„Bestimmt Russland die Parameter für die Neujustierung der NATO-Kernfunktionen?“ Mit dieser Fragestellung umriss Moderator General a. D. Egon Ramms, bis 2010 Oberbefehlshaber des „Allied Joint Force Command“, den Hauptpunkt des „NATO-Talk around the Brandenburger Tor“ am 05. November 2014 in Berlin. Die Tagung wurde dieses Jahr erstmals gemeinsam von der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) und der Deutschen Atlantischen Gesellschaft (DAG) ausgerichtet.
Ziel der Talkrunde, zu der rund 450 Teilnehmer erschienen, war es nach den Worten von General a. D. Jürgen Bornemann (DAG), die Zukunftsperspektiven für die transatlantische Militärallianz nach dem Gipfel von Wales aufzuzeigen. Anfang September waren die NATO-Mitglieder im walisischen Newport zusammengekommen. Dort wurde diskutiert, wie die Allianz auf die Krise in der Ostukraine reagieren soll.
Bei der Tagung im Berliner Hotel Adlon stand indes eher die Bündnisverpflichtung der Bundeswehr im Mittelpunkt. Der mehr als zehn Jahre dauernde ISAF-Einsatz in Afghanistan, der zum 31. Dezember 2014 endet, wurde nur noch am Rande diskutiert.
Im Umgang mit Russland empfahl der einstige Botschafter und Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Dr. Klaus Scharioth, weiterhin mit dem östlichen Nachbarn im Dialog zu bleiben, diesen - insbesondere mithilfe der OSZE - gar „voranzutreiben“. Nur durch Kooperation mit Russland könne eine konstruktive Lösung gefunden werden. James Appathurai, Stellvertretender Beigeordneter Generalsekretär der NATO und Sonderbeauftragter für den Kaukasus, interessierte sich dafür, ob die NATO-Mitglieder bereit wären, „die Unabhängigkeit jener Staaten zu schützen, die geographisch zwischen Europa und Russland liegen“.
Konsens unter den Panelisten bestand hinsichtlich der sogenannten „Kernfunktionen“ des NATO-Bündnisses. Besonders die Vertreter aus Polen, Estland und den USA machten mehrfach auf die wichtigste Kernfunktion aufmerksam, auf Artikel 5 des Nordatlantikvertrags: Ein bewaffneter Angriff gegen ein oder mehrere Mitglieder wird als Angriff gegen alle angesehen.
Generalleutnant Horst-Heinrich Brauß, seit Oktober 2013 Beigeordneter Generalsekretär der NATO für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung, verwies auf das „Strategische Konzept“ der NATO, das vor vier Jahren in Lissabon verabschiedet worden war. Neben der kollektiven Verteidigung und dem gemeinsamen Krisenmanagement besteht die Neuerung dieses Konzepts darin, ein globales Sicherheitsnetz zu schaffen. Die NATO-Mitglieder sollen eng mit anderen Akteuren und Mächten verzahnt werden, um genau solchen Herausforderungen begegnen zu können, wie sie sich in diesem Jahr in Osteuropa und im Nahen Osten entwickelt haben. Das Konzept werde, so Brauß, durch die aktuelle Russland-Krise zwar nicht grundsätzlich verändert. Allerdings müsse die NATO seiner Ansicht nach wieder mehr Wert auf die Aspekte kollektiver Verteidigung und strategischer Partnerschaften legen.
Zustimmung des Bundestages flexibilisieren
Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hat seit Monaten in Europa die Befürchtung ausgelöst, die Krise könne sich wie ein Flächenbrand auf Nachbarstaaten ausweiten. Angesichts dieser Sorge diskutierten die NATO-Experten auch über eine Neuausrichtung der Bundeswehr: „Ist die Bundeswehr für künftige Konflikte technisch richtig ausgestattet? Ist es weiterhin zeitgemäß, die Bundeswehr nur mit mehrheitlicher Zustimmung des Bundestages im Ausland einsetzen zu können?“, lauteten die Kernfragen dieser Diskussion. Vor allem Dr. Andreas Rinke, Politischer Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin, mahnte: Bedrohungen träten heutzutage immer kurzfristiger auf, sodass eine schnellere Abrufbarkeit der Bundeswehrtruppen nötig werde. In eine ähnliche Richtung zielte der Journalist Werner Sonne. Er stellte infrage, ob Deutschland bei Herausforderungen, die einer schnellen Reaktion bedürften, seinen Bündnisverpflichtungen gegenüber der NATO noch gerecht werden könne. Die Experten verwiesen darauf, dass Deutschland bisher stets seine Aufgaben erfüllt habe und auch künftig seinen militärischen Beitrag leisten könne. Insbesondere der außen- und sicherheitspolitische Berater der Bundeskanzlerin, Dr. Christoph Heusgen, machte klar, dass Deutschland in der Allianz einer der wichtigsten Truppensteller sei. „Wir sind für die NATO unverzichtbar“, betonte Heusgen.
„Die Abrufbarkeit der Streitkräfte muss angesichts der veränderten Herausforderungen nun jedoch deutlich schneller werden“, insistierte Rinke und kritisierte: Der Parlamentsvorbehalt für die Bundeswehr entfalte innerhalb der NATO „immer mehr Bremswirkung“. Roderich Kiesewetter, CDU-Bundestagsabgeordneter stimmte Rinke grundsätzlich zu. Es bedürfe einer „Neujustierung des Parlamentsvorbehalts mit mehr Flexibilität“, betonte der CDU-Politiker. Kiesewetter kritisierte zudem, „die Bundeswehr ist unterfinanziert“ und forderte: „Das Verteidigungsbudget muss erhöht werden.“
ISAF: Lessons learened
Die Expertenrunde zum ISAF-Einsatz tauschte Erfahrungen und „Lessons learned“ aus. ISAF sei für die NATO von besonderer Bedeutung gewesen, da der Einsatz gezeigt habe, dass das Bündnis beim Krisenmanagement handlungsfähig war und auch künftig sein werde, betonte Generalleutnant Michel Yakovleff. Der stellvertretende Stabschef des NATO-Hauptquartiers in Brüssel ist überzeugt, dass durch ISAF der „innere Zusammenhalt der NATO gesteigert wurde“. Es gebe „viele positive Aspekte von ISAF, die beibehalten werden müssten“, wie etwa die Luftraumkontrolle durch NATO-Truppen. Zu verbessern sei hingegen die Mobilität der Truppenkontingente im Einsatzland. Insgesamt zogen die Experten für den Afghanistan-Einsatz eine positive Bilanz. Im zivilen Bereich sei die Transformation der Verantwortung an einheimische Träger erfolgreich verlaufen, sagte Nicholas Williams, Leiter des Afghanistan-Teams in der Abteilung „Operationsführung der NATO“; die Afghanen fühlten sich zudem in die internationale Staatengemeinschaft eingebunden.
In der abschließenden Diskussionsrunde, moderiert von Dr. Karl-Heinz Kamp, Direktor für Weiterentwicklung der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, wurde die Frage nach der Zukunft der NATO analysiert. Der Diplomat Dr. Hans-Dieter Lucas, Politischer Direktor im Auswärtigen Amt, forderte eine „verstärkte Präsenz“ der NATO als internationale Organisation.
Fazit des Berliner NATO-Talks: Das transatlantische Bündnis NATO muss neuen Herausforderungen angepasst werden. Dafür habe der Gipfel von Wales vor einigen Wochen bereits einen Grundstein gelegt, auf dem es nun aufzubauen gelte, auch im Bereich der Bundeswehr.
Autorinnen: Julia Köhler und Inken Mende