxisjahr absolvieren können und bei tariflicher Bezahlung voll in die Geschäftsabläufe eingebunden werden. Ein vergleichbares Modell ließe sich auch für die phasenweise Einbindung von Think-Tank-Angehörigen schaffen.
4. Die Rolle politischer Bildungseinrichtungen und Stiftungen
Deutschland verfügt über eine große Zahl politischer Bildungseinrichtungen – oft staatlich finanziert – die sich sowohl an politische Entscheidungsverantwortliche als auch an die breite Öffentlichkeit wenden. Die mit rund 75 Millionen Euro ausgestattete Bundeszentrale für Politische Bildung fördert bundesweit Bildungs- und Dialogangebote verschiedenster Organisationen und unterhält einen eigenen Themenbereich Außen- und Sicherheitspolitik. Hinzu kommen die sechzehn entsprechenden Landeszentralen. Darüber hinaus gibt es die politischen Stiftungen, denen allein aufgrund ihrer Größe, ihrer unterschiedlichen politischen Ausrichtung und ihrer bundesweiten Präsenz eine besondere Rolle zukommt. Während insbesondere die Konrad-Adenauer-Stiftung stets einen Schwerpunkt auf sicherheitspolitische Themen gelegt hat, war dort, wie auch in den übrigen Stiftungen, das Nuklearthema lange vernachlässigt oder bewusst ausgeklammert worden.
Eine veränderte Schwerpunktsetzung im Fortbildungsprogramm dieser Institutionen könnte erheblich zur Steigerung des nuklearen IQ in Deutschland beitragen. Gleiches gilt für vom Bundespresseamt geförderte Organisationen, wie die Gesellschaft für Sicherheitspolitik oder die Deutsche Atlantische Gesellschaft, die mit relativ geringen Geldmitteln arbeiten und durch ehrenamtliche Regionalvertreter dennoch bundesweit präsent sind. Auch hier könnten nuklearstrategische Fragen noch stärker als in der Vergangenheit thematisiert werden, wenn diesen Institutionen mehr öffentliche Mittel zufließen würden. Eine Sonderrolle nimmt die Bundesakademie für Sicherheitspolitik ein, die eigens gegründet wurde, um Entscheidungsträger aus der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft stärker mit sicherheitspolitischen Themen vertraut zu machen. Hier sollte insbesondere in dem dreimonatigen Kernseminar zumindest eine Lerneinheit dem Thema der nuklearen Abschreckung gewidmet werden.
5. Die Rolle kirchlicher Akademien
Die katholischen und evangelischen Akademien in Deutschland haben sich zur Zeit des Ost-West-Konfliktes intensiv mit kontroversen sicherheitspolitischen Themen wie dem Spannungsverhältnis von Abrüstung und Sicherheit oder der moralischen Legitimation von Kriegen im Nuklearzeitalter befasst. Gerade das Konzept der nuklearen Abschreckung wirft überaus heikle ethische Fragen auf, ist darin doch die weitgehende Vernichtung menschlichen Lebens zumindest als Möglichkeit enthalten. Hier kommt der Position der Kirchen eine besondere Rolle zu, haben doch die beiden großen Konfessionen stets mit den ethischen Dilemmata einer auf Kernwaffen basierten Sicherheitspolitik gerungen und versucht, moralische Richtlinien zu geben. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und Moskaus nukleare Drohungen haben zu einer erneuten Debatte innerhalb der Kirchen über die Legitimation nuklearer Abschreckung geführt, in der sich ethische Bedenken und politische Realitäten gegenüberstehen. Diese kontroverse Diskussion mittels des Bildungs-angebots der kirchlichen Akademien noch intensiver in die Öffentlichkeit zu tragen, würde helfen, eine möglicherweise kritische, aber besser informierte Diskussion über Kernwaffen zu führen.
Fazit
Russlands Angriffskrieg hat in Deutschland eine sicherheitspolitische Kehrtwende ausgelöst und die unveränderte Notwendigkeit einer glaubwürdigen nuklearen Abschreckung verdeutlicht. Die verbreiteten Träume von einer Welt ohne Atomwaffen sind der Erkenntnis gewichen, dass die nukleare Zukunft politisch gestaltet werden und Deutschland dabei seine Interessen einbringen muss. Hierzu bedarf es nuklearer Expertise auf allen Ebenen der Politik, des Journalismus und der interessierten Öffentlichkeit. Zu einer Steigerung des nuklearen IQ in Deutschland müssen die Hochschulen durch ein verändertes Lehrangebot ebenso beitragen wie die Bundeswehr, die Think Tanks und die nationalen Fortbildungseinrichtungen.
Wichtig bei der Thematisierung nuklearstrategischer Fragen in Politik und Gesellschaft ist allerdings, dass die Wissensvermittlung nicht als nukleare Indoktrination missverstanden wird, sondern die Stärken und Schwächen einer auf Abschreckung gestützten Sicherheitspolitik offen benennt. Nukleare Abschreckung ist ein zum Teil widersprüchliches Konzept, das schmerzhafte politische oder ethische Fragen aufwirft. Diese auch dann offen und selbstkritisch zu thematisieren, wenn sich abschließende und allseits befriedigende Antworten nicht finden lassen, ist Teil des nuklearen IQ.
Dr. Karl-Heinz Kamp ist Autor des Buchs Deutschlands nukleare Interessen nach dem Ukraine-Krieg. Bis 2023 war er Sonderbeauftragter des Abteilungsleiters Politik im Bundesministerium der Verteidigung und zuvor Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.
Alle Ausgaben der Arbeitspapiere Sicherheitspolitik sind verfügbar auf:
www.baks.bund.de/de/service/arbeitspapiere-sicherheitspolitik