Eine der breiten Öffentlichkeit kaum bekannte Terrorgruppe um einen charismatischen Anführer verübt Massenmord an 3.000 Menschen. Weitere Anschläge wie in Bali, Djerba, Madrid oder London folgen. Sie alle unterstreichen eine neuartige terroristische Bedrohung, die unverhohlen darauf abzielt, möglichst viele zufällig an einem Ort anwesende unschuldige Personen – auf dem Weg zur Arbeit, im Urlaub, bei der Fahrt mit einem Bus – umzubringen. Ein Albtraum terroristischer Bedrohung war Realität geworden.
Eine Steigerung dieser terroristischen Gewalt hätte man lange Zeit kaum für möglich gehalten. Doch dem sogenannten Islamischen Staat (IS) ist es mit seiner entmenschten Brutalität gelungen, selbst al-Qaida (AQ) in den Schatten zu stellen. Mehr noch, der IS hat sich von einer herkömmlichen terroristischen Organisation gelöst und durch militärische Eroberung ein Herrschaftsgebiet in der Größe eines europäischen Flächenstaates geschaffen, in dem er seit zwei Jahren seine totalitäre Herrschaft ausübt. Diverse Terrororganisationen in mehreren Kontinenten sowie zehntausende junge Männer aus allen Teilen der Welt fühlen sich hiervon so angezogen, dass sie dem IS ihre Treue schwören.
Im Ergebnis sieht sich die Welt heute nicht nur einem, sondern zwei Terrornetzwerken mit nahezu globaler Reichweite gegenüber, die trotz grundsätzlich derselben ideologischen Zielrichtung in Konkurrenz zueinander stehen und beide hinlänglich bewiesen haben, keine Hemmungen zu kennen, Menschen in möglichst hoher Zahl umzubringen. Wie ist es dazu gekommen, wo liegen die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen, wie hoch ist die jeweilige Bedrohung für Europa und die USA und was können die vom Terrorismus bedrohten westlichen Staaten dagegen tun?
Entwicklung und Programmatik von AQ und IS
AQ versteht sich seit seiner Neuorientierung in den Jahren nach dem Kampf gegen die UdSSR in Afghanistan als Avantgarde der internationalen dschihadistischen Bewegung. Der Fokus liegt seitdem auf der Bekämpfung des sogenannten „fernen Feindes“, das heißt den westlichen Verbündeten arabischer Regime, in erster Linie den USA. Durch Eröffnung eines globalen Schlachtfeldes wollte AQ diese zwingen, ihre Unterstützung arabischer Länder wie den Golfstaaten oder Ägypten einzustellen. Im weiteren Verlauf sollten deren Regime gestürzt, Israel vernichtet und Emirate – also Herrschaftsräume, die auf Basis der Scharia regiert werden – errichtet werden. Aus diesen sollte allmählich das Kalifat erwachsen, ein gemeinsames Reich aller Muslime. Dieser Prozess sollte jedoch nicht unter Zwang erfolgen, sondern unter Mitnahme der jeweiligen Bevölkerungen.
Die Anschläge vom 11. September 2001 schienen aus dieser Sicht zwar vordergründig spektakulär erfolgreich, erwiesen sich aber für AQ als Desaster. Als erstes verlor AQ seinen Rückzugsraum in Afghanistan, der es der Organisation erlaubt hatte, Anschläge zu planen, Kämpfer auszubilden und in weitgehender Sicherheit zu leben. Die Finanzierung von AQ wurde nachhaltig gestört. Und es begann eine Jagd auf AQ-Personal, die zu nicht mehr kompensierbaren personellen Verlusten führte und im Tod von Usama bin Laden selbst kulminierte. In der Summe haben diese Maßnahmen die klassische AQ, also im Sinne der Organisation, die die Anschläge vom 11. September geplant und durchgeführt hat, heute nahezu handlungsunfähig gemacht.
AQ reagierte auf den Druck durch Gründung von Tochterorganisationen. Hierzu bot ausgerechnet der US-Einmarsch in den Irak 2003 die erste Gelegenheit. 2004 trat der Jordanier al-Zarqawi mit seiner im Irak bereits im Vorfeld der Invasion aufgebauten und bis dahin unabhängigen Gruppe AQ bei und wurde zu Al-Qaida im Irak (AQI), der Vorläuferorganisation des heutigen IS. 2007 und 2009 folgten Filialen in Nordafrika (Al-Qaida im Islamischen Maghreb, AQIM) beziehungsweise auf der Arabischen Halbinsel (Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel, AQAH); 2012 traten die somalischen al-Shabab dem AQ-Netzwerk bei. Insoweit AQ in den letzten Jahren Gefährdungspotenzial entwickelt hat, geht dieses von seinen Filialen und nicht mehr von der Kernzelle aus.
Eine Gemengelage von Gründen (seit jeher bestehender regionaler Bezug, zunehmende Schwierigkeiten bei der Bekämpfung der USA, Eingehen von Bündnissen mit weiteren Gruppen) hat dabei über die Jahre zu einer bedeutsamen Neuorientierung geführt, denn die ursprüngliche AQ-Programmatik – der Kampf gegen den fernen Feind – wird inzwischen de facto nur noch eingeschränkt verfolgt. AQAH hat zwar vor sechs Jahren noch mehrere fehlgeschlagene Versuche unternommen, Anschläge auf den internationalen Luftverkehr zu verüben, heute scheinen sich aber alle AQ-Filialen vorwiegend auf den Kampf in ihrer jeweiligen Region zu konzentrieren und, wo möglich, Gebiete dauerhaft unter ihre Kontrolle zu bringen. Am erfolgreichsten sind hierbei AQAH im Jemen und vorübergehend al-Shabab in Somalia. AQIM hat dasselbe in Mali versucht, ist aber gescheitert. Zwar kommt es weiter zu Anschlägen gegen Ausländer, wie zuletzt die Angriffe in Mali, Burkina Faso und in der Elfenbeinküste demonstriert haben, welche allesamt durch AQIM verübt wurden. Gleichwohl kann von einem Kampf gegen den fernen Feind, mit dem Ziel, diesen zum Rückzug aus der islamischen Welt zu bewegen, in den letzten Jahren streng genommen nicht mehr die Rede sein. In der Praxis scheint die AQ-Programmatik, die den Anschlägen vom 11. September zugrunde lag, somit höchstens noch eingeschränkt gültig und am ehesten noch bei AQIM anzutreffen.
Das Verhältnis zwischen AQ-Führung und AQ im Irak war von Beginn an schwierig. Vor allem die bereits unter Führung Zarqawis zur Schau gestellte extreme Gewalt von AQI wie auch die Ausrichtung auf Anschläge gegen schiitische Ziele haben mehrfach deutliche Kritik der AQ-Führung hervorgerufen, aus deren Verständnis beides völlig kontraproduktiv war. Als sich AQI 2006 mit einigen kleineren Organisationen zum Islamischen Staat Irak (ISI) zusammenschloss, blieb es längere Zeit unklar, ob es sich beim ISI überhaupt noch um einen Teil der AQ-Familie handelte. Zum endgültigen Bruch kam es, als die im syrischen Bürgerkrieg aktive al-Nusra-Front – ursprünglich ein Ableger des ISI – sich im Frühjahr 2013 öffentlich dem Anspruch der Oberherrschaft des ISI verweigerte und stattdessen den Treueeid auf bin Ladens Nachfolger Zawahiri ablegte. Dessen Entscheidung, dass es sich bei der al-Nusra und ISI um zwei getrennte Organisationen innerhalb der AQ mit der jeweiligen Zuständigkeit Syrien beziehungsweise Irak handele, wurde wiederum vom Führer des ISI, al-Baghdadi, zurückgewiesen, der stattdessen die Bildung einer neuen Organisation namens ISIS (Islamischer Staat Irak und Al-Sham), die sowohl im Irak wie in Syrien operiere, bekräftigte. ISIS gelang es bereits im Laufe von 2013, sich auf Kosten anderer Rebellengruppen in Syrien auszudehnen. Anfang 2014 wurde die Organisation endgültig aus dem AQ-Netzwerk ausgeschlossen.
ISIS ging dann aber einen entscheidenden Schritt weiter. Anfang Juni 2014 trat die Organisation mit einer beeindruckend kampfstarken Armee einen Siegeszug im westlichen Irak an, benannte sich um in Islamischer Staat (IS), jetzt also ohne jede geographische Eingrenzung, und rief das Kalifat mit al-Baghdadi als Scheich, das heißt als Nachfolger des Propheten und damit oberster Führer aller Muslime weltweit, aus. Dieses Vorgehen elektrisierte die internationale Dschihadistenszene. Das Selbstverständnis von AQ, Speerspitze des internationalen Dschihad zu sein, wurde offen abgelehnt, das Kalifat sollte zudem nicht nur utopisches Ziel sein, sondern jetzt sofort realisiert werden. Gruppen und Personen, die sich einem extremistischen, gewalttätigen Islam verbunden sahen, mussten sich ab sofort entscheiden, wo ihre Loyalität oder zumindest ihre Sympathien lagen.
Auf Basis dieser in Kürze geschilderten Entwicklung lassen sich, ein wenig idealisiert, die entscheidenden Unterschiede in Programmatik und Stil zwischen AQ und dem IS benennen:
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Kalifat: Der IS will das Kalifat, eine Theokratie für alle Muslime unter Führung des Nachfolgers des Propheten, jetzt sofort. Für AQ ist das Kalifat dagegen Endpunkt einer längeren Entwicklung.
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Schlachtfeld: Zumindest in der Programmatik ist AQ dementsprechend bis heute dem Kampf gegen den fernen Feind verpflichtet. Zawahiri hat dies 2013 noch einmal bekräftigt. Den IS versteht man dagegen besser als revolutionäres Regime, das versucht, einen Staat nach seinen Prinzipien aufzubauen und seine Ideologie und seinen Herrschaftsanspruch aggressiv durchzusetzen und auszudehnen.
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Andere Glaubensrichtungen: Der IS ist sehr stark von einer antischiitischen Einstellung geprägt. AQ sucht keinen Konflikt mit schiitischen Gemeinden beziehungsweise anderen Glaubensrichtungen.
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Gewalt: Der IS hat von Beginn an exzessive und zur Schau gestellte Gewalt als Markenzeichen entwickelt. AQ hat sich von den IS-typischen Grausamkeiten wiederholt distanziert.
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Führungsrolle: Beide Organisationen beanspruchen die Führung im internationalen Dschihad jeweils für sich.
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Generationenfrage: Zuletzt handelt es sich auch um zwei unterschiedliche Generationen des Dschihad. Während AQ seine Wurzeln noch im Kampf gegen die sowjetische Besetzung Afghanistans hat, resultiert der IS aus den Umwälzungen, die in den letzten dreizehn Jahren im Nahen und Mittleren Osten stattgefunden haben.
Wie hoch ist die Bedrohung?
In Expertenkreisen wird gelegentlich die Meinung vertreten, dass eine Art Wettkampf von AQ und IS drohe, mit dem Resultat, dass eine Eskalation in Häufigkeit und Qualität der Anschläge bevorstehen könnte. Für diese These spricht die Konkurrenzsituation der beiden Organisationen. Wer die Führungsrolle im internationalen Dschihad beansprucht, muss seine Eignung und Befähigung auch unter Beweis stellen. Dies gilt umso mehr, als es hierbei nicht nur um das bloße Ansehen geht, sondern um handfeste Interessen, da Finanzierung und Attraktivität für Rekruten maßgeblich davon abhängen, wie eine Gruppe wahrgenommen wird.
Es gibt aber auch Erwägungen, die in eine andere Richtung weisen. Der IS, wenigstens in seiner derzeitigen Ausprägung, ist abhängig vom Projekt des Kalifats. Hieraus ergibt sich eine Agenda mit einem klaren regionalen Bezug: Irak/Syrien, in zweiter Linie Libyen, Jemen, Afghanistan oder Sinai. Auf diesen Schauplätzen findet der Kampf um das Kalifat tatsächlich statt, nicht in amerikanischen oder europäischen Großstädten. Verheerende Anschläge in Europa oder den USA bedrohen dagegen dieses Kernprojekt. Der IS weiß zudem aus eigener Erfahrung, dass eine Auseinandersetzung mit den USA überlebensbedrohend sein kann. Zwischen 2006, dem Jahr der Gründung des IS, und 2011, dem Jahr des Abzugs der US-Truppen aus Irak, ist es den USA durch ein Paket abgestimmter Maßnahmen von der Zusammenarbeit mit sunnitischen Stämmen über die Herstellung örtlicher Sicherheit durch massiven Militäreinsatz bis zur Ausschaltung des Führungspersonals gelungen, den bei der Bevölkerung zudem verhassten ISI an den Rand seiner Existenz zu bringen – Erfolge, die in den Jahren darauf im Irak wieder verspielt wurden.
Trotzdem ist es Ende 2015 über dem Sinai, im kalifornischen San Bernardino und vor allem in Paris zu Anschlägen mit IS-Bezug gekommen. Bereits 2014 hat der IS mit maximaler Publikumswirksamkeit westliche Geiseln enthauptet und zu „Lone wolf“-Angriffen im Westen aufgerufen. Wie passt das mit der Sicherung des Kalifats zusammen? Der Anschlag in San Bernardino war vermutlich die Tat selbstradikalisierter Attentäter. Vor dieser Art Angriff gibt es kaum einen Schutz; er erlaubt aber nur eingeschränkt eine Aussage über die Strategie des IS selbst. Interessant sind vor allem die Angriffe in Paris und der Bombenanschlag auf die russische Chartermaschine über dem Sinai. Letzterer wurde von der IS-Provinz Sinai verübt, nachdem Russland auf Seiten des Assad-Regimes in den syrischen Bürgerkrieg eingegriffen hatte. Möglicherweise handelt es sich hier also um einen Racheakt, der die Unterstützung in Russland für die Syrienpolitik Putins untergraben und Moskau von einem weiteren Engagement gegen den IS abschrecken sollte. Die Frage, ob/inwieweit die IS-Führung überhaupt selbst beteiligt war, bleibt offen.
In Bezug auf Paris liegen die Dinge anders. Hier sind die Verbindungen nach Syrien hinreichend belegt, sodass tatsächlich von einem Anschlag zumindest mit Einverständnis der IS-Führung ausgegangen werden kann. Denkbar ist, dass es sich auch hier um eine kombinierte Rache-/Abschreckungsmaßnahme in Reaktion auf die französische Beteiligung bei der Anti-IS-Koalition handelte, also um einen klassischen Terroranschlag, der durch Erzeugen von Angst zu einer Änderung der französischen Politik führen sollte. Gleiches dürfte für die Enthauptung der westlichen Geiseln gelten, die sich schon länger in der Gewalt des IS befanden, aber umgebracht wurden, nachdem die USA Anfang August 2014 im Irak eingegriffen hatten. Dies passt nicht nur zu der in dschihadistischen Kreisen verbreiteten Einschätzung, dass der Westen auf Dauer nicht bereit sei, eigene Opfer hinzunehmen, sondern entspricht auch den Botschaften der Videos, die auf das westliche Eingreifen Bezug nehmen.
Wie zielführend derartige Überlegungen sind, ist eine andere Frage. Terroristen haben in der Vergangenheit wiederholt bewiesen, dass sie bei aller taktischen Intelligenz oft von wirklichkeitsfernen Prämissen her denken. Sowohl AQ wie der IS mögen Anschläge also auch dann für eine gute Idee halten, wenn Zurückhaltung die noch bessere Option wäre. Dies gilt umso mehr, als vor allem beim IS die ideologische Komponente in ihrer handlungsleitenden Funktion kaum zuverlässig einzuordnen ist. Apokalyptische Vorstellungen scheinen dort verbreitet zu sein. Zumindest Teile des IS scheinen zum Beispiel auf Basis von Prophezeiungen davon auszugehen, dass die dort genannten „Armeen Roms“, die zeitgemäß als die USA gedeutet werden, im Vorfeld des Jüngsten Gerichts zum Endkampf nach Syrien kommen, um dort vernichtet zu werden, und ordnen ihren Kampf in diesen endzeitlichen Kontext ein. Möglicherweise sucht der IS also sogar den Kampf mit „Rom“, sei es direkt auf dieser religiösen Basis, sei es, weil entsprechende Erwartungen innerhalb der Organisation bestehen.
Unterm Strich und mit Blick auf die jüngsten Anschläge muss die Bedrohung durch den IS auch in Europa und den USA daher als sehr hoch eingeschätzt werden, zumal die Organisation dem Kampf mit dem Westen inzwischen gar nicht mehr ausweichen kann und sowohl in Syrien wie im Irak unter starken Druck geraten ist beziehungsweise nunmehr, wie sich andeutet, auch in Libyen bekämpft werden soll. Die Anschlagsgefahr dürfte also zunächst sogar weiter steigen, sowohl in der Region wie auch im Westen selbst. Je stärker Deutschland sich gegen den IS engagiert, und es kann sich schlecht auf die Rolle eines Trittbrettfahrers zurückziehen, desto wahrscheinlicher wird es ebenfalls in das Fadenkreuz des IS geraten.
Die Bedrohung durch AQ ist dagegen schwieriger einzuschätzen. Einerseits – Stand März 2016 – besteht die Programmatik unverändert fort, und es hat auch Anschläge auf westlichem Boden gegeben, die wahrscheinlich auf AQAH zurückzuführen sind (zuletzt „Charlie Hebdo“), wenngleich nicht klar ist, wie tief die Organisation selbst in Planung und Ausführung wirklich involviert war. Darüber hinaus führt AQIM regelmäßig Angriffe auf westliche Ausländer in der Sahel-Region und Westafrika durch. Auf der anderen Seite ist gerade bei AQAH und al-Nusra mittlerweile ein klarer Fokus auf lokale Erfordernisse, einschließlich der engen Kooperation mit weiteren Akteuren vor Ort, zu erkennen. Dieses pragmatische und erfolgreiche Vorgehen sowie nicht zuletzt die Kooperationsverhältnisse würden durch Verfolgung der klassischen AQ-Agenda erheblichen Belastungen ausgesetzt. Kern-AQ selbst scheint weiterhin vor allem mit dem eigenen Überleben beschäftigt zu sein und fällt daher vermutlich als Akteur aus. Offenbar zirkulieren sogar Gerüchte, wonach Zawahiri erwäge, die Filialen aus ihrem Treueverhältnis zu entlassen und somit AQ als gemeinsames Dach aufzulösen. Als Folge könnten Teile des Netzwerkes zum IS übergehen. Bei aller notwendigen Vorsicht scheint jedoch derzeitig die Bedrohung durch AQ-Anschläge in den westlichen Staaten insgesamt geringer als früher. Es ist allerdings damit zu rechnen, dass die Filialen in Syrien und Jemen immer tiefere Wurzeln schlagen. Was das für die Länder selbst und die Region insgesamt bedeutet, bleibt abzuwarten.
Ausblick: Wie gehen wir mit der Bedrohung um?
AQ hat trotz der schweren Verluste der letzten Jahre eine bemerkenswerte Resilienz und Anpassungsfähigkeit bewiesen. Die Gruppe ist unter starkem Druck, aber sie lebt. Auch der IS hat von 2006 bis 2011 bereits eine schwere Krise überstanden und ist danach neuerlich aufgestiegen. Ähnliches gilt für al-Shabab oder auch die Taliban. Diese Widerstandsfähigkeit geht neben dem Geschick, sich an neue Umstände anzupassen, vor allem auf eine tiefer liegende Bedingung zurück, nämlich die unzureichende oder ganz fehlende Staatlichkeit in den Ländern, in denen diese Organisationen operieren. Hieran wird sich vorerst nichts ändern. Erwartungen, man könne AQ oder den IS endgültig besiegen, sind deshalb unrealistisch. Der Terror bleibt.
So erforderlich, werden sich die Gruppen den Umständen anpassen und sich gegebenenfalls aus einer Protostaatlichkeit zurück zu einer Insurgentenarmee, zurück zu einer reinen Terrorgruppe wandeln und wieder umgekehrt. Die Fähigkeit auszuweichen ist im Falle des IS durch die Gründung mehrerer Filialen noch gestärkt worden. Nicht jede Filiale bedeutet zwingend eine Stärkung; aus europäischer Sicht besorgniserregend aber ist die Tatsache, dass im Sinai und in Libyen zwei der schlagkräftigsten Ableger entstanden sind.
Vor diesem Hintergrund wäre die Vorstellung, dass diese Gruppen irgendwie endgültig zu besiegen wären oder auch neue Gruppen verhindert werden könnten, naiv. An dem zugrundeliegenden Bedingungsgefüge von nicht oder nur schlecht funktionierender Staatlichkeit, über seit Jahrzehnten bestehenden religiösen Strömungen, der Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen – wie etwa den Sunniten im Irak – bis hin zur Verfügbarkeit von Waffen jeder Art wird sich absehbar nichts ändern.
Für den Westen liegt die richtige Antwort auf die Herausforderungen des heutigen Terrorismus daher in einer Neuauflage der Strategie der Eindämmung. Diese Gruppen sind vielleicht nicht endgültig zu besiegen, aber sie können so stark unter Druck gesetzt werden, dass ihre Handlungsfähigkeit erheblich eingeschränkt und, im Falle des IS, der Nimbus von Unbesiegbarkeit und die Dynamik gebrochen wird. Dies erfordert eine breite Mischung aus militärischer Bekämpfung, Unterbindung von Finanzierungsmöglichkeiten, enger Kooperation der Nachrichtendienste, Förderung funktionierender Staatlichkeit und Vermittlung eines glaubwürdigen Narrativs, dass der Westen nicht Krieg gegen den Islam führt.
Es wird weiter zu teils schweren Terroranschlägen kommen – in Afrika, in Asien, aber auch in Europa. So entsetzlich diese Verbrechen sind, gilt es aber auch, sich nicht in eine blinde Eskalation hineintreiben zu lassen. Was die Gefahr durch den Terrorismus betrifft, sind die westlichen Länder, gelegentlicher Rhetorik zum Trotz, nicht in einer existenziell bedrohlichen Situation. Kein Terroranschlag, nicht einmal in der bisher einmaligen Dimension des 11. September, bringt unsere Staaten und unsere Lebensform wirklich in Gefahr. Unsere Gesellschaft kann und muss es ertragen, dass es Tote durch Terrorismus gibt, so wie wir gelernt haben, auf vielen anderen Gebieten ebenfalls viel zu hohe – oft viel höhere – Todeszahlen hinzunehmen, ohne uns hierdurch qua Staat und Gesellschaft bedroht zu sehen.
Dr. Ulf Brüggemann ist Studienreferent an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik.
Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.
Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik | ISSN 2366-0805 Seite 1/5