Arbeitspapiere

Welches Dach über Europa? Bodengebundene Luftverteidigung nach der Zeitenwende

3/2024
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Russlands Vollinvasion der Ukraine im Februar 2022 – die sogenannte Zeitenwende – und der seither andauernde Krieg haben durch den massiven Einsatz von Flugkörpern die enormen Fähigkeitslücken in der europäischen Luftverteidigung offengelegt und damit politisches Momentum erzeugt, die Flug- und Raketenabwehr in Europa zu stärken. Deutschland hat dabei mit der European Sky Shield Initiative eine Führungsrolle übernommen. Die koordinierte Beschaffung neuer Luftverteidigungssysteme ist notwendig, aber allein nicht hinreichend, um dem veränderten Bedrohungsumfeld zu begegnen.

Werfer und ein Radargerät des Flugabwehrraketensystems Patriot stehen während der NATO-Mission enhanced Vigilance Activities (eVA) auf der Air Base Sliač/Slowakei, am 29.04.2022.  ©Bundeswehr/Jane Schmidt

Die Bundeswehr nutzt wie viele andere NATO-Armeen das Flugabwehrraketensystem Patriot, hier bei der Mission enhanced Vigilance Activities in der Slowakei Ende April 2022. Foto: Bundeswehr/Schmidt

Am Morgen des 24. Februar 2022 feuerten Russlands Streitkräfte mehr als 160 Flugkörper auf Ziele in der Ukraine ab. Diese Eröffnungssalve zielte maßgeblich darauf ab, die ukrainische Flugabwehr zu neutralisieren, um der russischen Luftwaffe die Kontrolle des Luftraums zu sichern und so den Vormarsch der Bodentruppen auf Kyjiw und an anderen Frontabschnitten zu unterstützen. Auch sollten die Fähigkeiten russischer Präzisionswaffen demonstriert werden, um den Verteidigungswillen der ukrainischen Streitkräfte und Gesellschaft zu brechen und die Staatsführung zu paralysieren. Die Botschaft: Widerstand ist zwecklos.

Seither hat Russland tausende weitere Drohnen, Raketen und Marschflugkörper gegen die Ukraine eingesetzt. Deren Einschläge hinterließen auch in Deutschland Eindruck, denn Politik und Öffentlichkeit stellten fest, dass ein flächendeckender Schutz vor Bedrohungen aus der Luft auch in der Bundesrepublik nicht existiert. Die Fähigkeiten der Bundeswehr, Ballungszentren oder auch nur Hochwertziele, wie kritische Infrastrukturen, gegen Beschuss zu verteidigen, waren ebenfalls begrenzter als weithin angenommen – jedenfalls außerhalb von Fachkreisen. Als Konsequenz der von Bundeskanzler Olaf Scholz konstatierten „Zeitenwende“ rückte die Bundesregierung das Thema Luftverteidigung deshalb schnell ins Zentrum ihrer Bemühungen zur Stärkung der Bundeswehr und der militärischen Unterstützung für die Ukraine.

Im dritten Jahr des russischen Krieges gegen die Ukraine hat das Thema nichts an seiner Relevanz und Dringlichkeit verloren. Durch die Abgabe verschiedener Luftverteidigungssysteme an die Ukraine ist die Materiallage der Bundeswehr heute sogar schlechter als zu Beginn des Jahres 2022. Zugleich hat der massive Einsatz von Geschossen, Flugkörpern und Luftfahrzeugen durch beide Seiten – und ihre Abwehr – neue Erkenntnisse über Einsatz und Wirkung, Nutzen und Grenzen moderner Luftverteidigungssysteme und Einsatzkonzepte produziert. Diese gilt es einzuordnen.

Im Folgenden werden deshalb zunächst konzeptionelle und technische Grundlagen des Themenkomplexes bodengebundene Luftverteidigung erläutert. Der Bezugsrahmen hierfür ist die Bundeswehr im NATO-Bündnis. Danach beschreibt das Papier erste Erkenntnisse, die sich aus Russlands Krieg gegen die Ukraine für die Abwehr von Bedrohungen aus der Luft ableiten lassen. In diesen Kontext fällt ebenfalls eine Einordnung der „European Sky Shield Initiative“, ihrer Bestandteile und der internationalen Reaktionen. Das Papier schließt mit einer Diskussion der NATO-Planungen für die integrierte Flug- und Raketenabwehr nach der Zeitenwende.

Grundlagen: Bodengebundene Luftverteidigung

Als Teil ihres Kernauftrags Landes- und Bündnisverteidigung obliegt der Bundeswehr die Wahrung der Sicherheit des deutschen Luftraums sowie des Luftraums in Einsatzgebieten. In Friedenszeiten überwachen die Radarflug- und Leitzentralen der Bundeswehr den Luftraum Deutschlands. Daneben hält die Luftwaffe zwei Alarmrotten aus Eurofighter-Kampfflugzeugen in ständiger Bereitschaft. Sie sollen unter anderem Flugzeuge, zu denen kein Funkkontakt besteht, abfangen und mittels Sichtzeichen zu kontaktieren versuchen, um terroristische Angriffe oder andere Gefahrenlagen auszuschließen. Gleichsam beteiligt sich die Bundeswehr seit 2005 regelmäßig an der NATO Baltic Air Policing Mission, um Estland, Lettland und Litauen, die über keine eigenen Luftstreitkräfte verfügen, bei der Wahrung ihrer nationalen Souveränität zu unterstützen.

Im Konfliktfall kämen bei der Luftverteidigung sowohl defensive wie auch offensive Operationen und Maßnahmen zum Einsatz, um das gegnerische Luftkriegspotential zu bekämpfen und die Kontrolle über den Luftraum zu erlangen und zu erhalten. Die Luftwaffe schultert dabei den Großteil der Verantwortung, sowohl mit der fliegenden Luftverteidigung durch Kampfflugzeuge als auch der bodengebundenen Luftverteidigung durch Waffensysteme am Boden. Aber auch Heer, Marine und die neue Teilstreitkraft Cyber- und Informationsraum verfügen über Fähigkeiten, um bewegliche Einsatzverbände und Objekte vor Bedrohungen aus der Luft zu schützen oder zu ihrem Schutz beizutragen, zum Beispiel mittels Spezialkräften, seegestützter Flugabwehrraketen oder Störsendern zur elektronischen Kampfführung.

Das Bedrohungsspektrum, mit dem die Luftverteidigung umgehen muss, ist zunehmend komplex und umfasst heute kleinere Flugkörper wie Artilleriegranaten, Raketen und Drohnen ebenso wie Helikopter, Flugzeuge, Marsch- und ballistische Flugkörper. Kein Luftverteidigungssystem kann jedoch allen möglichen Bedrohungen gleichermaßen effektiv (und effizient) begegnen. Je nach Größe des zu schützenden Raums und Art des zu schützenden Truppenverbands oder Objekts, sowie abhängig von der Bedrohung, kommen unterschiedliche Waffensysteme zum Einsatz. Ein Gesamtwirkverbund entsteht, wenn verschiedene Aufklärungsmittel, Führungseinrichtungen und Flugabwehrgeschütze/-raketensysteme integriert werden. Die Fähigkeiten der Bundeswehr zur Luftverteidigung sind dabei Teil der Integrated Air and Missile Defence (IAMD) der NATO, die den politischen und operativen Rahmen für die alliierte Luftverteidigung bildet und ein Luftraumlagebild des gesamten Bündnisgebiets gewährleisten soll.

Die bodengebundene Luftverteidigung umfasst alle landgestützten Systeme für Aufklärung, Führung, Kommunikation und Bekämpfung. Diese sind jeweils für bestimmte Bedrohungen und Entfernungsbereiche optimiert: den Nah- und Nächstbereich (bis zu einer Höhe von 6 km/Entfernung von 15 km), die untere Abfangschicht (bis 35 km/100 km) und die obere Abfangschicht (ab 35 km/100 km); siehe Abbildung 1 unten. So taugt beispielsweise ein System zur Abwehr tieffliegender Drohnen nicht auch zur Bekämpfung ballistischer Mittelstreckenraketen.[1] Letztere erreichen den Scheitelpunkt ihrer Flugbahn in einer Höhe von mehr als 100 km und bewegen sich im Zielanflug mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit. Die Sensoren eines für Drohnenabwehr konzipierten Systems würden solche Raketen nicht erkennen und sein Geschütz oder Lenkflugkörper sie nicht bekämpfen können.

Um einer Vielzahl unterschiedlicher Bedrohungen zu begegnen, braucht es das Zusammenwirken verschiedener Flugabwehrsysteme. Zudem beeinflusst die Geografie eines Einsatzraums die Wirksamkeit bodengebundener Systeme. Berge und Täler führen zu Lücken in der Radarabdeckung, die Flugzeuge oder Marschflugkörper mit geländedatengestützter Navigation ausnutzen können. Auch deshalb gewinnen luft- und satellitengestützte Aufklärungsmittel für die bodengebundene Luftverteidigung zunehmend an Bedeutung.

ABBILDUNG 1. Bodengebundene Luftverteidigung

Die Infografik zeigt die drei Abfangschichten der bodengebundenen Luftverteidigung sowie die darin eingesetzten Waffensysteme Patriot, IRIS-T SLM, Skyranger und Arrow 3.

Quelle: ©Bundeswehr

Integrierte Flug- und Raketenabwehr ist ein Kernelement des Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs der NATO, neben nuklearen und konventionellen Fähigkeiten, ergänzt durch Weltraum- und Cyberfähigkeiten. Militärisch-operative Wirkung entfaltet Luftverteidigung durch den Schutz eigener Verbände und Objekte, wie Flugplätze oder Häfen, um die Effektivität der Streitkräfte in einem Konflikt über Zeit zu erhalten und das Konzentrieren von Kräften für die Operationsführung zu ermöglichen. Aus politisch-strategischer Sicht trägt Luftverteidigung dazu bei, die Angriffsplanungen potenzieller Gegner zu erschweren und die Wirkung ihrer Angriffe – ob auf militärische oder zivile Ziele – zu minimieren. Sie wirkt so konventionellen und nuklearen Erpressungsversuchen entgegen, hält Entscheidungsräume offen und erlaubt, Eskalation bestmöglich zu managen. Dabei ist Luftverteidigung eine dynamische Interaktion: Auf Maßnahmen der einen Seite folgen Gegenmaßnahmen der anderen.[2] Ein hundertprozentiger Schutz des gesamten NATO-Territoriums zu jeder Zeit ist technisch nicht erreichbar; finanziell wäre er ohnehin unerschwinglich. Auch deshalb dürfen offensive Fähigkeiten zur Bekämpfung des gegnerischen Luftkriegspotentials, wie abstandsfähige Präzisionswaffen, die es ermöglichen Ziele in Entfernungen von zum Teil weit mehr als 1.000 km zu bekämpfen, nicht vernachlässigt werden.[3]

Die Priorisierung der bodengebundenen Luftverteidigung seit der Zeitenwende lässt erkennen, wie defizitär – in qualitativer und quantitativer Hinsicht – Deutschlands Fähigkeiten in diesem Bereich zuvor waren, und trotz angestoßener Beschaffungsvorhaben noch immer sind. Besonders drastisch erscheint dieses Defizit, wenn man die vorhandenen Fähigkeiten an den Realitäten des Krieges gegen die Ukraine misst, in dem Russland seit Februar 2022 tausende größere Flugkörper unterschiedlicher Arten und die Ukraine viele hundert Abfangraketen verschossen haben.

Erkenntnisse aus Russlands Krieg gegen die Ukraine

Zu Beginn der russischen Vollinvasion verfügten die Streitkräfte der Ukraine über Luftverteidigungssysteme sowjetischer Bauart, darunter verschiedene Varianten des Systems S-300 für größere Reichweiten und Buk für mittlere Reichweiten sowie Flugabwehrgeschütze und -raketensysteme kurzer Reichweite. Trotz intensiver Angriffe auf ukrainische Flugfelder und Flugabwehrstellungen in den ersten Stunden des Krieges, gelang es den russischen Streitkräften nicht, die ukrainische Luftverteidigung zu neutralisieren und so die Lufthoheit über der Ukraine zu erlangen. Der Luftkrieg ist seither gekennzeichnet von Innovationen und Anpassungsprozessen auf beiden Seiten, die durch die Verfügbarkeit neuer Waffensysteme und der Suche nach asymmetrischen Vorteilen bestimmt sind.[4] Die ukrainische Luftverteidigung leidet unter Abnutzung. Einige mittel- und osteuropäische Staaten waren in der Lage, der Ukraine früh aus eigenen Beständen sowjetisch-produzierte Systeme, Ersatzteile und Munition zur Verfügung zu stellen, um Lücken zu schließen. Mittelfristig bedurfte es aber der Lieferung und Ausbildung an modernen westlichen Systemen, um Nachschub und Versorgung dauerhaft durch westliche Industrieproduktion zu gewährleisten. Da diese gegenüber vergleichbaren sowjetischen beziehungsweise russischen Systemen häufig über leistungsfähigere Radare und Lenkflugkörper verfügen, erlebte die ukrainische Luftverteidigung dadurch auch einen qualitativen Fähigkeitsaufwuchs.

Zu den ersten vom Westen zur Verfügung gestellten Systemen gehörten schultergestützte Fliegerabwehrraketen des Typs Stinger. Sie erreichten die Ukraine bereits wenige Tage nach Beginn der Vollinvasion. Mit ihnen und anderen mobilen Systemen gelangen den ukrainischen Streitkräften einige Abschüsse tieffliegender russischer Kampfflugzeuge. Fortan verzichtete Russlands Luftwaffe auf allzu bodennahe Operationen bemannter Flugzeuge. Deutsche Flugabwehrkanonenpanzer vom Typ Gepard folgten ab Juli 2022. Diese erwiesen sich als besonders effektiv bei der Abwehr russischer Kampfdrohnen und Marschflugkörper. Im Oktober 2022 erhielt die Ukraine das erste Flugabwehrraketensystem IRIS-T SLM. Dieses war ursprünglich von Ägypten bestellt worden, auf Bitte der Bundesregierung stimmte Kairo jedoch einer Umleitung zugunsten der Ukraine zu. In Folge russischer Bombardements ziviler Energieinfrastruktur im ersten Kriegswinter lieferten Deutschland, die Niederlande und die Vereinigten Staaten im Frühjahr 2023 erstmals Patriot-Flugabwehrraketensysteme. Mit ihnen konnte die Ukraine seither teils auch moderne russische Flugkörper wie die Hyperschall-Luft-Boden-Rakete Kinzhal oder den Hyperschallmarschflugkörper Zirkon abwehren.

Im Frühjahr 2024 bereiteten der ukrainischen Luftverteidigung hingegen jahrzehntealte russische Gleitbomben Probleme, weil diese außerhalb der Reichweite der Flugabwehr oder aus russischem Luftraum heraus abgeworfen werden. In russischen Lagern werden zehntausende solcher Bomben vermutet. Eine Strategie, die auf die Abwehr einer jeden Gleitbombe setzt, ist deshalb zum Scheitern verurteilt. Stattdessen müssten die Bomber oder ihre Flugplätze ins Visier genommen werden. Bis Mai 2024 war es der Ukraine jedoch weitgehend untersagt, Waffen westlichen Ursprungs gegen Ziele auf russischem Territorium oder Luftraum einzusetzen. Zwar wurden diese Restriktionen seither zumindest für Grenzregionen gelockert, besagte Flugplätze blieben zunächst aber vielfach weiterhin außer Reichweite. Auch kombinieren Russlands Streitkräfte für Großangriffe immer wieder Waffensysteme verschiedener Arten, um die ukrainische Flugabwehr mit Masse und komplexen Flugmustern zu überwinden. Die Truppen an der Front sehen sich zudem mit einer Übermacht russischer Drohnen konfrontiert. Störgeräte, um deren Funkverbindungen zu kappen, sind Mangelware.

Die ukrainische Flugabwehr erreicht insgesamt gesehen beeindruckende Abfangraten. Die begrenzte Verfügbarkeit von Flugabwehrsystemen und dafür benötigten Lenkflugkörpern ermöglicht es Russland dennoch, weiterhin verheerende Angriffe auf ukrainische Städte, kritische Infrastrukturen und militärische Ziele durchzuführen. Ein Vergleich mit der erfolgreichen Abwehr des iranischen Angriffs mit etwa 300 Flugkörpern auf Israel im April 2024 verdeutlicht die Lücken bei der weniger tief und breit aufgestellten bodengebundenen Luftverteidigung der Ukraine.[5] Auch Defizite bei Aufklärungs- und Führungsfähigkeiten sowie der Mangel an Kampfflugzeugen verhindern bislang einen besseren Schutz gegen russische Luftangriffe. Eine Fähigkeitskoalition für integrierte Luftverteidigung unter der Führung Deutschlands und Frankreichs soll der Ukraine mittelfristig Abhilfe schaffen.

Fähigkeitslücken und die »European Sky Shield Initiative«

Während des Kalten Krieges galt der Luftraum über Westdeutschland als der am dichtesten verteidigte Raum des gesamten NATO-Bündnisgebiets. Mit dem Ende der Blockkonfrontation erfuhr die bodengebundene Luftverteidigung der Bundeswehr dann eine massive Verkleinerung.[6] Die Heeresflugabwehrtruppe wurde aufgelöst und mobile Waffensysteme wie der Flugabwehrkanonenpanzer Gepard und das Flugabwehrraketensystem Roland aus der Nutzung genommen. Zu Beginn des Jahres 2022 verfügte die Bundeswehr noch über zwölf Feuereinheiten Patriot (von vormals 36 in 1990) zur Abwehr von Flugkörpern mit einer Reichweite von bis 1.000 km und in Flughöhen bis 35 km sowie einige mobile Waffenträger Ozelot mit Stinger-Raketen gegen Bedrohungen in maximal 6 km Entfernung. Letztere sollen 2026 außer Dienst gestellt werden. Zum Schutz von Feldlagern vor Raketen sowie Artillerie- und Mörsergeschossen beschaffte die Bundeswehr 2009 zwei stationäre Geschützsysteme MANTIS. Seither wurden aus Bundeswehrbeständen unter anderem drei Patriot-Feuereinheiten (bestehend aus Radar, Feuerleitstand und mehreren Startgeräten für Lenkflugkörper) und einige weitere Patriot-Startgeräte samt Munition sowie 500 Stinger-Fliegerabwehrraketen an die Ukraine abgegeben. Ferner erhielt die Slowakei die beiden MANTIS.

Lücken in Deutschlands bodengebundener Luftverteidigung waren bereits vor der Zeitenwende bekannt und mögliche Lösungen, sie zu schließen, weitgehend identifiziert. Mit dem unter dem Schock der Vollinvasion am 27. Februar 2022 angekündigten und im darauffolgenden Juni verabschiedeten Sondervermögen Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro konnten dann auch Haushaltsmittel für die Beschaffung bereitgestellt werden. Am 29. August 2022 kündigte Bundeskanzler Scholz an der Karls-Universität in Prag an, diese deutschen Beschaffungsvorhaben für europäische Partner öffnen zu wollen, um Kosten zu reduzieren und Synergieeffekte bei Logistik und Ausbildung zu erzielen. Im September 2022 wurden dazu erste Gespräche geführt und der Entwurf einer gemeinsamen Absichtserklärung für eine „European Sky Shield Initiative“ (ESSI) präsentiert, welche am 13. Oktober 2022 am Rande eines NATO-Verteidigungsministertreffens von 15 europäischen Staaten unterzeichnet wurde. Stand Juli 2024 sind der Initiative insgesamt 21 Staaten beigetreten, von denen bislang 13 weiterführende Vereinbarungen mit Deutschland als Grundlage möglicher gemeinsamer Beschaffung von Systemen geschlossen haben.

Im Zentrum der Initiative steht die gemeinsame Beschaffung von Luftverteidigungssystemen (IRIS-T SLM und Skyranger) und Munition (zum Beispiel Lenkflugkörper für das Patriot-System). IRIS-T SLM ist für die Abwehr von Flugkörpern im niedrigeren Spektrum der unteren Abfangschicht unterhalb von Patriot sowie im Nahbereich konzipiert. Die Bundeswehr plant die Einführung für Mitte 2025. Daneben beschreibt die Absichtserklärung ein gemeinsames Interesse an Systemen für den Nächstbereichsschutz. Hier beschafft die Bundeswehr das Flugabwehrkanonensystem Skyranger 30 auf Basis des Radpanzers Boxer. Andere ESSI-Nationen wollen den Skyranger-Turm auf anderen Plattformen nutzen, Ungarn beispielsweise auf dem Kettenfahrzeug Lynx. Darüber hinaus plant die Bundeswehr die Beschaffung eines mobilen Flugabwehrraketensystems mit dem Lenkflugkörper IRIS-T SLS kurzer Reichweite, ebenfalls auf Boxer-Basis. Damit könnte der Schutz von Kampfverbänden in beweglich geführten Landoperationen mit mobilen Flugabwehrkanonen- und Flugabwehrraketensystemen in ähnlicher Weise gewährleistet werden, wie dies zum Ende des Kalten Krieges mit den Systemen Gepard und Roland der Fall war. Mit der kürzlich angekündigten Neuaufstellung der Heeresflugabwehrtruppe bis 2028 sollen diese Fähigkeiten in einer Truppengattung gebündelt werden. Kritik an diesen Säulen der ESSI entzündete sich vor allem an Deutschlands Präferenz für die Beschaffung nationaler beziehungsweise außereuropäischer Systeme anstatt eines Fokus auf anderen europäischen Lösungen, wie es die EU-Mitgliedstaaten als gemeinsames Ziel unter anderem in der sogenannten Erklärung von Versailles im März 2022 vereinbart hatten. Diese Ambition zur Stärkung der europäischen Souveränität scheint hinter der Dringlichkeit des Vorhabens, rasch die Lücken in der Luftverteidigung zu schließen, hintenangestellt worden zu sein.

Deutschlands Beschaffung des Raketenabwehrsystems Arrow 3

Besondere Aufmerksamkeit erfuhr Deutschlands Entscheidung, das amerikanisch-israelische Waffensystem Arrow für die territoriale Flugkörperabwehr zu beschaffen. Mit dem Abfanglenkflugkörper Arrow 3 soll die Bundeswehr erstmalig weitreichende Flugkörper, wie ballistische Mittelstreckenraketen mit mehreren tausend Kilometern Reichweite, abwehren können. Die Systemarchitektur des Abfangkörpers ist darauf ausgelegt, solche Raketen oberhalb der Erdatmosphäre in einer Höhe von etwa 100 km mit einem direkten Treffer zu zerstören. Der Luftwiderstand in niedrigeren Höhen und andere Faktoren schränken jedoch den Einsatz innerhalb der Atmosphäre ein. Das Green Pine-Radar des Arrow-Systems stellt einen deutlichen Fähigkeitsgewinn für die permanente 360-Grad-Luftraumüberwachung der Bundeswehr dar. Im April 2024 bewies Arrow 3 seine Fähigkeiten bei der Abwehr iranischer ballistischer Mittelstreckenraketen im Anflug auf Israel.

Kritikerinnen dieser Beschaffung weisen darauf hin, dass Russland keine solchen Waffensysteme in seinem Arsenal habe, und sehen weiteren Klärungsbedarf.[7] Russlands ballistische Kurzstreckenraketen und Marschflugkörper oder auch die Luft-Boden-Rakete Kinzhal erreichen nicht die exo-atmosphärischen Flughöhen, für die Arrow 3 konzipiert ist. Russische Interkontinentalraketen wiederum bewegen sich außerhalb der Abfangreichweite von Arrow 3. Ohnehin sind diese für die strategische Abschreckung gegenüber anderen Nuklearwaffenstaaten, allen voran den Vereinigten Staaten, vorgesehen, nicht für den begrenzten Gefechtseinsatz in regionalen Konfliktszenarien.[8] Über die Entwicklung neuer ballistischer Mittelstreckenraketen oder die Wiederaufnahme zuvor eingestellter Entwicklungsprojekte ist trotz Russlands umfangreicher Modernisierungsbemühungen in anderen Bereichen seines Flugkörperarsenals und so mancher russischer Andeutung der letzten Jahre bisher nichts bekannt.

Eine Bedarfsanalyse zur Arrow-Beschaffung, die auf konkrete Bedrohungen verweist, hat die Bundesregierung bislang nicht öffentlich vorgelegt. Der Bedarf ergibt sich wohl vor allem aus der Fähigkeitslücke bei der territorialen Flugkörperabwehr und zukünftigen Gefahrenpotenzialen, einschließlich der Proliferation von Raketentechnologien. So hat Russland von Nordkorea und Iran in den letzten Monaten hunderte ballistische Kurzstreckenraketen erhalten. Beide verfügen ebenfalls über Waffensysteme noch größerer Reichweite, die sie Russland oder anderen potenziellen Gegnern der NATO überlassen könnten. So erhielten die Huthi-Rebellen im Jemen in den vergangenen Jahren zahlreiche weitreichende Flugkörper, darunter auch Mittelstreckenraketen, aus dem Iran und setzten sie wiederholt ein. Zudem steht zu befürchten, dass über diese Länder hinaus eine wachsende Anzahl von Akteuren künftig in der Lage sein wird, entsprechende Systeme eigenständig zu entwickeln, während die internationale Rüstungskontrollarchitektur, die dem entgegenwirken soll, zusehends erodiert.

Trotzdem lässt sich fragen, ob die deutsche Arrow-Beschaffung einen effizienten Mitteleinsatz zur Stärkung des Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs im NATO-Bündnis darstellt. Für die Summe von vier Milliarden Euro (oder einem Teil davon, wenn etwa nur das Green-Pine-Radar beschafft worden wäre) hätten auch andere Luftverteidigungssysteme oder offensive Fähigkeiten, um einen Angriff mit der Androhung empfindlicher Gegenschläge von vornherein abzuschrecken, beschafft werden können. Arrow wird zwar als Teil von ESSI beschrieben, es stellt jedoch ein rein nationales Beschaffungsvorhaben ohne Beteiligung anderer europäischer Partner dar. Die Integration in die NATO IAMD-Strukturen soll zunächst nicht erfolgen.

Ausblick für die Integrierte Flug- und Raketenabwehr der NATO

Der aktuell laufende Aufwuchs der NATO-Fähigkeiten ergibt sich zu einem Großteil noch aus den Planungsprozessen der Jahre seit 2014.[9] Schon hier wurde der integrierten Flug- und Raketenabwehr zunehmende Bedeutung für das Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv des Bündnisses beigemessen. Mit den regionalen und dimensionsspezifischen Verteidigungsplänen, die die NATO-Gipfeltreffen in Madrid, Vilnius und Washington seit 2022 beauftragt und dann verabschiedet haben, ergibt sich nochmal ein zum Teil vielfach höheres Ambitionsniveau im Querschnitt aller Fähigkeiten, insbesondere aber bei der Luftverteidigung.[10] Für die Bundeswehr bedeutet dies, dass die bis heute angestoßenen Beschaffungsvorhaben perspektivisch nicht ausreichen werden. Ein weiterer, deutlicher Aufwuchs ist zu erwarten, und der muss finanziell, personell und mit industriellen Produktionskapazitäten hinterlegt werden.

Neben der Beschaffung von Flugabwehrsystemen sollten die europäischen NATO-Bündnispartner aber auch die Aufklärungs- und Führungsfähigkeiten sowie deren Vernetzung und Integration nicht vernachlässigen. In der Ukraine erzielen Patriot und IRIS-T SLM auch deshalb so hohe Abfangquoten, weil bereits ab der Entwicklungsphase von IRIS-T SLM die enge Zusammenwirkung von beiden angedacht war und deshalb Sensordaten weitgehend reibungslos zwischen den Systemen geteilt werden können. Sensorintegration und das taktische Zusammenwirken verschiedener Flugabwehrsysteme sollten auch in der NATO höheren Stellenwert genießen. Nach wie vor tragen die Vereinigten Staaten bei den sogenannten strategischen Enablern und Kräftemultiplikatoren die Hauptlast. Mit der Verschiebung von Amerikas strategischem Fokus Richtung Indopazifik könnten diese für Europa mittelfristig immer weniger zur Verfügung stehen – in einer akuten Krise, beispielsweise um Taiwan, gar recht plötzlich. Ähnlich verhält es sich bei den bereits genannten abstandsfähigen Präzisionswaffen als Teil des Fähigkeitsdispositivs der NATO.

Um all diese Lücken zu schließen, braucht es kreative Ansätze. Die Premierminister Griechenlands und Polens wünschten sich kürzlich eine stärkere Rolle der Europäischen Union beim Aufbau einer europäischen Luftverteidigung über die Unterstützung einzelner Entwicklungsvorhaben hinaus, auch um zusätzliche Finanzmittel zu mobilisieren. Ebenso ließe sich über Beschaffungsmodelle nachdenken, die zwischen Beschaffer und Nutzer unterscheiden und so Anschaffungs- und Betriebskosten zwischen größeren und kleineren NATO-Mitgliedern teilen. Das Rahmennationenkonzept europäischer NATO-Staaten könnte hierfür als Anknüpfungspunkt dienen. ESSI weist in die richtige Richtung, auch wenn sie sich von Beginn an zum Teil scharfer Kritik, wie durch Frankreichs Präsident Macron 2023, und dem Vorwurf der Strategielosigkeit ausgesetzt sah. Seither lässt sich seitens der Bundesregierung eine stärkere Betonung der Rolle von nuklearer Abschreckung und konventionellen Fähigkeiten feststellen, die dieser Kritik Rechnung tragen soll. Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Polen streben in unterschiedlichen Konstellationen die Entwicklung abstandsfähiger Präzisionswaffen an – der Startschuss für eine weitere europäische Fähigkeitsinitiative? In Anbetracht der Herausforderungen braucht es jede Anstrengung, um den europäischen Pfeiler in der NATO und die bodengebundene Luftverteidigung als Dach über Europa zu stärken.

Rafael Loss ist Policy Fellow im Berliner Büro des European Council on Foreign Relations (ECFR).
Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.

Alle Ausgaben der Arbeitspapiere Sicherheitspolitik sind verfügbar auf:
www.baks.bund.de/de/service/arbeitspapiere-sicherheitspolitik

 

[1] Die Missile Defense Agency des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums unterscheidet zwischen ballistischen Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von 300 bis 1.000 km (short range), Mittelstreckenraketen mittlerer Reichweite von 1.000 bis 3.000 km (medium range), Mittelstreckenraketen größerer Reichweite von 3.000 bis 5.500 km (intermediate range) und Interkontinentalraketen mit einer Reichweite von mehr als 5.500 km (intercontinental range).

[2] Calcara/Gilli/Gilli/Marchetti/Zaccagnini (2022): Why Drones Have Not Revolutionized War. The Enduring Hider-Finder Competition in Air Warfare, International Security 46 (4), S. 130-171.

[3] Loss/Mehrer (2023): Striking Absence: Europe’s Missile Gap and How to Close It. Berlin: European Council on Foreign Relations.

[4] Bronk/Reynolds/Watling (2022): The Russian Air War and Ukrainian Requirements for Air Defence. London: Royal United Services Institute.

[5] Der Vergleich bezieht sich allein auf die Anzahl, Diversität und Integration verschiedener Mittel der Luftverteidigung. Unterschiede in den regionalen Geografien der Schauplätze, den Vorwarnzeiten bei Angriffen, den politischen Intentionen der Angreifer und andere Faktoren schränken die Vergleichbarkeit der beiden Fälle darüber hinaus ein.

[6] Hartung (2022): Ein Dach über Europa. Politische Symbolik und militärische Relevanz der deutschen bodengebundenen Luftverteidigung 1990 bis 2014. (Berlin/Boston: De Gruyter).

[8] Kofman/Fink/Edmonds (2020): Russian Strategy for Escalation Management: Evolution of Key Concepts. Arlington, VA: Center for Naval Analyses.

[9] Monaghan/Kjellström Elgin/Bjerg Moller (2024): Understanding NATO’s Concept for Deterrence and Defense of the Euro-Atlantic Area. Washington, D.C.: Center for Strategic and Budgetary Assessments.

[10] Cakirozer (2024): NATO’s Evolving Air and Missile Defence Posture. Brüssel: NATO Parliamentary Assembly (Entwurf 048 DSC 24 E).

Arbeitspapier Thema: 
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NATO
Nuklearwaffen
Rüstungstechnologie
Sicherheitspolitische Debatte
Transatlantische Beziehungen
Verteidigungsindustrie
Verteidigungspolitik
Region: 
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Schlagworte: 
Arbeitspapier
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