Treffen der Staats- und Regierungschefs der NATO sind stets so etwas wie der Taktgeber für die Anpassung der Nordatlantischen Allianz an veränderte politische und militärische Rahmenbedingungen. Auch wenn der Begriff „historisch“ mittlerweile nahezu jedem NATO-Gipfel zugeschrieben wird, gibt es nur wenige Treffen dieser Art, die wirklich Wendepunkte markieren. Der Gipfel in Wales im September 2014 war ein solcher Zeitenwechsel; folglich reagierte die Allianz mit einer Reihe weitreichender Beschlüsse zur Verstärkung ihrer Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit. Allerdings gab es nach Wales auch skeptische Stimmen, welche die westliche Schwäche gegenüber russischem Großmachtstreben beklagten. Die Neue Zürcher Zeitung nannte die Ergebnisse von Wales „reine Augenwischerei“, während die Washington Post in ihnen den Beleg für die „zerrütteten Entscheidungsprozesse“ im Bündnis sah. Für das Forbes-Magazin war gerade die vermeintlich russlandfreundliche Haltung Deutschlands für das angebliche Einknicken gegenüber Putins Machtstreben verantwortlich.
Keines dieser Urteile war jedoch zutreffend. Sowohl NATO als auch EU haben ein hohes Maß an Einigkeit gegenüber Russland gezeigt. Die russische Führung hat offenbar sowohl die Handlungsfähigkeit des von ihr verschmähten „dekadenten“ Westens als auch die Entschlossenheit Deutschlands in beiden Institutionen grundlegend unterschätzt. Die NATO wird in Warschau geeint auftreten und mit voraussichtlich sieben Botschaften ihre Bedeutung als zentrale Sicherheitsinstitution untermauern. Bei einigen dieser Botschaften gibt es jedoch Fallstricke – die NATO wird die Verlässlichkeit dieser Signale erst noch beweisen müssen.
1. Die NATO hat die Anpassung an die sicherheitspolitischen Zeitenwende vollzogen
Man mag beklagen, dass die NATO die Anzeichen für eine grundlegende Veränderung russischer Politik – etwa die Putin-Rede 2007 in München oder die Verstärkung der militärischen Fähigkeiten nach dem Georgien-Krieg 2008 – weitgehend ignoriert hatte. Mittlerweile ist aber bündnisweit akzeptiert, dass sicherheitspolitisch wieder die „Artikel-5-Welt“ vorherrscht, in der Verteidigung, Abschreckung von Gegnern und Rückversicherung von Verbündeten nicht mehr nur nominell, sondern auch faktisch die Kernaufgaben der NATO sind und militärisch hinterlegt sein müssen. Folgerichtig wird in Warschau nicht nur der Richtungsentscheidung von Wales folgend der Schwerpunkt auf den Aufbau von militärischen Fähigkeiten in Osteuropa gelegt. Auch politische Kernfragen wie die NATO-Erweiterung oder die Partnerschaften mit Nicht-Mitgliedern stellen sich in der Artikel-5-Welt in anderer Weise. Wenn die NATO nicht mehr, wie in der Vergangenheit, vor allem Krisenmanager und politische Transformationsagentur ist, sondern Instrument der Landes- und Bündnisverteidigung, dann können in absehbarer Zeit nur jene Staaten aufgenommen werden, die von der NATO auch verteidigt werden können. Damit ist de facto mit einer Aufnahme beispielsweise der Ukraine für lange Zeit nicht zu rechnen.
2. Eine Ost-Süd Spaltung der NATO konnte abgewendet werden
Angesichts der gleichzeitigen Bedrohung durch Russland im Osten und durch islamistische Gewalt im Süden (im Mittleren Osten und in Nordafrika) war ein dauerhafter Riss hinsichtlich der Prioritätensetzung in der Allianz vorhergesagt worden. In der Tat gab es heftige Auseinandersetzungen um Ausrichtung, Aufgaben und Ressourcen des Bündnisses zwischen seinen osteuropäischen und den süd- beziehungsweise südosteuropäischen Ländern. Zu einer Lähmung oder zur anhaltenden Handlungsunfähigkeit haben diese Debatten aber nicht geführt. Die rasche Einigung auf die Flüchtlingsmission in der Ägäis oder die Unterstützung der NATO für Jordanien und – indirekt – für den Irak waren positive Signale für den Süden, obgleich der Schwerpunkt der Gipfelentscheidungen auf Osteuropa bezogen sein wird.
Allerdings wird das Problem der unterschiedlichen Bedrohungswahrnehmungen auch nach Warschau bestehen bleiben. In Osteuropa handelt es sich trotz hybrider Ausprägungen im Kern um eine lineare Gefährdung, der mit linearen Reaktionen begegnet werden kann. Dies kann folglich mit einem linearen Narrativ – Bedrohung erfordert konkrete Gegenmaßnahmen – vermittelt werden. Die südlichen NATO-Staaten haben hingegen das Problem, mit ihren Bedrohungswahrnehmungen in der NATO durchdringen zu müssen. Staatszerfall und religiös motivierte Gewalt sind keine linearen Phänomene, auf die eine primär militärische Allianz wie die NATO unmittelbar reagieren kann. Die Balance zwischen Ost und Süd wird ständige und zunehmend stärkere Aufmerksamkeit erfordern. So werden Länder wie Italien stets auf die Solidarität der Osteuropäer in der Flüchtlingsfrage drängen, wenn Osteuropa umgekehrt die Solidarität der gesamten NATO im Falle einer Gefährdung durch Russland erwartet.
3. Die amerikanischen „Commitments“ für Europa sind stark und eindeutig
Ungeachtet der seit 2012 im Rahmen der Hinwendung Amerikas zum asiatisch-pazifischen Raum („Pivot to Asia“) vorhergesagten Abkehr von Europa, hat Washington erstaunlich rasch und engagiert seine Bündnisverpflichtungen in der NATO wahrgenommen. Die Bereitstellung von derzeit 3,4 Milliarden Dollar im Rahmen der „European Reassurance Initiative (ERI)“, die Führung von zwei der vier zu stationierenden Bataillone in Osteuropa oder die Verlegung einer dritten US-Kampfbrigade nach Europa, sind mehr als viele europäische Verbündete erwartet haben. Diese Stationierungen dämpfen auch den Streit im Bündnis, ob die NATO-Truppenpräsenz in Osteuropa dauerhaft („permanent“) oder rotierend („persistent“) organisiert wird: eine adäquate Abschreckung wird sichergestellt, indem zu jedem Zeitpunkt signifikante NATO-Truppen (vor allem amerikanische) in Osteuropa präsent sein werden.
Gefahr droht diesen Verpflichtungen allerdings von politischer Seite, in Gestalt von Anti-Establishment-Bewegungen auf beiden Seiten des Atlantiks. Die AfD in Deutschland oder die Front National in Frankreich lehnen die Idee der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen rundheraus ab und treffen sich darin mit den Hinweisen der russischen Propaganda auf angebliche Gefahren, die von der vermeintlichen US-Dominanz ausgehen würden. Gleichzeitig ist mit dem Präsidentschaftskandidaten Trump in den USA eine Bewegung entstanden, die sich ebenso vehement gegen transatlantische Bündnissolidarität wie gegen die NATO insgesamt wendet. Selbst wenn Trump das Rennen um die Präsidentschaft verlieren sollte wird deutlich, wie viel Überzeugungsarbeit auf beiden Seiten für den Erhalt der transatlantischen Beziehungen erforderlich sein wird. Das gilt insbesondere, da die öffentliche Unterstützung für ein enges europäisch-amerikanisches Verhältnis im Bündnis abnimmt, je weiter man sich geografisch von seinen Ostgrenzen entfernt.
4. Auch Europa stellt mehr Ressourcen zur Verfügung
Der Trend stetig sinkender Verteidigungshaushalte ist gestoppt und in vielen NATO-Ländern umgekehrt worden. Auch in Deutschland ist die Akzeptanz für größere Aufwendungen im Sicherheitsbereich deutlich gestiegen – es dürfte das einzige NATO-Mitglied sein, in dem der Finanzminister eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben anregt. Dennoch steht Deutschland in der Kritik, weil es nach wie vor weit von der NATO-Selbstverpflichtung von einem Zwei-Prozent-Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlands-produkt (BIP) entfernt ist. Derzeit liegt der Anteil in der Bundesrepublik bei 1,19 Prozent und dürfte trotz der Budgeterhöhung auf 1,17 Prozent sinken – schlicht weil das deutsche BIP rascher anwächst. Einige Bündnispartner – allen voran die USA – weisen immer wieder darauf hin, dass Deutschlands Wirtschafts-lage im Vergleich sehr gut sei und die Bundesregierung das Zwei-Prozent Ziel beim letzten NATO-Gipfel in Wales nochmals explizit bestätigt habe.
Deutschland und andere Staaten geben aber stets zu bedenken, dass das Zwei-Prozent Ziel nur wenig über die militärische Leistungsfähigkeit des betreffenden Landes aussagt. Der Umstand, dass Griechenland zu den wenigen NATO-Mitgliedern gehört, die das Soll erfüllen, spricht Bände. Dennoch wird die Kritik an denen, die deutlich unter der vereinbarten Grenze liegen, andauern. Für Deutschland wird langfristig ein Wert von etwa 1,5 Prozent als wünschbar und realistisch gesehen. Dies würde aber erhebliche zusätzliche Mittel erfordern und geht nur, wenn der derzeitige Anstieg über eine längere Periode verstetigt wird. Die von der Verteidigungsministerin geforderte Investitionssumme von 130 Milliarden Euro über einen Zeitraum von 15 Jahren ist damit kein unrealistischer Wert.
5. Die NATO ist politisch handlungsfähig
Die eingangs erwähnte Kritik an „zerrütteten Entscheidungsprozessen“ in der Allianz und an einer Unfähigkeit der 28 Bündnismitglieder, zu einem Konsens zu kommen, hat sich als falsch erwiesen. Nach wie vor tritt die NATO geschlossen gegenüber Russland auf und hat ihre Handlungsfähigkeit stets aufs Neue bewiesen.
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Die Entscheidung über die Ägäis-Mission hat von den ersten deutsch-türkischen Gesprächen bis zur Implementierung durch den NATO-Oberbefehlshaber nur 32 Stunden gedauert.
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Eine Entscheidung über den Bündnisfall nach Artikel 5 kann von den Verfahren her in acht bis zwölf Stunden erfolgen.
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Schweden und Finnland sind eng in die NATO-Prozesse integriert.
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Eine erstmals mögliche Einigung in der Zypern-Krise würde die Möglichkeiten für die Kooperation der NATO mit der EU – etwa mit Blick auf Hybride Kriegführung oder auf die Resilienz von Staaten – erheblich verbessern.
Die Botschaft der politischen Handlungsfähigkeit gilt somit uneingeschränkt.
6. Die Allianz ist militärisch stark und entschlossen
Nicht nur die USA haben ihre militärische Präsenz in Osteuropa erheblich verstärkt, und auch andere Mitgliedsstaaten beteiligen sich an der Verbesserung der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten. Das von Deutschland eingeführte „Framework Nation Concept“ funktioniert und hat die militärischen Fähigkeiten einzelner Länder zu schlagkräftigen Formationen zusammengefasst. Die im Februar 2016 von den Verteidigungsministern beschlossene „Enhanced Persistent Presence“ stellt sicher, das zu jedem gegebenen Zeitpunkt Streitkräfte aus mehreren NATO-Staaten – vor allem aus den USA – in Osteuropa stationiert sind. Dies hat einen erheblichen Abschreckungseffekt, da ein potentieller Aggressor immer mit den Streitkräften verschiedener Mitgliedsländer konfrontiert wäre. Angesichts der weitergehenden militärischen Reaktion des Bündnisses steigt das Risiko einer Eskalation beträchtlich, wodurch sich die Kosten-Nutzen-Einschätzung auf der Angreiferseite dramatisch ändert.
Allerdings sind die bislang getroffenen Maßnahmen bei weitem noch nicht ausreichend. Eine aktuelle Simulation einer Aggression gegen das Bündnisgebiet zeigte, dass die Allianz zwar politisch rasch entscheidet, dass ihre militärische Fähigkeiten aber nicht mit dem Streitkräfteaufwuchs des angenommenen Gegners mithalten konnten. Dies war für die Teilnehmer an dieser Übung mehr als ernüchternd. Auch ist das Abschreckungssignal der in Osteuropa stationierten NATO-Truppen nur glaubwürdig, wenn überzeugend zu vermitteln ist, dass die NATO im Konfliktfall ausreichende Verstärkungskräfte in die Krisenregion bringen kann. Dies ist einer der wesentlichen Schwachpunkte der Allianz, da die einst vorhandenen Transport- und Verlegekapazitäten in den letzten Jahrzehnten fast völlig abgebaut wurden. Hier ist insbesondere Deutschland gefordert, da es aufgrund seiner geografischen Lage zentral für effizientes „Reinforcement“ ist.
7. Die NATO hält das Angebot der Kooperation mit Russland aufrecht
Wie das Iran-Abkommen gezeigt hat, ist eine Kooperation mit Russland im Einzelfall möglich und sinnvoll. Sie ist geradezu zwingend, um eine ungewollte Eskalation auf beiden Seiten zu verhindern. Wenn der Konflikt mit Russland auf absehbare Zeit auch nicht lösbar scheint, so muss er zumindest administriert werden. Sichere Kommunikationswege, vereinbarte Verfahren und ein Mindestmaß an Transparenz müssen im Krisenfall dafür sorgen, dass die Situation nicht ungewollt aus dem Ruder läuft.
Für eine gelegentlich vorgeschlagene (Wieder-) Einbeziehung Russlands in das internationale Konsultationsgremium der G7-Staaten, die dann erneut zur G8 würden, gibt es allerdings keine Grundlage. Schon die Aufnahme Russlands in die G7 im Jahr 1998 war politisch motiviert und entsprach nicht den wirtschaftlichen Realitäten, da sich in diesem Gremium die bedeutendsten Industrienationen zusammengeschlossen hatten. Heute wäre eine solche Wiederaufnahme noch unpassender, gerade in Anbetracht der Tatsache, dass wichtige internationale Abstimmungen im G20 Rahmen erfolgen, dem Russland angehört. Die G7 sind de facto eine „westlich“ orientierte Fraktion der G20 – hierzu gehört Russland mit Sicherheit nicht. Eine Zusammenarbeit mit Russland kann sowohl im NATO-Russland-Rat erfolgen, als auch in den individuellen Kooperationsforen, wie im Fall des Iran die „P5+1“-Gruppe (die fünf ständigen Mitglieder des VN-Sicherheitsrats plus Deutschland).
Der Warschauer NATO-Gipfel wird die in Wales begonnene Umstrukturierung der Allianz auf die Erfordernisse der Artikel-5-Welt fortführen. Er ist aber gleichzeitig nur ein Zwischenschritt in einem längeren Prozess, in dem gerade von den europäischen NATO-Mitgliedern noch erhebliche Anstrengungen geleistet werden müssen.
Karl-Heinz Kamp ist Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.
Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik | ISSN 2366-0805 Seite 1/4