Entwicklungsperspektiven des südasiatischen Subkontinents
Südasien durchläuft einen rasanten Prozess der wirtschaftlichen und politischen Neuaufstellung. Neben den klassischen Konfliktlinien bilden sich neue Allianzen, nicht zuletzt angetrieben durch die global-strategische Konkurrenz der USA und China (bei abnehmender Relevanz der USA in der Region). Weitere Akteure wie Saudi-Arabien oder der Iran nehmen ebenfalls Einfluss und tragen zur Lagerbildung bei. Wirtschaftlich ergeben sich große Entwicklungsmöglichkeiten aus den Verschiebungen von der Land-wirtschaft hin zu Industrie und Dienstleistungen. Rund eine Milliarde Menschen Südasiens sind unter 30 Jahre alt und wohnen in Städten. Bei allen Problemen der Urbanisierung profitiert davon vor allem Indien, das immer mehr zum Wachstumstreiber der Region wird und dafür sorgt, dass der Anteil Südasiens an der Weltwirtschaft zunimmt und die globale Bedeutung Südasiens steigt.
Gleichzeitig dürften sich insbesondere der Klimawandel sowie das große Bevölkerungswachstum als Entwicklungshemmnisse und Konflikttreiber erweisen. Die Erderwärmung führt zu extremen Wetter-ereignissen wie Hitzewellen oder Überflutungen – ganze Regionen in Nordindien, Südpakistan und Bangladesch könnten absehbar unbewohnbar werden. Nahrungsmittelproduktion und Trinkwasser-bestände schrumpfen bei gleichzeitig steigenden Bevölkerungszahlen. Die weitere Zerstörung von Fischgründen wird ebenso die Folge sein, wie die Verbreitung von Malaria und Dengue-Fieber. Verteilungskämpfe und klimabedingte Migration werden folglich zunehmen.
Afghanistan, der nördliche Nachbar Pakistans, stand bislang im Zentrum westlicher Aufmerksamkeit. Der internationale Kampf gegen die Taliban und der Versuch einer Stabilisierung des Landes hat bislang je nach Schätzung insgesamt zwischen 1.300 und 1.500 Milliarden US-Dollar verschlungen. Angesichts des nur begrenzten Erfolges des Friedensprozesses und des Wiederaufstiegs radikaler Kräfte im Land werden die westlichen Staaten ihr Engagement mittel- und langfristig zurückfahren. Damit wird auch die politische Relevanz Afghanistans immer weiter abnehmen. Dies wirkt sich wiederum auf die Stabilität Pakistans aus. Globalstrategisch teilt sich die Region in das amerikanisch-indische Lager auf der einen und das chinesisch-pakistanische auf der anderen Seite. Die USA versuchen die wachsende Einflussnahme Chinas durch eine „India-First“ Politik einzuhegen, was dazu führt, dass sich Pakistan noch stärker an China anlehnt. Pekings Angebot eines chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridors (CPEC – Chinese Pakistani Economic Corridor) wird dankbar angenommen, obwohl dies langfristig zu erheblichen Abhängigkeiten führen dürfte, da ein großer Teil der chinesischen Investitionen als Kredite gegeben werden. Andere Länder in der Region haben das aggressive Vorgehen Chinas und dessen Übernahme der Kontrolle über die finanzierten Anlagen bereits erlebt, wenn sie die Verbindlichkeiten nicht mehr begleichen konnten.
Indien wiederum fühlt sich zunehmend durch China und Pakistan eingekreist und schlägt sich noch stärker auf die Seite Washingtons – ohne allerdings die Idee der strategischen Autonomie aufzugeben. Islamabad hegt im Gegenzug wiederum den Verdacht, dass Indien (und China) zunehmend in Afghanistan destabili-sierend agieren, um so Pakistan zu schaden. Deutlich wird aus dieser komplexen Gemengelage vor allem, dass das indisch-pakistanische Verhältnis beziehungsweise die Erbfeindschaft zwischen den beiden Nuklearmächten ein Pulverfass darstellt und damit von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung der Region bleibt. Entscheidend für eine stabile Entwicklung Südasiens ist deshalb immer weniger die Lösung des Afghanistan-Problems, sondern die Frage, wie sich die Beziehungen von Neu-Delhi und Islamabad langfristig entwickeln.
Die Position Indiens
Indien, ein Land mit 1,3 Milliarden Menschen und einem Durchschnittsalter der Bevölkerung von 26 Jahren, ist auf dem Weg zur fünftgrößten Volkswirtschaft der Erde und sieht sich zunehmend auf Augenhöhe mit China und den USA. Obgleich die innenpolitischen Herausforderungen gewaltig sind – so müssen etwa eine Million Arbeitsplätze im Monat geschaffen werden, um mit dem Bevölkerungswachstum Schritt zu halten – bestehen gute Chancen, dass Indien diesen Aufstieg vollbringt. Damit wird Indien ein gewaltiger Markt, gerade im Infrastruktur- und Transportbereich und ist somit von wesentlicher Bedeutung für die deutsche Außen- und Wirtschaftspolitik. Deutschland ist der größte Handelspartner Indiens in der Europäischen Union, steht aber in scharfer Konkurrenz zu Frankreich, Japan oder den USA. Für Indien ist China der destabilisierende Faktor in Südasien. Das gewaltige chinesische Infrastrukturprojekt „One Belt One Road“ (OBOR), in dessen Rahmen China Transportwege bis nach Europa ausbaut und regionale Dominanz schafft, ist für Neu-Delhi vor allem ein Instrument aggressiver chinesischer Machtprojektion.
Das Verhältnis Indiens zu Pakistan ist nicht frei von Widersprüchen. Einerseits betrachtet man Pakistan als „kaum der Rede wert“ und gibt dieser Geringschätzung auch deutlich Ausdruck. Auch der Konflikt um Kaschmir erscheint eher als ein Ärgernis, denn als eine Angelegenheit von vitaler Bedeutung – zumal die reale Bedeutung der von beiden Seiten beanspruchten Gebiete in der Tat eher gering sein dürfte. Andererseits wird der Konflikt um Kaschmir mit aller Härte geführt, und in bestimmten Grenzregionen kommt es fast täglich zu wechselseitigem Beschuss mit Opfern auf beiden Seiten. Allein in 2017 kam es zu 2.300 Zwischenfällen, zu denen auch von pakistanischem Gebiet ausgegangene Terroranschläge in Indien gehören. Die Eskalationsgefahr dieser ständigen Scharmützel ist hoch: Pakistan unterstellt Indien, eine sogenannte „Cold Start-Doktrin“ zu entwickeln, um im Konfliktfall aus dem Stand heraus konventionelle militärische Operationen gegen Pakistan ausführen zu können. Pakistan, das auch bereit ist, Kernwaffen als erstes einzusetzen, droht im Gegenzug mit der weiteren Beschaffung taktisch-nuklearer Waffen, um Indien von einer militärischen Aktion abzuschrecken.
Die Rolle Pakistans
Pakistan ist weder – wie gelegentlich kolportiert – ein Terror-Regime, noch ein „Failed State“. Allerdings hat dieser junge und „unfertige“ Staat das historische Trauma der Teilung von 1947 und den Verlust von Bangladesch immer noch nicht überwunden. Es mangelt an konstitutivem Selbstbewusstsein und an einer Idee, was das Land zusammenhält. Der Nationalstolz sollte in der Vergangenheit etwa durch den Bau der „einzigen islamischen Atombombe“ aufgewertet werden, was zu der unrühmlichen Rolle Pakistans beim illegalen Export von Nukleartechnologie führte. Der Umstand, dass der berüchtigte A.Q. Khan, der ein ganzes Netzwerk von An- und Verkaufsaktivitäten im Bereich nuklearer Waffentechnik aufbaute, heute als pakistanischer Nationalheld lebt, ist für das internationale Ansehen Pakistans ebenfalls nicht förderlich. Das wiederum kratzt am Selbstwertgefühl des Landes.
Die Aufrechterhaltung der Feindschaft zu Indien ist für Pakistan geradezu identitätsbildend und ist die Rechtfertigung für die dominante Rolle des Militärs und des gewaltigen Verteidigungsbudgets von zuletzt 7,8 Milliarden US-Dollar im Jahr. Korruption ist allgegenwärtig und der islamistische Rigorismus (etwa in Gestalt des Blasphemie-Gesetzes) trägt weiter dazu bei, den internationalen Ruf Pakistans zu schädigen. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, für die es zwar einige positive Anzeichen gibt, leidet insgesamt unter den genannten Faktoren sowie unter der falschen Prioritätensetzung der politischen beziehungsweise militärischen Führung. Bildung findet ebenso wenig ausreichende Beachtung wie Geburtenkontrolle. Die Fähigkeit zur Selbsteinsicht in den politischen und militärischen Eliten ist begrenzt. Stattdessen sieht sich Pakistan vor allem als Opfer äußerer Händel, als Sündenbock für die negativen Entwicklungen in Afghanistan und von ehemaligen Partnern (vor allem den USA) im Stich gelassen – bis hin zur Larmoyanz.
Mit einer derzeitigen Bevölkerung von 208 Millionen Menschen, die bis zum Jahr 2050 auf etwa 400 Millionen anwachsen dürfte, wird das gewaltige Problem des Landes offensichtlich: Ohne wirtschaftliche Entwicklungsperspektiven könnte Pakistans politisches System in den nächsten Jahren implodieren und
das Land zum nächsten Schauplatz des Dschihadismus werden lassen.
Deutsche Interessen in der Region
Deutschland hat ein überragendes Interesse an engen Beziehungen zur südasiatischen Führungsmacht Indien. Bereits in den neunziger Jahren hatte die Bundesrepublik Indien als sogenannten „Ankerstaat“ identifiziert, mit dem man in der Region bevorzugt kooperieren wolle. Allerdings hatten sich die damals gehegten Erwartungen nur begrenzt erfüllt, da Indien seine internen Probleme nur langsam in den Griff bekam. Heute ist Indien aufgrund seines gewaltigen Entwicklungspotenzials, seiner demokratischen und
im Großen und Ganzen rechtsstaatlichen Verfasstheit, seines föderalistischen Systems und seiner vergleichsweise starken Zivilgesellschaft der bevorzugte Partner in Südasien. Die Entwicklung eines modernen, prosperierenden Indiens ist im vorrangigen deutschen Interesse.
Allerdings dürfen gute Beziehungen zu Indien nicht automatisch zu schlechten Beziehungen zu Pakistan führen. Ungeachtet der Erbfeindschaft zwischen beiden Ländern darf sich Deutschland auf ein solches Nullsummen-Spiel nicht einlassen. Pakistan als einzige „muslimische Atommacht“ und als Land mit schwacher Staatlichkeit und drastischem Bevölkerungswachstum darf nicht marginalisiert werden – auch, weil bei einem Kollaps des Landes die Gefahr erheblicher Wirtschaftsmigration nach Europa besteht. Ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit für Pakistan ist umso dringlicher, als das Land für die Lösung des Afghanistan-Problems (und für eine langfristige Exit-Strategie) unverzichtbar ist. Eine solche Aufmerksamkeit sollte sich auch in einem hochrangigen Besuchsverkehr nach Islamabad zeigen, gerade weil Deutschland nach wie vor einen sehr guten Ruf in Pakistan genießt.
Dass gute Beziehungen zu sich diametral gegenüberstehenden Konfliktparteien möglich sind, beweist die deutsche Außenpolitik im Nahen Osten, wo die engen Beziehungen zu Israel mit einem guten Verhältnis zu Palästina einhergehen. Ein „Nullsummen-Ansatz“ verbietet sich auch gegenüber China – trotz der wachsenden Spannungen zwischen Peking und Neu-Delhi. Die chinesische OBOR-Initiative sowie der chinesisch-pakistanische Wirtschaftskorridor sind strategische Realitäten in der Region, auf die weder Deutschland noch Europa einen sonderlichen Einfluss haben. Damit verbietet es sich für Deutschland auch, angesichts der Lagerbildung von USA und Indien auf der einen sowie China und Pakistan auf der anderen Seite, dauerhaft Partei für eine Fraktion zu ergreifen. Stattdessen ist eine interessengeleitete Positionierung Deutschlands im Einzelfall erforderlich.
Um diese unterschiedlichen und gelegentlich widerstreitenden Erfordernisse in einen kohärenten Rahmen zu bringen und Kriterien für die Zuweisung von Ressourcen zu entwickeln, bedarf es zunächst einer deutschen und in der Perspektive auch einer europäischen Südasien-Strategie. In einem solchen Konzept könnten Deutschlands Interessen und Ziele definiert und mit den notwendigen politischen, wirtschaft-lichen oder entwicklungspolitischen Schritten in Einklang gebracht werden. Gleichzeitig könnten die Möglichkeiten für ein gemeinsames europäisches Vorgehen ausgelotet werden, was gerade angesichts des Wiedererstarkens des deutsch-französischen Verhältnisses von Bedeutung ist.
Karl-Heinz Kamp ist Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.
Die Ausführungen beruhen auf den Erkenntnissen, welche im Rahmen der Gespräche des Führungskräfteseminars der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Pakistan und Indien im Februar 2018 gewonnen wurden.
Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik | ISSN 2366-0805 Seite 1/4