Begegnungen und Gespräche in Jerusalem und im Westjordanland: Das Kernseminar 2016 der Bundesakademie bereist den Nahen Osten.
"Willkommen in der vielleicht kompliziertesten Situation auf der ganzen Welt." Mit diesen Worten wurde das Kernseminar Sicherheitspolitik von einem palästinensischen Gesprächspartner auf der Westbank begrüßt. In vielen weiteren Begegnungen und Gesprächen in Jerusalem oder Ramallah, mit israelischen und palästinensischen Gesprächspartnern bestätigte sich der Eindruck dieser Begrüßungsworte. Im Grund- und Kernkonflikt des Nahen Ostens stehen sich die Postionen und Forderungen derart unversöhnlich gegenüber, dass viel kreative Kraft nötig ist, um die Ressourcen freizulegen, aus denen eine Verständigung gelingen kann. In den alltäglichsten Situationen wird spürbar, wie sehr Gewalterfahrungen das Zusammenleben in Jerusalem oder Ramallah prägen und wie schnell Konflikte eskalieren können.
Jerusalem ist die Stadt der drei Weltreligionen. Die mächtigen Stadtmauern des 16. Jahrhunderts umschließen die Altstadt, bis 1967 jordanisches Territorium und noch heute Hot Spot des israelisch-arabischen Konflikts: das christliche, das armenische, das jüdische und das muslimische Viertel. Randvoll mit Geschichte und Erinnerungen ist dieser Teil der Stadt, Ziel von Touristen aus allen Teilen der Welt. Unser Besuch fällt in die letzten Tage vor dem muslimischen Fastenmonat Ramadan, allenthalben sind die muslimischen Einwohner Jerusalems mit den Vorbereitungen beschäftigt. Man spürt die Spannung, die in der Luft liegt. An unserem ersten Abend findet ein Gelöbnis israelischer Rekruten an der "Klagemauer", der westlichen Stützmauer des Tempelberges, statt. Große Mengen von Polizei und Militär sichern schwerbewaffnet jede Ecke der Altstadt. Gleichzeitig findet das „Festival of Lights“ statt, ein Volksfest und farbenprächtiges Spektakel mit Projektionen auf den Stadttoren, Mauern und vielen historischen Gebäuden, mit Tausenden von fröhlichen und entspannten Besuchern. Welche Gegensätze!
Gegensätze auch an einem anderen Brennpunkt, den wir erkunden, ohne um die Brisanz zu wissen. Ein abendlicher Spaziergang durch das Kidrontal, östlich des Tempelberges, führt eine kleine Gruppe auf den Ölberg. Steile Treppen, zwischen großen jüdischen Friedhöfen am Westhang des Ölbergs, führen auf die Höhe. Dort steht die Himmelfahrtskapelle, eingefügt in einen Baukomplex mit einer Moschee. Der Blick geht nach Westen in den Sonnenuntergang über dem Tempelberg. Die Muezzine rufen zum Gebet, ihr Gesang erfüllt von allen Seiten und von vielen Minaretten aus die schnell einbrechende Dämmerung. Wir nehmen Platz auf den Stufen vor der Himmelfahrtskapelle. Es ist dunkel geworden. Auf der Straßenseite gegenüber, am Rande des Abhangs nach Westen, steht eine Gruppe israelischer Soldaten, schwerbewaffnet. Sie spielen mit der lasergesteuerten Zieloptik ihrer Sturmgewehre, lassen die roten Punkte über die Mauer der Moschee tanzen. Nicht nur wir nehmen das als Provokation wahr. Das Abendgebet endet, eine Gruppe von Betern kommt aus der Moschee, sieht die Soldaten, sieht dann uns auf den Stufen sitzen und kann uns zunächst nicht einordnen. Spannung liegt in der Luft. Ein deutsches Wort und ein englisch gesprochener Gruß lösen die Situation. Woher wir seien, ob wir etwas essen wollen. Man könne uns um die Ecke eine gute Adresse zeigen. In einer großen Gruppe sitzen wir wenig später um einen weißen Plastiktisch bei einem orientalischen Abendimbiss. Die steile Straße bergab vorbei am Garten Gethsemane und ebenso steil hinauf zum Löwentor führt zurück in die Altstadt. Erst am nächsten Morgen fällt uns auf, dass, anders als überall in Jerusalem, kein einziger Tourist mit uns auf dem Ölberg war. Wir fragen nach und hören, dass unser Ausflug riskant war. Die Gegend um die Himmelfahrtskapelle war zuletzt immer wieder Schauplatz gewalttätiger Konfrontationen und auch von Angriffen auf Touristen. Nur wenige hundert Meter weiter östlich verlaufen die Sperranlagen. Wiederum also: Diese Gegensätze zwischen Frieden, Gebet, friedlicher Begegnung auf der einen Seite und Waffen, Konfrontation, latenter und oft genug manifester Gewalt andererseits.
Am nächsten Tag geht es nach Ramallah zu Gesprächen mit dem Premierminister der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) und der Leitung der PSO ("Palestinian Security Organization"). Die Fahrt führt entlang der Mauer, die die Westbank vom israelischen Kernland abtrennt. Unser Bus passiert die Sperranlage unbehelligt, Fahrzeuge der Palästinenser dürfen nur mit Sondergenehmigung queren. Der Anblick ist bedrückend, Erinnerungen an die ehemalige innerdeutsche Grenze stellen sich ein. Allerdings: nicht nur israelische Gesprächspartner berichten, dass Kriminalität und Terror seit Errichtung der Sperranlagen drastisch abgenommen haben. Die Gespräche in Ramallah machen die höchst schwierige Lage der Palästinensischen Autonomiebehörde deutlich: Die Spaltung zwischen Fatah und Hamas hat zu einer faktischen Lähmung der palästinensischen Administration geführt. Der Rückhalt der PA und von Präsident Mahmud Abbas in der palästinensischen Bevölkerung ist drastisch gesunken. Seit 2006 haben keine Wahlen mehr stattgefunden. Die junge Generation hat die Hoffnung auf Besserung verloren. Viele verlassen die Region und werden erfolgreiche Geschäftsleute und Wissenschaftler in westlichen Staaten. Andere wenden sich dem religiösen und politischen Extremismus zu. Vor allem die christlichen Palästinenser weichen durch Emigration dem doppelten Druck von israelischem Sicherheitsregime und muslimischer Mehrheitsbevölkerung aus. Die Sicherheitsorganisationen gehören zu den wenigen quasistaatlichen Einrichtungen, die funktionieren und einen Rest von Legitimität genießen. Die Zivilgesellschaft ist schwach, die palästinensischen Eliten scheinen mehr an der Erhaltung dieses prekären Status Quo interessiert zu sein, als an einer Fortsetzung des Staatsbildungsprozesses, wie er als "Zwei-Staaten-Lösung" seit den Vereinbarungen von Oslo 1993 als politisches Ziel markiert wird und auch internationale Unterstützung erfährt. Die Palästinenser setzen auf eine Internationalisierung des Konflikts, haben wegen des Gazakrieges vom Sommer 2014 und des fortgesetzten Siedlungsbaus vor dem Internationalen Strafgerichtshof gegen Israel geklagt. Seit 2012 genießt der "Staat Palästina" bei der UNO des Statuts eines "beobachtenden Mitglieds". Israel dagegen setzt auf ausschließlich bilaterale Verhandlungen mit der palästinensischen Seite - "ohne Vorbedingungen", wie hinzugefügt wird.
Diesseits der Altstadt, im Westen, liegt das moderne Jerusalem, die Hauptstadt Israels. Eine durch und durch westliche Stadt mit funktionierender Infrastruktur und modernen Gebäuden, Sinnbild der beeindruckenden Erfolge, die Israel seit der Staatsgründung 1948 erzielt hat: Die einzige Demokratie im Nahen Osten, moderne Industrienation und Agrarproduzent, auf vielen technischen Feldern weltweit führend. Die deutsche Delegation wird im Außenministerium empfangen. Weiter stehen Gespräche mit einer Reihe namhafter Wissenschaftler, mit politischen Analysten und Angehörigen der sicherheitspolitischen Community auf dem Programm. Im Fokus aller Begegnungen steht die strategische Bewertung der nach dem irakischen Staatszerfall und dem Beginn des syrischen Bürgerkrieges drastisch veränderten Lage Israel im größeren Gesamtbild der MENA-Region (Middle East North Africa). Die Bedrohung Israels durch die umliegenden arabischen Staaten, die in den Jahren 1948, 1967 und 1973 zu drei großen Kriegen führte, existiert faktisch zur Zeit nicht mehr. Syrien ist in einem blutigen Bürgerkrieg versunken. Jordanien, Ägypten und Saudi Arabien kooperieren in Sicherheitsfragen offen oder verdeckt mit Israel. Die schiitische Hizbollah ist ebenfalls im syrischen Bürgerkrieg engagiert und fällt als unmittelbare Bedrohung an der israelischen Nordgrenze zum Libanon aus. Hamas wurde im Gazastreifen im Sommer 2015 erneut, allerdings unter hohen zivilen Opfern, entschieden bekämpft und entscheidend geschwächt. Die Rolle der Türkei unter Erdogan wird mit großem Misstrauen bewertet: "They play the worst game of all.", meint ein Gesprächspartner. Als Schlüsselbedrohung bleibt Iran. Der "Nukleardeal" mit dem Iran wird von allen israelischen Gesprächspartnern höchst skeptisch beurteilt. Die Rolle der Europäer wird, mehr noch als diejenige der USA, sehr kritisch beurteilt. Von der EU erwartet Israel nichts Konstruktives. Die atomare Bedrohung bleibt, Israel rechnet mit ihr und würde vermutlich zu gegebener Zeit reagieren.
Die Zweifel wachsen, ob die "Zwei-Staaten-Lösung", zu der sich Israel bis heute offiziell bekennt, noch als realistische politische Option gelten kann. Das politische Spektrum Israels hat sich, auch durch die vielen Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, nach rechts verschoben, demokratische Mehrheiten scheinen sich heute eher durch einen konfrontativeren Politikstil gewinnen zu lassen. Im Konflikt mit den Palästinensern zeichnen sich für die entscheidenden Streitfragen heute weniger denn je Lösungen ab: für die Frage des weiter forcierten Siedlungsbaus, der Sperranlagen und Grenzziehungen; für den Status Jerusalems; für die Zukunft der palästinensischen Flüchtlinge, deren Rückkehr in ihre 1948 verlassenen Siedlungen schwer denkbar erscheint; für die Fragen der Sicherheit der jüdischen und palästinensischen Bürger.
Eine pragmatische Politik der kleinen Schritte scheint im Moment mehr Fortschritt zu versprechen als große Lösungen, dennoch wird es nicht ohne eine echte Vision des Friedens gehen können. Dies ist gerade dort besonders wichtig, wo sich die politischen Narrative derart konfrontativ abgedichtet haben, dass ein gemeinsamer Grund, auf dem Lösungen formuliert werden können, immer schwieriger zu finden ist. Es gilt die Worte zu wägen, die gesprochen werden, die Geschichten zu prüfen, die erzählt werden. Dies ist ja Voraussetzung dafür, Schritte auf dem Weg des Friedens zu gehen. In einer derart stark von Gewalt geprägten Umgebung werden die "Widerworte" und die Gegengeschichten wichtig, vielleicht auch die "counternarratives" von einzelnen widerständigen Friedensstiftern und von kleinen Weggemeinschaften. Es gibt ja trotz allem großartige und beeindruckende Hoffnungszeichen unter Juden, Christen, Muslimen und säkular lebenden Menschen in Israel und in der ganzen Region. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist angesichts der noch viel massiveren Gewalt in Syrien, im Irak und auf den großen Fluchtrouten etwas außer Sichtweite geraten. Manches scheint vordringlicher. Und doch ist ein Neuanfang im Nahen Osten, ein Weg zum Frieden kaum denkbar ohne eine Lösung für die – wie der eingangs zitierte Gesprächspartner so treffend sagte: "komplizierteste Situation der Welt".
Autor: Dr. Roger Mielke