Das Deutsche Forum Sicherheitspolitik hat sich an seinem zweiten Tag kontrovers fortgesetzt: Was folgern wir aus den Unterschieden zwischen europäischer und islamischer Solidarität mit den Flüchtlingen?
"Das Thema Solidarität ist kein neues. Italien und Griechenland fordern schon seit Langem Solidarität", begann Prälat Martin Dutzmann, Bevollmächtigter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, die Diskussion des zweiten Konferenztages des Deutschen Forums Sicherheitspolitik. Innerhalb Deutschlands gebe es nach wie vor eine sehr große Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen – darin waren sich auch alle Panelisten einig. Irritierend und problematisch sei allerdings laut Dutzmann, dass in der Debatte um Solidarität inzwischen auch von sogenannter "flexibler Solidarität" der EU-Mitgliedstaaten die Rede sei.
Betrachte man dagegen die Statistiken für den islamischen Raum, so Rania Al Jazairi, First Social Affairs Officer der Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien (ESCWA) der VN, ergebe sich in Nachbarstaaten Syriens auf den ersten Blick eine große Solidarität: Von den 4,8 Millionen syrischen Flüchtlingen seien 2,3 Millionen von der Türkei aufgenommen worden, 1,5 Millionen vom Libanon und circa 80,000 von Jordanien. Somit hätten circa 90 Prozent der syrischen Flüchtlinge Zuflucht in den Anrainerstaaten des syrischen Bürgerkriegsgebiets gefunden.
Ist Solidarität relativ oder sogar "flexibel"?
Kenan Engin relativierte diese Zahlen. "Solidarität ist nicht, wie viele Flüchtlinge aufgenommen werden", so der Projektleiter vom Bonner Institut für Migrationsforschung und interkulturelles Lernen. Absolute Zahlen aufgenommener Menschen alleine seien ein unzureichender Indikator. Wichtiger sei, wie viele Flüchtlinge wirklich Zugang zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt bekommen hätten oder wie viele Flüchtlingskinder zur Schule gingen. Engin, selbst anerkannter Asylbewerber in Deutschland, vertrat zudem die Auffassung, dass "Solidarität" insgesamt ein Grundproblem innerhalb der islamischen Welt sei. Einige arabische Staaten hätten sehr wenige syrische Flüchtlinge aufgenommen, insbesondere Katar und Kuwait nur circa ein bis zwei Tausend.
Bassel Kaghadou, Programmdirektor in der "National Agenda for the Future of Syria" der ESCWA, brachte zum Ausdruck, dass die Gesellschaften in Jordanien und im Libanon sehr wohl aufnahmebereit gegenüber Flüchtlingen aus Syrien seien. Allerdings bestünde das Problem darin, dass diese Nachbarstaaten aufgrund ihrer beschränkten Ressourcen die Menschen nur begrenzt versorgen könnten.
Das unterstrich auch Al Jazairi erneut aus wissenschaftlicher Sicht. Auf der Grundlage einer Befragung von Flüchtlingen beschrieb sie die schwierige sozioökonomische Lage in den Aufnahmeländern im Nahen Osten: Zu den Beschränkungen zählten insbesondere die Situationen im Wohnungs- und im Arbeitsmarkt.
Das ganze Podium debattierte abschließend kontrovers über die sehr großen Unterschiede in der Solidarität unter den EU-Mitgliedstaaten. Engin vollzog noch einmal die Entwicklung in der Haltung der europäischen Partner nach: Habe man erst kaum reagiert, als das Problem "nur" den Nahen Osten und Nordafrika betraf, erklärten sich die Partner solidarisch, als die Flüchtlinge massenweise in Ungarn eintrafen, aber dann sei dieser Impuls in eine "Orbanisierung", eine Abgrenzung der Einzelstaaten untereinander, umgeschlagen. Prälat Dutzmann forderte für die Zukunft, dass Europa ein geordnetes Asylverfahren mit einheitlich hohen Standards zur Integration und eine nachhaltige Bekämpfung von Fluchtursachen anstreben müsse.
Podien über Arbeitsmarktchancen für Flüchtlinge und Rezepte der vernetzten Sicherheit
Das Deutsche Forum Sicherheitspolitik setzte sich fort mit zwei weiteren Podien. Professor Jochen Oltmer von der Universität Osnabrück, Stefan Mair vom BDI und Eva Maria Welskop-Deffaa vom ver.di-Bundesverband, debattierten mit Elke Löbel, Beauftragte für Flüchtlingspolitik des Bundesministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit, darüber, ob die Migration ein "Glücksfall" für den deutschen Arbeitsmarkt wäre, oder ob nicht auch deutsche Unternehmer Verantwortung für Bleibeperspektiven in Herkunftsländern übernehmen sollten.
Agnieszka Brugger, Obfrau von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestagsverteidigungsausschuss, Rüdiger König, Abteilungsleiter Krisenprävention des Auswärtigen Amts, Generalleutnant Dieter Warnecke, Abteilungsleiter Strategie und Einsatz im Verteidigungsministerium, Heinz-Gerhard Justenhoven, Direktor des Instituts für Theologie und Frieden, sowie Michael Niemeier aus dem Bundesinnenministerium blickten am Ende des Forums voraus: Sie versuchten zu identifizieren, welche Rezepte wir auf sicherheitspolitische Herausforderungen in den nächsten Jahren anwenden wollen – darunter die Mittel Ertüchtigung, Krisenprävention und nachhaltige Entwicklung.
Autor: Redaktion
Nachbericht über den ersten Tag des "Deutschen Forum Sicherheitspolitik 2016"