Mehr als vier Jahre nach der Annexion der Krim und zwei Jahre nachdem „post-truth“ von den Oxford Dictionaries zum angelsächsischen Wort des Jahres gekürt wurde, untersuchen die USA und Großbritannien derzeit Einmischungen des Kremls in ihre inneren Angelegenheiten. Viele andere Regierungen ergreifen allmählich Schritte, die diesem Beispiel folgen. Diskussionen, ob die gegenwärtige Regierung der Russischen Föderation eine Bedrohung für die westlichen liberalen Demokratien darstellt, erübrigen sich – die Debatte sollte sich vielmehr der Frage widmen, was dagegen unternommen werden kann. Europäische und amerikanische Fachleute haben bereits zahlreiche Schritte vorgeschlagen, um dem subversiven Einfluss des Kremls entgegenzuwirken. Unter den Empfehlungen finden sich Aufrufe zu mehr Transparenz auf sozialen Medien, zur Unterstützung von Projekten, die tägliche Faktenchecks durchführen, und zur Verbesserung der strategischen Kommunikation westlicher Regierungen und europäischer Institutionen.
Die Resonanz solcher Empfehlungen wird sich aber weiter in Grenzen halten, wenn die spezifischen Eigenheiten der europäischen Länder nicht berücksichtigt werden. Es gilt einzusehen, dass es nicht eine Standardlösung für alle Staaten geben kann. Zum Beispiel wäre es nicht hilfreich, Griechenland überreden zu wollen, einen Vertreter zur East StratCom Task Force des Europäischen Auswärtigen Dienstes zu entsenden, die Fälle von Desinformation in Europa erfasst. Ebenso wäre es überflüssig, der finnischen Regierung erklären zu wollen, dass vielerorts die Medienkompetenz verbessert werden muss. Sinnvoller ist es, sich anzuschauen, wie sich die Phasen der Durchdringung und Einflussnahme des Kremls in europäischen Ländern tatsächlich auswirken, und wie angemessene Reaktionen darauf aussehen können.
In unserer bisherigen Forschungsarbeit haben wir die EU-Mitgliedstaaten nach drei Kriterien kategorisiert, die auch im Prague Manual Verwendung finden: (1) politische Anerkennung der Bedrohung durch russische Einflussnahme, (2) bereits umgesetzte oder in Planung befindliche Gegenmaßnahmen auf staatlicher Ebene und (3) öffentlich bekannte Aktivitäten zur Abwehr nachrichtendienstlicher Tätigkeiten. Zur Einschätzung dieser drei Kriterien setzt das Handbuch auf offen zugängliche Quellen, darunter die Strategie- und Grundsatzdokumente von Regierungen oder einzelnen Ministerien, die Jahresberichte von Nachrichtendiensten und die Verlautbarungen politischer Repräsentanten.
Die Phasen russischer staatlicher Einflussnahme in der Europäischen Union
Um zu verstehen, womit genau wir es in einzelnen Regionen Europas zu tun haben, gilt es das schrittweise russische Vorgehen zu untersuchen. In den meisten europäischen Regionen hat der Kreml die erste Phase der Einflussnahme bereits erfolgreich abgeschlossen: die Identifizierung verwundbarer Eintrittspunkte auf politischer Ebene. Zum Beispiel werden bestehende soziale Spaltungen genutzt, um maßgeschneiderte Narrative und Desinformationskampagnen zu gestalten. Einzelne Politiker werden aufgrund ihrer Ansichten, ihrer finanziellen Situation oder persönlicher Probleme identifiziert, die sie für die Bemühungen des Kremls empfänglich machen könnten. Im Idealfall werden Politiker des Mainstreams anvisiert. Falls die Mitte nicht darauf eingeht, werden rechte und linke Politiker und Aktivisten angesprochen und unterstützt.
Die Hilfe kann finanzieller Natur sein, aber normalerweise wird eine symbiotische Beziehung durch mediale Unterstützung und gegenseitige Legitimierung geschaffen. Politiker werden nach Russland oder in die besetzten Teile der Ukraine eingeladen, alternativ winken bilaterale Treffen mit russischen Regierungsvertretern. Im Austausch erwartet der Kreml eine tolerante Sichtweise auf Russlands aggressive Politik oder Engagement für die Aufhebung der EU-Sanktionen. Der kritische Punkt ist erreicht, wenn der Kreml zum Beispiel einen strategisch wichtigen Geschäftsabschluss zwischen russischen Staatsunternehmen und europäischen Firmen verhandeln kann, üblicherweise in der Energiebranche oder anderen volkswirtschaftlich relevanten Sektoren. Solche Geschäfte können lukrativ erscheinen, aber ihr tatsächlicher Zweck ist in den meisten Fällen politisch.
Nachdem solche Geschäfte abgeschlossen wurden, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Kreml und seine Stellvertreter versuchen, gegnerische Kräfte auf staatlicher und nichtstaatlicher Ebene lähmen. Das letztendliche Ziel ist ein weicher Regimewechsel. Europäische Länder sollen in unterwürfige Verbündete verwandelt werden, die mit inneren Problemen beschäftigt sind und die Russische Föderation und deren Außenpolitik nicht als dringliche Angelegenheit betrachten.
Allerdings ist dieser Prozess, wie in mehreren europäischen Ländern ersichtlich wird, nicht irreversibel. Abhängig von der Phase, in der sich das jeweilige Land befindet, können verschiedene Bereiche der Gesellschaft – Nichtregierungsorganisationen, Medien, die Regierung, aber auch ausländische Geber – Schritte gegen die Einflussnahme unternehmen. Leider wird deren Bandbreite geringer, je weiter der russische Einfluss einen Staat durchdrungen hat.
Empfehlungen für Länder, in denen das Ausmaß der Bedrohung nicht erkannt oder nicht anerkannt wird
In manchen Ländern Europas wird die Bedrohung durch russische Einflussnahme in Strategiedokumenten und politischen Verlautbarungen überhaupt nicht oder nur in einem sehr geringen Maße anerkannt. Diese Situation ist oft das Ergebnis enger Wirtschaftsbeziehungen oder geht auf Sympathien für die Praktiken des Kremls zurück. Oft nehmen auch starke Kräfte im Parlament oder in der Regierung eine kremlfreundliche Haltung ein. Das Fehlen staatlicher Aktivitäten gegen Versuche russischer Einflussnahme ist nicht nur in Ländern zu bemerken, welche die Bedrohung nicht anerkennen. Genauso betroffen sind Länder, in denen aufgrund ihrer geografischen Lage oder historischen Neutralität der Glaube vorherrscht, das Problem sei ausschließlich auf Osteuropa beschränkt und tangiere ihre eigene innere Sicherheit nicht. Wird die Bedrohung in einem Land nicht erkannt oder nicht anerkannt, sind folgende Prioritäten zu beachten:
1. Die wichtigste aktive Rolle muss die Zivilgesellschaft spielen. Die Zivilgesellschaft spielt grundsätzlich eine Schlüsselrolle gegen die Unterwanderung durch den Kreml. In Ländern wie Zypern und Griechenland, wo Russland bereits starke Beziehungen zu den Regierungseliten hergestellt und die Opposition größtenteils zum Schweigen gebracht hat, sind Nichtregierungsorganisationen und Journalisten die einzigen Akteure, die dieser Bedrohung begegnen können und sollten. Diese zivilgesellschaftlichen Aktivitäten sind möglicherweise begrenzt und der Politik nicht willkommen. Aber durch die investigative Auseinandersetzung mit kremlfreundlichen Akteuren und Narrativen, öffentliches Engagement und die tägliche kritische Überprüfung von Behauptungen können sie dazu beitragen, den Umfang des Problems sichtbar zu machen – nicht nur für die nationale Öffentlichkeit, sondern auch international. Gleichzeitig muss die Zivilgesellschaft grundlegende demokratische Prinzipien verteidigen und Volksvertreter dazu bringen, faire Wahlen und die transparente Finanzierung politischer Arbeit zu gewährleisten.
2. Belege für Desinformation sammeln und sie jenen Politikern präsentieren, die sie ernst nehmen. In einigen Ländern, etwa Ungarn und Österreich, arbeitet die Regierung zwar nicht direkt mit der russischen Regierung zusammen, streitet aber ab, dass ein Problem besteht. In solchen Ländern kann die Zivilgesellschaft mit einzelnen Politikern zusammenarbeiten. Wenn diese hinreichende Informationen erhalten, können sie zu größerer Transparenz beitragen und die Kernprobleme in den Medien und anderen politischen Foren benennen. Akteure, wie zum Beispiel Stiftungen, die zu den Gegenmaßnahmen beitragen möchten, sollten sich in solchen Ländern auf das Sammeln von Daten konzentrieren, die zeigen, wie sich Desinformationskampagnen auf die Bevölkerung auswirken und in welchem Umfang sie deren politisches Verhalten beeinflussen.
3. Koordinierung, Arbeitsteilung und gegenseitige Unterstützung. Die Angehörigen der Zivilgesellschaft müssen systematisch und koordiniert vorgehen, um ihre Ziele zu erreichen. Die Kooperation muss nicht offiziell sein, aber zumindest ein Austausch von Informationen, Arbeitsteilung und ein gewisses Maß an strategischer Planung sind unerlässlich.
4. Fehlt der politische Wille, gilt es Resilienz aufzubauen. Durch intensive und systematische Lobbyarbeit könnten die Regierungen in den betreffenden Ländern – wie zum Beispiel Irland oder Belgien – dazu gebracht werden, die Einflussnahme des Kremls auf die Tagesordnung zu setzen und zumindest vorläufige Präventions- und Vorbereitungsmaßnahmen zu treffen. Beispielsweise könnten sie verfügbare rechtliche Instrumente prüfen, die im Falle einer direkten Desinformationskampagne zur Anwendung kommen können. Wenn ein hinreichender politischer Konsens erzielt worden ist, kann die Bedrohung durch russische Einflussnahme in nationalen Strategiedokumenten festgehalten werden.
Empfehlungen für Länder, in denen das Ausmaß der Bedrohung zumindest teilweise anerkannt wird
Oft beginnen EU-Mitgliedstaaten erst, umfassendere taktische oder strategische Gegenmaßnahmen zu ergreifen, wenn sie russische Einflussnahme selbst erlebt haben. Das politische Eingeständnis reicht nicht aus. Regierungen entwickeln erst neue Initiativen, wenn etwa der Verdacht auf Einmischung in Wahlen aufgekommen ist, wie im Falle des Brexit, oder wenn schwerwiegende Desinformationskampagnen ihre inneren Angelegenheiten berührt haben. Letzteres konnte in den Niederlanden nach dem Abschuss des Fluges MH17 über der Ostukraine 2014 beobachtet werden. In Deutschland sind der Cyberangriff auf den Bundestag und der vermeintliche Vergewaltigungsfall „Lisa“ in Berlin Anfang 2016 zu nennen.
5. Es bedarf spezialisierter Institutionen, deren Aufbau angemessen vorbereitet werden muss. Wenn ein Staat seine sicherheitspolitischen Grundsätze, rechtlichen Instrumente und Schwachstellen mit Blick auf russische Einflussversuche geprüft hat und in sicherheitspolitischen Kreisen Konsens über die Bedrohungswahrnehmung hergestellt wurde, müssen dauerhafte Institutionen gegründet werden. Diese sollen neben der Bekämpfung russischer Einflussnahme der Koordinierung der nationalen strategischen Kommunikation dienen. Sie brauchen klar definierte Ziele und Kompetenzen und müssen genau auf die Situation im betreffenden Land zugeschnitten sein. Solche Institutionen können nicht über Nacht geschaffen werden und ihr Zweck muss der Öffentlichkeit klar kommuniziert werden. Normalerweise wären sie dem Außenministerium, dem Innenministerium oder dem Verteidigungsministerium untergeordnet. Idealerweise hätte jedes sicherheitspolitisch relevante Ministerium eine eigene Stabsstelle für strategische Kommunikation (StratCom). Das ist jedoch normalerweise nicht der Fall. Um zu zeigen, dass die Unterwanderung durch den Kreml eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit ist, ist das Innenministerium meist der beste Startpunkt.
6. Abgeordnete sollten die Öffentlichkeit und die Politik sensibilisieren. Auch Abgeordnete sind gefragt. Parlamentarische Ausschüsse können Untersuchungen und öffentliche Anhörungen durchführen, zur Bewusstseinsbildung beitragen und das Verständnis von Art und Umfang des Problems fördern. Die meisten europäischen Parlamente sehen die Einrichtung nichtständiger Untersuchungsausschüsse vor. Abgesehen von Großbritannien nutzt aber bisher kein Land diese Möglichkeit, um Aktivitäten des Kreml zu untersuchen und kremlfreundliche Akteure aufzudecken.
7. Unterstützung für europäische Plattformen ist von entscheidender Bedeutung. Wenn Staaten die Situation ernst nehmen, sollten sie sicherstellen, dass sie Vertreter in die mit russischen Einflussversuchen befassten internationalen Institutionen entsenden, wie zum Beispiel die East StratCom Task Force des Europäischen Auswärtigen Dienstes. Diese ist nach wie vor auf entsandte nationale Fachleute angewiesen und trägt maßgeblich zum Verständnis, zur Aufdeckung und zur Analyse russischer Desinformation bei.
Und was ist mit jenen Ländern, die mit gutem Beispiel vorangehen?
Es gibt eine kleine Gruppe von EU-Mitgliedstaaten, die sich der Bedrohung durch die Praktiken des Kremls seit einiger Zeit bewusst sind. Diese Staaten haben ihre Resilienz effektiv verbessert. Hier sind die politische Anerkennung der Bedrohung, der Umfang staatlicher Gegenmaßnahmen und die Abwehr nachrichtendienstlicher Tätigkeiten klar erkennbar. Staaten wie Litauen und Estland haben erhebliche Ressourcen etwa in die Strategische Kommunikation und die Medienkompetenz investiert, und die Regierungen arbeiten hier systematisch mit der Zivilgesellschaft zusammen. Hier lassen sich bewährte Vorgehensweisen für den Rest der Europäischen Union ableiten.
8. Weitergabe von Kenntnissen und Erfahrungen an weniger sensibilisierte Teile Europas. Vorreiterländer sollten den Erfahrungsaustausch anregen, das Engagement in weniger sensibilisierten Regionen fördern und auf eine besser koordinierte gesamteuropäische Reaktion drängen. Sie könnten auch die systematische demoskopische Erhebungg der am weitesten verbreiteten Narrative der Desinformation in Europa voranbringen. Diese Daten könnten zeigen, wie sich die russischen Methoden von Land zu Land unterscheiden, welche am effektivsten sind, und wie sie sich mit der Zeit ändern.
Schlussbetrachtung
Mehrere europäische Länder, die USA und einige internationale Organisationen haben ihre Bereitschaft gezeigt, europaweit Strategien gegen russische Einflussnahme zu entwerfen, verbessern, umzusetzen und zu unterstützen. Allerdings wird Russland zurzeit eher noch mutiger und mischt sich weiterhin ungehemmt in Europa ein. Der russischen Einflussnahme kann daher nur im Rahmen einer sorgfältig geplanten Reaktion begegnet werden, die auf das jeweilige nationale Umfeld aller EU-Staaten abgestimmt ist und Lücken im bestehenden System schließt. Wenn die eingeleiteten Maßnahmen nicht zu den aktuellen Bedürfnissen des jeweiligen Landes passen, können sie redundant oder sogar kontraproduktiv sein. Das Prague Manual soll hierzu Orientierung geben, indem es grundlegende Prioritäten für verschiedene Regionen Europas und Empfehlungen für politische Entscheidungsträger zumindest grob skizziert.
Veronika Víchová ist Koordinatorin und Analystin des Kremlin Watch-Programms im European Values Think-Tank. Jakub Janda ist Direktor des European Values Think-Tanks. Die Autoren geben ihre persönliche Meinung wieder.
Das Prague Manual ist online zum Download verfügbar unter: https://www.europeanvalues.net/vyzkum/prague-manual/
Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik | ISSN 2366-0805 Seite 1/5