In einem der größten kommerziellen Erfolge des ägyptischen Kinos, dem Streifen „Terror und Kebab“ aus dem Jahre 1992, versucht der Familienvater Ahmed, gespielt von der Komikerlegende Adel Imam, im be-rüchtigten zentralen Kairoer Verwaltungsgebäude „Mugamma“ eine Schulbescheinigung für seinen Sohn zu erhalten. Verzweifelt über die kafkaeske Bürokratie und die herablassende Behandlung durch Beamte und Staatsvertreter zettelt er ungewollt eine Revolution am Kairoer Tahrir-Platz an, deren zentrale Forderung aus Mangel an politischem Konsens und Programm schließlich zu „Kebab für alle!“ wird.
Als knapp zwanzig Jahre später in Kairo und anderswo in der arabischen Welt die langjährigen Despoten von Massenbewegungen aus den Ämtern getragen worden waren, erschien „Terror und Kebab“ vielen Beobachtern als geradezu prophetisch. Tatsächlich waren die Frustration über staatliche Willkür und Bevormundung, die Heuchelei der Islamisten, der mangelnde Konsens der „Revolutionäre“, die Rolle der Sicherheitskräfte und schließlich die Erkenntnis, dass sich am Ende doch nichts ändert, längst Themen der ägyptischen und arabischen Populärkultur. Oft übersehen wurde allerdings vor und nach den Umbrüchen von 2011, woran sich - im Film wie in der Wirklichkeit – die eigentliche Frustration der Menschen im Nahen Osten entzündete: an der eklatanten Vernachlässigung und dem Missbrauch der Fürsorgepflicht des Staates gegenüber seinen Bürgern. Der Blick auf dieses Versagen von Staatlichkeit - oder Neudeutsch von „Governance“ – im Nahen Osten macht die Umbrüche des sogenannten „Arabischen Frühlings“ ebenso verstehbar wie dessen Scheitern. Darüber hinaus bietet er wichtige und oft übersehene Erkenntnisse zum Verständnis von Radikalisierung und islamistischem Terrorismus.
Postkoloniale Versprechen
Der Nahe Osten trägt bereits seit Jahrzehnten das Etikett einer Krisenregion. Lange ist es her, dass die Menschen in der Region mit Hoffnung und Zuversicht auf ihre politischen Systeme blickten. Doch es gab sie, die Zeit der großen Versprechungen. Insbesondere in den sogenannten „revolutionären“ arabischen Staaten – vor allem Algerien, Ägypten, Irak, Syrien und später auch Libyen und Südjemen - traten nach der Kolonialzeit charismatische politische Führer ans Ruder, die weitreichende politische Utopien verwirklichen wollten. Neue Ideologien, politische Reformen, gesellschaftliche Umverteilungen und wirtschaftliche Großprojekte sollten hier in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts den Weg in die Zukunft weisen. Die Grundlage war ein unausgesprochenes Abkommen zwischen neunen Herrschern und Beherrschten: „Ihr verzichtet auf weitergehende Mitspracherechte und eine Reihe von Grundfreiheiten, wir geben euch dafür, was euch die Kolonialherren vorenthalten hatten: Entwicklung, Freiheit und Würde.“
Doch Nasserismus, Baathismus, Arabischer Sozialismus oder die libysche „Volksmassenrepublik“ lösten ihre Versprechen nicht ein. Etablierte politische Strukturen und traditionelle Partizipationsmechanismen wurden im revolutionärem Eifer weggewischt und machten neuen, oft dysfunktionalen Institutionen Platz. Bereits ab Mitte der Sechzigerjahre herrschten in den meisten Staaten der Region autoritäre Systeme, die weniger ihren Bevölkerungen als vielmehr den jeweiligen ethnischen, konfessionellen, familiären oder militärischen Machteliten dienten. Die Folgen waren offensichtlich. Die Utopien des Panarabismus verblassten ebenso wie das Charisma von Nasser und Bourguiba. Entwicklungsversprechen konnten nicht eingehalten werden und die Lebenssituation breiter Bevölkerungsschichten blieb schlecht. Staatlich gelenkte Medien und Propagandaapparate sorgten dafür, dass die Ursachen für die Probleme externalisiert wurden. Die Folgen des Kolonialismus, der Nahostkonflikt und die Einflussnahme des Westens beeinflussten die Entwicklung der Region tatsächlich oft nicht zum Besseren. Sie waren bei den Regimen aber auch beliebte Platzhalter, um von eigenen Versäumnissen und von Versagen und Verbrechen im Inneren abzulenken.
Die immer offensichtlicher werdenden funktionalen und ideologischen Defizite der postkolonialen arabi-schen Staaten wurden schnell gefüllt. Parallel zum Niedergang der sich als „säkular“ verstehenden arabi-schen Ideologien und Herrscher vollzog sich ab den Sechzigerjahren der Aufstieg der Islamisten. Muslim-brüder und andere drangen nun nicht nur mit Ideen sondern auch mit Bildungsangeboten, Gesundheitsversorgung, zinslosen Krediten und Maßnahmen der Grundsicherung in genau die Bereiche vor, die der Staat vernachlässigt oder preisgegeben hatte und sicherten sich so immer breitere Unterstützung in den Bevölkerungen. Gleichzeitig entstanden auf der Grundlage ägyptischer Ideologie und saudischer Frömmigkeit die Keimzellen dessen, was wir heute als Salafismus und Dschihadismus bezeichnen. Doch die Islamisten trafen überall auf Staaten, die zwar ihre Bürger gering schätzten, nicht aber ihre Sicherheitsapparate. Und so scheiterten die islamistischen Reform- und Umsturzprojekte in den Achtziger- und Neunzigerjahren im Bombenhagel auf das syrische Hama, in den Gefängnissen des ägyptischen Regimes oder im algerischen Bürgerkrieg.
Damals wie heute haben die Regime aus der islamistischen Bedrohung wenig gelernt. Statt den islamisti-schen Heilsversprechern durch eine kluge Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie durch staatliche Fürsorge-maßnahmen das Wasser abzugraben, wurde weiter in Elitenprojekte und vermeintliche Stabilisierungsmaßnahmen investiert. Das Elend weiter Bevölkerungskreise verschärfte sich indessen weiter.
Zwischen Revolution und Albtraum
Die Quittung für das Politikversagen in der Region kam spät, aber sie kam. Dass im Winter 2010/2011 ausgehend von Tunesien der sogenannte „Arabische Frühling“ über die Region hereinbrach, hatte kaum jemand prognostiziert, viele aber hatten etwas geahnt. Zu offensichtlich waren die Auswirkungen staatlichen Versagens mittlerweile in den meisten Ländern geworden. In der Revolutionseuphorie entging den meisten Beobachtern allerdings, dass die jetzt auf dem Tahrir-Platz und in der Avenue Habib Bourguiba erschallenden Rufe nach „Entwicklung, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit“ wie ein Widerhall der postkolonialen Versprechungen klangen. Die Umbrüche des Jahres 2011 müssen daher auch als Absage an das vor vielen Jahrzehnten gemachte Versprechen gelesen werden. Die Machthaber hatten mit der Vorenthaltung von Entwicklung, Freiheit und Würde das postkoloniale „Abkommen“ nicht eingehalten. Jetzt kündigten die Beherrschten ihren Teil der Abmachung auf und forderten den Rücktritt ihrer Machthaber.
Aber Staatsversagen erklärt nicht nur die Ursachen des Arabischen Frühlings, es erklärt auch sein Scheitern. Denn wie im Film „Terror und Kebab“ reichte auch in der Realität der Minimalkonsens der heterogenen Protestbewegungen nicht weit. Die Aktivisten in Kairo, Tunis und Bengasi konnten sich auf nicht viel mehr als den Abgang ihrer verhassten Diktatoren einigen. Sobald Mubarak, Ben Ali und Gaddafi aber aus dem Amt vertrieben waren, zerfielen die Revolutionsbewegungen in konkurrierende und immer bedeutungsloser werdende Gruppierungen.
Übrig blieben die korrupten und dysfunktionalen Systeme, deren Funktionsdefizite ohne den „Starken Mann“ an der Spitze nun umso deutlicher hervortraten. Schlimmer noch, mit der Diskreditierung von Justiz, Medien, Verbänden, Parteien und weiteren Institutionen des Staates blieben in vielen Fällen genau die Akteursgruppen übrig, die hinter den Kulissen schon immer die Fäden gezogen hatten: Sicherheitskräfte, Islamisten, Familienclans und konfessionelle Gruppen. Der arabische Nach-Frühling war und ist daher weitgehend von dem Machtkampf dieser Akteure geprägt: gewaltsam wie in Syrien, Irak, Libyen und Jemen, mit einem (bislang) klaren Sieger wie in Ägypten und mit etwas Hoffnung wie in Tunesien.
Stabile Monarchien und stabile Autokraten?
Und noch etwas fällt auf, wenn man durch die Brille gescheiterter Staatlichkeit auf die Umbrüche und Konflikte des Nahen Ostens schaut: der vordergründige Zusammenhang zwischen Stabilität und Regierungsform. Es waren in erster Linie die arabischen Monarchien, welche die Umbrüche mehr oder weniger unbeschadet überstanden. Beobachter erklären dies oft mit der höheren Legitimität der traditionellen Herrscherhäuser Marokkos, Jordaniens und der Golfstaaten. Diese Perspektive greift jedoch zu kurz. Entscheidend ist nicht die Regierungsform sondern die Funktionalität des Staates.
Die arabischen Monarchien hatten nach der Kolonialzeit keine revolutionären Politikmodelle versprochen, sondern auf Kontinuität und auf traditionelle Mechanismen der Partizipation und Legitimation gesetzt. Mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hatte das wenig zu tun, führte aber in vielen Fällen dazu, dass der Staat und seine Institutionen besser gemanagt wurden. Das Ergebnis zeigt der Vergleich von Marokko und Ägypten. Beide Länder kennzeichnen ähnliche Probleme, Herausforderungen und Potenziale. Aber während Marokko selbst in entlegenen Landesteilen eine halbwegs funktionierende Infrastruktur aufgebaut hat, investiert Ägypten allzu oft in wenig sinnvolle Prestigeprojekte und überlässt die Menschen im Nildelta, im Nordsinai und in Oberägypten weitgehend sich selbst.
Der hier konstatierte Zusammenhang zwischen Krise und staatlicher Funktionalität heißt für die Zukunft der arabischen Regime zweierlei. Erstens sind auch die Monarchien nicht vor Massenprotesten und Umbrüchen sicher. Die Unruhen in Bahrain 2011 haben hiervon eine Vorahnung vermittelt. Sollten auch die Monarchien nicht mehr in der Lage sein, zumindest die grundlegenden Bedürfnisse ihrer Bürger zu befriedigen und gesellschaftliche und soziale Konflikte zu moderieren, dürften hier der nächste Arabische Frühling vor der Tür stehen. Zweitens aber erweist sich auch die Hoffnung auf „stabile Diktaturen“ als gefährliche Illusion. Für viele in der Region, aber auch in Europa, verspricht nach den Verwerfungen und Katastrophen der vergangenen Jahre allein die harte autokratische Hand Hoffnung auf Ruhe und Stabilität. Diese Hoffnung ist nicht nur falsch – sie ist auch gefährlich. Denn es waren gerade die Diktatoren und Autokraten, die ihre Länder in Aufstände und Bürgerkriege getrieben haben. Die Lage der Menschenrechte ist in Ägypten etwa unter Präsident Sisi schlimmer als sie unter Mubarak jemals war. Es mag nur ein Wortspiel sein, dass der Name Sisi herauskommt, wenn man die Abkürzung der Terrormiliz ISIS rückwärts liest. Aber es zeigt, dass Autoritarismus und Islamismus zwei Seiten derselben Medaille sind.
Der Gottesstaat versagt nicht
Der Aufstieg des sogenannten „Islamischen Staats“ zunächst im Irak und später in Syrien war ebenfalls eine unmittelbare Folge staatlichen Versagens. Sein Entstehen erklären viele Experten mit der Zerschlagung staatlicher Strukturen infolge der US-geführten Intervention 2003. Die Eroberung Mossuls durch einige Hundert ISIS-Kämpfer im Juni 2014 war allerdings nur möglich, weil Iraks Herrscher Maliki die sunnitischen Bevölkerungsgruppen im Norden des Landes mit seiner schiitischen Klientelpolitik gegen sich aufgebracht hatte. Auch in Syrien stieß ISIS vielerorts auf offene Türen. Denn der „Islamische Staat“ erfüllte oft tatsächlich jene staatlichen Funktionen, die von den bisherigen Machthabern vernachlässigt worden waren: Gesundheitsversorgung, soziale Sicherung, eine korruptionsfreie Verwaltung und ein rigides Rechtssystem. Selbst Skeptiker des von ISIS errichteten Terrorregimes bescheinigten dessen brutaler Law-and-order Politik eine gewisse Effizienz. Während man im Westen darüber spekulierte, wie „islamisch“ ISIS sei, spielte für die Menschen vor Ort vor allem eine Rolle, wie „staatlich“ ISIS ist und war.
Der „Islamische Staat“ wurde nur möglich, weil der Assad-Staat und der Maliki-Staat (und vor ihm die US-amerikanische Übergangsregierung und der Hussein-Staat) versagt hatten. ISIS stellte den despotischen und korrupten Regimen der Region ein Modell entgegen, das nicht nur eine eschatologische Heilserwartung barg sondern auch staatliche Fürsorge und administrative Funktionalität versprach und den bestehenden Staaten zugleich die Existenzberechtigung absprach. Das von ISIS ausgerufene Kalifat vermittelte eine simple aber wirkmächtige Botschaft in einer Region, in der Staatsversagen endemisch ist: Ein von Gott gewollter Staat kann nicht versagen. Religiöser Fanatismus und das Versprechen staatlicher Funktionalität verstärkten sich so gegenseitig und trugen ganz erheblich zur Anziehungskraft von ISIS bei.
Für den Kampf gegen ISIS und seine möglichen Nachfolgeorganisationen bedeutet dies, dass nicht nur ihren religiös-ideologischen Botschaften sondern auch ihren weltlichen Angeboten etwas entgegengesetzt werden muss. Es war daher richtig, dass die internationale Koalition gegen ISIS von Beginn an den Mythos der funktionalen Überlegenheit des „Islamischen Staats“ durch Austrocknung von Finanzierungsquellen und durch Zerstörung von Infrastruktur bekämpft hat. Wenn der ISIS momentan auf dem Rückzug ist, dann weniger, weil seine Ideologie an Anziehungskraft verloren hat, sondern vor allem weil seine „Staatlichkeit“ versagt.
Auswege: die Stärkung von Staatlichkeit
Nicht in der Stärkung autoritärer Regime liegt also der langwierige und schwierige Ausweg aus der Misere des Nahen Ostens, sondern in der Stärkung funktionaler Staatlichkeit. Sicherlich haben eine Waffenruhe und die Herstellung von Sicherheit und Stabilität in Syrien, Irak, Libyen und Jemen momentan absolute Priorität. Aber mittel- und langfristig muss hier – ebenso wie in Ägypten, Algerien und anderswo – eine funktionierende Verwaltung, ein gerechtes Sozial-und Wirtschaftssystem und eine effiziente öffentliche Infrastruktur aufgebaut werden, die nicht dem Klientelismus und der Patronage, sondern allen Bürgern gleichermaßen dienen. Nur so lassen sich sowohl autoritärem Machtmissbrauch als auch islamistischen Heilsversprechen entgegenwirken und langfristig demokratische und rechtsstaatliche Strukturen und Verfahren etablieren.
Dr. Andreas Jacobs ist Koordinator für Islam und Religiösen Extremismus bei der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin und war von 2013 bis 2016 Research Advisor am NATO Defense College in Rom. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.
Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik | ISSN 2366-0805 Seite 1/4