Historischer Tiefpunkt der türkischen Beziehungen zu EU und NATO
Nach dem gescheiterten Militärputsch im Juli 2016 und der harschen Reaktion der türkischen Regierung hat das politische Ansehen der Türkei in der europäischen und transatlantischen Sicherheitszusammenarbeit einen historischen Tiefpunkt erreicht. In den vergangenen Monaten haben sich die Beziehungen der Türkei zur Europäischen Union, die bereits seit der ersten Bekundung eines türkischen Beitrittsinteresses in den 1960er Jahren eine komplizierte Angelegenheit ist, merklich verschlechtert. In der Frage, wie nach dem Putschversuch miteinander umzugehen ist, herrschen gegenseitige Schuldzuweisungen vor. Die türkische Beziehung zur NATO hat sich ebenfalls zunehmend verschlechtert. Bereits seit einiger Zeit ist die Türkei enttäuscht von der Zurückhaltung des atlantischen Bündnisses im Umgang mit der wachsenden regionalen Instabilität an der Grenze zur Türkei. Auch als Reaktion darauf hat Ankara die Bedeutung der eigenen NATO-Mitgliedschaft vom Inbegriff türkischen Engagements in der euro-atlantischen Sicherheitsgemeinschaft herabgestuft zu einem Mittel, das vor allem zur Hervorhebung der politischen Stabilität des Landes und damit der Attraktivität der Türkei als Investitionsstandort nützlich ist. Schließlich diente bisher insbesondere das stetige Wachstum der türkischen Wirtschaft als Legitimation der Regierung Erdoğan.
Auch die anderen NATO-Mitgliedsstaaten haben eine deutlich distanziertere Haltung gegenüber dem Verbündeten Türkei eingenommen. So haben der gescheiterte Putschversuch und dessen Nachwirkungen das Vertrauen des wichtigsten NATO-Mitglieds USA in die Türkei beeinträchtigt, und es bleibt abzuwarten, inwieweit die neue US-Regierung überhaupt Interesse daran hat, mit der Türkei – oder anderen europäischen Verbündeten – im Rahmen der NATO zusammenzuarbeiten. Zugleich ist davon auszugehen, dass führende europäische NATO- und EU-Mitglieder wie Frankreich und Deutschland eine wesentlich reserviertere Haltung gegenüber der Türkei im Hinblick auf die EU-Beitrittsverhandlungen sowie innerhalb des Nordatlantikrates einnehmen werden.
Türkei nimmt SCO als Alternative für die Sicherheitskooperation in den Blick
Angesichts des zunehmend schwierigen Verhältnisses zu EU und NATO hat die Türkei mit der Suche nach Alternativen in Sachen Sicherheitszusammenarbeit begonnen – die allerdings äußerst begrenzt scheinen. Zwar war die Türkei einer der Gründerstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und des Türkischen Rates, jedoch sind diese Organisationen inzwischen weitestgehend inaktiv. Vergangene Versuche, die Beziehungen zur Arabischen Liga zu vertiefen, haben kaum zu Ergebnissen geführt, und diese Option ist nun de facto vom Tisch, nachdem Ankara während des Arabischen Frühlings wiederholt auf das falsche Pferd gesetzt und ein Durcheinander in der eigenen Nahostpolitik verursacht hat. Aufgrund der begrenzten Anzahl an Optionen hat sich die Türkei der eurasischen Sicherheitskooperation zugewandt, insbesondere der 2001 gegründeten und seither von China und Russland gemeinsam geführten Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO).1 Das Programm der SCO im Bereich der Sicherheitszusammenarbeit konzentriert sich primär auf Grenzmanagement und Terrorismusbekämpfung, jedoch führen die Mitgliedsstaaten ebenfalls gemeinsame jährliche Militärübungen (sogenannte Friedensmissionen) durch. Bereits seit 2012 ist die Türkei Dialogpartner der SCO und bekundete seit 2013 wiederholt ihr Interesse, den Status eines Beobachters oder gar eines Vollmitglieds in der SCO zu erhalten. Erst kürzlich, im November 2016, erwähnte Präsident Erdoğan zuletzt öffentlich die Idee einer Vollmitgliedschaft in der SCO.
Angesichts der türkischen Charmeoffensive gegenüber der SCO sollten bei der EU und den USA die Alarmglocken schrillen. Noch immer hat die Türkei einen hohen strategischen Wert für Europäer und Amerikaner hinsichtlich des Umgangs mit einer Vielzahl regionaler sicherheitspolitischer Herausforderungen. Es ist daher für die EU-Mitgliedstaaten von größter Bedeutung, dass das im März 2016 geschlossene Flüchtlingsabkommen zur Beendigung der irregulären Migration mehrheitlich syrischer Asylbewerber aufrechterhalten wird. Nach beiderseitigen Vorwürfen, gegen das Abkommen verstoßen zu haben, droht die Türkei nun damit, es gänzlich aufzukündigen. Gleichzeitig könnten die türkischen Bestrebungen hin zu einer strategischen Neuausrichtung die Notwendigkeit positiver Beziehungen zu Brüssel weiter reduzieren. Des Weiteren befinden sich in der Türkei diverse wichtige Militäreinrichtungen der NATO, denen bei der Fähigkeit des Bündnisses zur Machtprojektion im Nahen Osten eine entscheidende strategische Bedeutung zukommt. Auch ist die Türkei in der jüngsten Vergangenheit zu einem der wenigen verbliebenen Kommunikationskanäle des Westens mit Russland in Sachen Syrien-Strategie geworden, obgleich sich zunehmend die Frage stellt, inwieweit türkische und weiterreichende transatlantische Strategieinteressen in diesem Kontext deckungsgleich sind.
Zur westlichen Besorgnis über die türkische Annäherung an die SCO vermag noch beizutragen, dass der Zeitpunkt für eine mögliche Vertiefung der Beziehungen zur SCO kaum besser gewählt sein könnte, denn die Organisation hat unlängst einen Erweiterungskurs eingeschlagen, und Pakistan sowie Indien bereiten schon ihren Beitritt im kommenden Jahr vor. Als weiteren Schritt treibt Moskau bereits den Beitritt Irans unmittelbar nach dem Ende der internationalen Sanktionen voran. Blickt man über einen möglichen Beitritt Irans hinaus, so könnte die medial vielbeachtete Wiederannäherung zwischen Putin und Erdoğan auf eine russische Aufgeschlossenheit gegenüber der Türkei als nächstem Beitrittskandidaten im Rahmen der SCO-Erweiterung hindeuten. Wenngleich dies häufig in türkischen und westlichen Medien so dargestellt wird, ist Russland jedoch nicht der wichtigste Akteur, wenn es um die Entwicklung Ankaras zukünftiger Rolle in der eurasischen Sicherheitskooperation geht.
Die türkischen SCO-Ambitionen arbeiten China in die Hände, aber mangelndes strategisches Vertrauen dämpft Pekings Begeisterung über eine engere Zusammenarbeit zwischen der SCO und der Türkei
Die SCO ist eine konsensorientierte Organisation, deren einflussreichstes Mitglied wohl weiterhin China sein dürfte. Nachdem Peking für einige Zeit eine zögerliche Haltung zu diesem Thema eingenommen hatte, ist die Volksrepublik in letzter Zeit zu einem Befürworter der SCO-Erweiterung geworden, da sie ihre ambitionierten Pläne einer „Neuen Seidenstraße“ auf diese Weise zu ergänzen gedenkt. Darüber hinaus ist die chinesische Führung selbstbewusst zu dem Schluss gekommen, dass die SCO-Erweiterung nach Südasien eher Chinas Einfluss in dieser Region stärken wird als lediglich seine Machtposition innerhalb der Organisation zu schwächen. Insofern ist die sich entwickelnde chinesische SCO-Politik Teil eines breiter angelegten Versuches, den regionalen Einfluss der Volksrepublik durch die Schaffung einer vielschichtigen und flexiblen regionalen Sicherheitsarchitektur zu stärken. Als Teil dieser Strategie ist auch Pekings Versuch zu werten, die zuvor weitestgehend untätige Konferenz über Interaktion und vertrauensbildende Maßnahmen in Asien (CICA) mit neuem Leben zu füllen, zu deren Gründern auch die Türkei zählt. In dieselbe Richtung zielen neue minilaterale Ansätze, zum Beispiel ein Koordinationsmechanismus zur Terrorismusbekämpfung gemeinsam mit Pakistan, Afghanistan und Tadschikistan.
Obgleich Peking offiziell einer Erweiterung des Kreises der SCO-Mitglieder und -Beobachter grundsätzlich positiv gegenüber eingestellt ist, bleibt das derzeitige Kernziel die Integration Indiens und Pakistans in die Organisation. Dies ist auch einer der Gründe dafür, dass China die türkischen SCO-Ambitionen bislang mit strategischer Zurückhaltung aufgenommen hat. Andere, noch grundlegendere Hindernisse hängen mit der Art der bilateralen Beziehungen zwischen der Volksrepublik und der Türkei, Peking Vorstellungen in Bezug auf die Rolle der SCO in der eurasischen Geoökonomie sowie Chinas Risikovermeidungsstrategie zusammen. Dementsprechend fiel auch der Kommentar des chinesischen Außenministeriums zum neuerlichen Interesse der Türkei im vergangenen November erwartungsgemäß unverbindlich aus. Das Ministerium erklärte lediglich Chinas hohe Wertschätzung für die Türkei als Dialogpartner der SCO und stellte die genaue Prüfung einer möglichen engeren Kooperation in Aussicht. Aus chinesischer Perspektive hat sich die Beziehung der Türkei zur SCO seit 2010 vor dem Hintergrund einer Vertiefung der bilateralen strategischen Partnerschaft mit Ankara entwickelt, bei der speziell in Sachen Wirtschaftsbeziehungen deutliche Fortschritte erzielt worden sind. Die sicherheitspolitischen Beziehungen bleiben indes weiterhin eingeschränkt und kompliziert, was nicht zuletzt dem Umgang mit den Uiguren und dem gescheiterten Erwerbsversuch eines chinesischen Raketenabwehrsystems im Milliardenwert durch die Türkei Ende 2015 geschuldet ist.
Was die Bewertung der türkischen Intentionen mit Blick auf die SCO betrifft, so sehen die meisten chinesischen Strategen das Engagement der Türkei sowie die Aussichten des Landes auf eine Vollmitgliedschaft in der SCO weiterhin skeptisch, wenngleich aus ihrer Sicht eine außergewöhnliche Gelegenheit zur Entwicklung umfassenderer Beziehungen zwischen der Türkei und der SCO sowie zwischen China und der Türkei besteht. Folglich widersprechen chinesische Beobachter der These, dass Ankaras Interesse an der SCO zwangsläufig einen Wechsel der Türkei aus dem westlichen ins östliche Lager bedeute. Tatsächlich herrscht in Peking die Sichtweise vor, dass Erdogans SCO-Rhetorik in erster Linie als Trumpf bei Gesprächen mit der NATO, den USA und der EU diene. Ferner gehen chinesische Experten für gewöhnlich davon aus, dass die türkische Annäherung an die SCO vorwiegend durch Ankaras Wiederannäherung an Russland motiviert sei. Letztendlich scheinen sich chinesische Analysten sicher zu sein, dass die neuorientierte Diplomatie der Türkei keine Neuausrichtung der türkischen Außenpolitik bedeute, sondern lediglich die strategischen Optionen und die Unabhängigkeit des Landes erhöhe. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass die chinesische Führung in der absehbaren Zukunft gegenüber dem Westen einen Konfrontationskurs, der eine Nutzung der türkischen SCO-Ambitionen zur Untergrabung des transatlantischen und europäischen Sicherheitsrahmens beinhalten würde, möglichst vermeiden wird. China hat sich bislang in Reaktion auf die entschieden konfrontative, antiwestliche Haltung, die Moskau und Teheran als Position der SCO durchsetzen wollen, weitgehend neutral verhalten. Peking beabsichtigt, die SCO als effektives Mittel zur strategischen Stabilisierung vor der eigenen Haustür zu etablieren, nicht als eine antiwestliche, ideologiebasierte Vereinigung. Tatsächlich besteht aus Sicht Chinas aktuell kein grundsätzlicher Widerspruch zwischen einer Vertiefung der türkischen Beziehungen mit der SCO und dem Fortbestehen der türkischen NATO-Mitgliedschaft sowie des Status als EU-Beitrittskandidat. Dessen ungeachtet würde China jedoch sicherlich auf lange Sicht eine Konsolidierung und Ausdehnung des Einflusses der SCO sowie eine langsame Erosion der Effektivität US-geführter Sicherheitsbündnisse begrüßen. Ohne eine türkische Vollmitgliedschaft in der SCO zu unterstützen, wird die chinesische Führung vorrangig die Zusammenarbeit im Handel und im Energiebereich intensivieren und die Türkei auf eine Rolle als zentraler Knotenpunkt der neuen „Seidenstraßen“ an Land und auf See vorbereiten. Trotz Befürchtungen, die Türkei unterstütze – so die offizielle chinesische Sichtweise – (uigurische) Terroristen, könnte die chinesische Staatsführung letztlich beabsichtigen, die SCO als ein Mittel einzusetzen, um die Türkei in eine Partnerschaft zur Terrorismusbekämpfung in der zentralasiatisch-kaspischen Region zu chinesischen Bedingungen zu drängen. Chinesische Experten beobachten zudem aufmerksam die türkische Rolle im Nahen Osten und in Syrien, wodurch sie sich eine Verbesserung der Kommunikation und Kooperation mit Ankara erhoffen, die wiederum den chinesischen Entscheidungsträgern die Anpassung der eigenen Nahostpolitik erleichtern soll. Zum derzeitigen Zeitpunkt herrscht jedoch noch ein grundsätzlicher Mangel an gegenseitigem strategischen Vertrauen. Peking betrachtet Ankaras ostwärts gewandte Politik als noch unausgereift und ambivalent.
Vor diesem Hintergrund wird China gegenüber einem möglichen Ersuchen der Türkei, Beobachterstatus bei der SCO zu erhalten, eine offene, aber vorsichtige Haltung einnehmen und auf festgelegte Abläufe, ein schrittweises Verfahren, strenge Kriterien sowie einen langwierigen Prüfprozess verweisen. Auch ist es nicht unwahrscheinlich, dass China einen türkischen Antrag auf Mitgliedschaft in der SCO rhetorisch unterstützen könnte (ohne sich dabei festzulegen), da dies ein Ausloten internationaler Reaktionen und eine Bekräftigung des chinesischen Narrativs der „Bündnisfreiheit“ sowie des stufenbasierten Ansatzes Chinas zur Schaffung regionaler Sicherheitsarchitekturen ermöglichen würde. Langfristig wird Pekings Haltung sehr stark von den Begleitumständen abhängen, zu denen Russlands veränderliche Präferenzen und Verhaltensweisen sowie der Grad an Ernsthaftigkeit und Verlässlichkeit einer etwaigen Hinwendung der Türkei gen Osten zählen.
Die SCO-Pläne der Türkei unterstreichen Chinas wachsenden Einfluss auf die europäische Sicherheit
Mit Blick auf Pekings Position in der Sache ist es wahrscheinlich, dass die türkische Integration in die SCO vorerst nicht über den Beobachterstatus hinausgehen wird. Dennoch stellt die bloße Tatsache, dass Ankara mehr denn je entschlossen scheint, eine Vertiefung der Beziehungen zur SCO in Erwägung zu ziehen, eine beträchtliche Herausforderung für die bestehende europäische Sicherheitsarchitektur und die transatlantische Sicherheitszusammenarbeit dar. Dass sich die Türkei aktuell mit Möglichkeiten zur engeren Zusammenarbeit mit der SCO befasst, wird kaum zu einer Verbesserung der zunehmend schwindenden Chancen einer EU-Mitgliedschaft führen. Es wird den mittel- und osteuropäischen EU- und NATO-Mitgliedsstaaten missfallen haben, zu erfahren, dass ein EU-Beitrittskandidat beziehungsweise „einer der ihren“ eine systematischere Kooperation mit einer Sicherheitsorganisation in Betracht zieht, deren Entscheidungsprozesse maßgeblich von Moskau beeinflusst werden. Russland wird in den Verteidigungsweißbüchern nahezu aller EU- und NATO-Mitglieder als Bedrohung aufgeführt. Sollte die Türkei also in der Zukunft ernsthaft mit dem Gedanken eines SCO-Beitritts spielen, wäre eine tiefe Kluft innerhalb der NATO kaum zu verhindern, und eine mögliche EU-Mitgliedschaft des Landes würde noch weiter in die Ferne rücken.
Das Ausmaß der türkischen Annäherung an die SCO könnte ebenso das Kräftegleichgewicht und den Einfluss liberaler Demokratien innerhalb der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) als einer weiteren Säule der europäischen Sicherheitsarchitektur verändern. Insofern könnte eine weitere Annäherung zwischen Türkei und SCO zu einer veränderten Dynamik innerhalb der OSZE führen, in der die Türkei derzeit den Status eines blockfreien Staates innehat, der bei einer Vielzahl von Themen auf der Seite der EU ist, zum Beispiel hinsichtlich festgefahrener Konflikte in Eurasien und Menschenrechtsfragen in der Region. Intensivere Beziehungen mit der SCO könnten auch eine Neuausrichtung der Türkei in Richtung des Lagers autoritärer osteuropäischer und zentralasiatischer Staaten bedeuten, sodass diese im OSZE-Jargon als „Östlich von Wien“ bezeichnete Fraktion eine weitere Stimme zur Vertretung ihrer Interessen erhalten würde. Dies würde sich mit Blick auf die EU-Interessen nachteilig auf die politisch-militärische und auf die menschenbezogene Dimension der OSZE auswirken. Abgesehen von den normativen Herausforderungen würde eine engere Kooperation der Türkei mit der SCO die europäische und transatlantische Sicherheitszusammenarbeit auch in einer praktischeren, operativen Art und Weise vor schwierige Aufgaben stellen. Die aufgrund unterschiedlicher staatlicher Mitgliedschaften seit Langem bestehende – und aus operativen Gesichtspunkten häufig äußerst problematische – Unfähigkeit der EU und der NATO, bestimmte Verschlusssachen untereinander auszutauschen, zeigt sehr deutlich, dass Mehrebenenkonstruktionen in einer Sicherheitsarchitektur deutliche Schwachstellen aufweisen können. Wenn bereits der Informationsaustausch zwischen NATO und EU zeitweise kompliziert ist, so erscheint es undenkbar, dass die Türkei die operativen Aspekte einer NATO-Mitgliedschaft – wie auch ihre gelegentlichen Beiträge zu EU-Missionen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik – mit engeren Beziehungen zur SCO in Einklang bringen könnte. In der Tat haben bereits einige russische Funktionsträger signalisiert, dass sie eine NATO-Mitgliedschaft mit einer SCO-Mitgliedschaft aus operativer Sicht für unvereinbar halten, was gleichzeitig einen Aufruf an die Türkei darstellte, das Atlantische Bündnis zu verlassen, um die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft in der SCO zu schaffen. Selbst das wesentlich wahrscheinlichere kurz- bis mittelfristige Szenario einer türkischen Beobachterrolle innerhalb der SCO würde voraussichtlich dazu führen, dass die anderen NATO-Mitglieder deutlich reservierter wären, wenn es um mit Ankara geteilte Informationen geht – insbesondere wenn die Türkei ihre Beziehungen zur SCO wiederum nicht vollständig transparent machen würde.
Abgesehen von den möglichen Auswirkungen der türkischen SCO-Ambitionen auf die europäische und transatlantische Sicherheitszusammenarbeit gilt es, eine wichtige Lehre aus der chinesischen Schlüsselrolle in dieser Angelegenheit zu ziehen. Europas Außen- und Sicherheitspolitiker werden sich nur langsam der Tatsache bewusst, dass China zunehmend globaler als sicherheitspolitischer Akteur in Erscheinung tritt, dessen Sicherheitspolitik und -aktivitäten unmittelbar für die europäischen Sicherheitsinteressen von Belang sind. China hat nicht nur die Führungsrolle in einer regionalen Sicherheitsorganisation inne, die für die NATO, EU und OSZE eine immer größere Herausforderung darstellen könnte, sondern verfolgt auch eine Reihe anderer Politikansätze, die in Europa zunehmend wahrnehmbar sind. So fällt es Europa beispielsweise immer schwerer, Pekings militärische Unterstützung des Assad-Regimes zu ignorieren, wobei die Auswirkungen der chinesischen Ausbildungs- und Unterstützungsleistungen für die syrische Armee auf die regionale Stabilität weitestgehend unvorhersehbar sind. Ebenso könnten die jüngsten Änderungen nationaler chinesischer Gesetze, die unter anderem den Weg für zukünftige Antiterror-Operationen der Volksbefreiungsarmee zum Schutz chinesischer Staatsbürger und Vermögenswerte im Nahen Osten oder in Zentralasien ebnen sollen, die Stabilität in Europas unmittelbaren Nachbarstaaten beeinträchtigen. Die jährlichen Militärübungen der russischen und der chinesischen Marine haben sich zuletzt auch in die Nachbarschaft Europas, genauer gesagt ins Mittelmeer, verlagert. Darüber hinaus haben die beiden Länder zumindest in einem gewissen Umfang ihre gegen Europa und die NATO gerichteten Raketenabwehrpotenziale aufeinander abgestimmt.
Es ist von größter Wichtigkeit für Europa und die breitere transatlantische Gemeinschaft, dass sie sich der beschriebenen Entwicklungen weiterhin bewusst und über andere chinesische Sicherheitspotenziale und -aktivitäten auf dem Laufenden sind, die in Zukunft die strategischen Interessen Europas berühren könnten. Die türkischen SCO-Ambitionen sind aktuell gewiss nicht die größte Herausforderung, wenn es um den Erhalt dessen geht, was von europäischen Partnern und NATO-Verbündeten in den vergangenen 60 Jahren geschaffenen wurde. Dennoch muss Europa in Bezug auf die Beziehung der Türkei zur SCO Wege für einen konstruktiven wie kritischen Dialog mit Ankara und Peking finden. Es liegt an der EU und der NATO, einen überzeugenden Ansatz zum Umgang mit der vorläufigen strategischen Neuausrichtung der Türkei zu entwickeln, falls sie Chinas derzeit noch begrenzte, aber zunehmend sichtbare globale Sicherheitsambitionen in einer den europäischen strategischen Interessen dienlichen Art und Weise beeinflussen wollen.
Jan Gaspers ist Leiter der European China Policy Unit, Mikko Huotari ist Leiter des Programms Internationale Beziehungen und Thomas Eder ist Research Associate am Mercator Institute for China Studies. Die Autoren geben ihre persönliche Meinung wieder.
1 Zu den derzeitigen Mitgliedsstaaten gehören China, Kasachstan, Kirgisistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan. Im Juni 2016 unterzeichneten Indien und Pakistan ein Memorandum zum SCO-Beitritt. Weitere Staaten aus der Region habe einen Beobachterstatus inne, darunter Iran.
Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik | ISSN 2366-0805 Seite 1/5