2018 ist ein Schlüsseljahr für die Zukunft Europas – nicht nur, weil wichtige Personalentscheidungen in der Europäischen Union zu treffen, die Verhandlungen über den Brexit abzuschließen und die Wahlen zum Europäischen Parlament im Frühsommer 2019 vorzubereiten sind. Seit dem Beschluss der EU zur Einrichtung einer Permanenten Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Dezember 2017, zu der sich 25 der nach dem Brexit verbleibenden 27 Mitgliedstaaten verpflichtet haben, ist nun von der Schaffung einer „Europäischen Verteidigungsunion“ die Rede, deren Ausformung freilich noch offen ist.
Eine Debatte darüber ist umso dringlicher, als der Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik das erste von „sechs Schlüsselelementen europäischer Souveränität“ ist, die Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei seiner Rede an der Universität Sorbonne am 26. September 2017 genannt hat. Die „Neugründung Europas“, für die der Kandidat Macron in seinem Wahlkampf warb, und deren Umsetzung der Präsident Macron mit seiner Rede „Initiative für Europa“ an der Sorbonne in Gang setzen will, beginnt mit einer “europäischen Souveränität“ im Bereich der Verteidigung. Diese setzt autonome strategische Aktionsfähigkeit voraus.
Aber was ist „europäische Souveränität“? Wer übt sie aus? In welchem politischen und rechtlichen Rahmen? Sind die Vorstellungen in Berlin und Paris hierüber überhaupt vereinbar? Die notwendige Debatte sollte sich um drei Fragen drehen: Erstens um das politische Verständnis „europäischer“ Souveränität, die eigentlich rein national verortet ist (insbesondere in der Verteidigung), zweitens um den rechtlichen Rahmen ihrer Ausübung und drittens um die militärischen Fähigkeiten, die dafür als notwendig erachtet werden. Jede der Fragen ist für sich genommen wichtig, aber alle drei hängen auch voneinander ab. Deshalb kann man sie nicht Schritt für Schritt abarbeiten, sondern muss sie alle gleichzeitig und im Zusammenhang behandeln.
1. Europäische Souveränität – eine Frage politischer Kultur
Im Mittelpunkt der Vorstellungen Macrons über die Voraussetzung „europäischer Souveränität“, nämlich eine strategische Autonomie Europas, steht das, was er „Europäische Interventionsinitiative“ nennt. Sie soll zum Aufbau einer „Gemeinsamen Interventionsmacht“ führen, mit der Europa dann über eine „autonome Aktionsfähigkeit“ verfügen kann. Viele Begriffe für einen Zustand, für den laut Macron „eine gemeinsame strategische Kultur fehlt.“ Recht hat er. Diese Erkenntnis ist allerdings keineswegs neu. Seit Jahren wird darüber geredet. Aber diese Diskussionen haben bisher nicht dazu geführt, dass an der Überwindung dieses Zustands ernsthaft gearbeitet wurde.
Recht hat Macron auch, wenn er sagt „dieses ändern wir nicht über Nacht.“ Aber anfangen müsste man. Eine Kultur, sei sie nun „strategisch“ oder, weiter gefasst, „politisch“, entsteht ja nicht durch Anordnung, und sie fällt auch nicht vom Himmel. Was also könnte getan werden, um die politischen Kulturen Deutschlands und Frankreichs in strategischen Fragen einander anzunähern? Das ist der Schlüssel für die Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses von Europas Zukunft.
Auf deutscher Seite zögern die meisten, nach einer strategischen Autonomie Europas zu streben. Viel zu ambitioniert und deshalb unrealistisch, heißt es, und wohl auch zu teuer. Und erst recht wird kaum über autonome „Aktionskräfte“ diskutiert. Viel lieber, vor allem im sozialdemokratischen Lager, stellt man sich Europa als „Friedensmacht“ vor, die der Krisenprävention mit zivilen Mitteln Vorrang vor der Anwendung militärischer Mittel gibt. Und tatsächlich, was gibt es Sympathischeres als eine Friedensmacht, die sich in der Verhinderung von Krisen engagiert? Auch Frankreich wird sich einem solchen Engagement nicht verweigern. Nur leider stoßen sich diese Ideen an der Wirklichkeit. Zu oft reicht zivile Krisenprävention einfach nicht aus, sodass Krisen dennoch entstehen, denen sich dann beide Länder, oft genug gemeinsam, zu stellen haben.
Es wäre also nötig, dass sich die deutsche Kultur der militärischen Zurückhaltung, die eine Mehrheit der Deutschen für richtig hält, und die französische Kultur autonomer militärischer Aktionsfähigkeit, die für Franzosen selbstverständlich ist, einander annähern. Deshalb sollte damit begonnen werden, an einer gemeinsamen Sicherheitsstrategie zu arbeiten, auf deren Grundlage dann womöglich eine gemeinsame, oder zumindest kompatible, Militärdoktrin entstehen kann, die als Rahmen für die geforderte „Gemeinsame Interventionsmacht“ nötig wäre. Dies sollte bald geschehen.
Es wäre auch ratsam, diese Arbeit zu zweit zu leisten. Deutschland und Frankreich sollten rasch damit beginnen, ohne auf die übrigen Mitgliedstaaten der EU zu warten, diese aber gleichwohl stets auf dem Laufenden halten. Dies wäre eine weitreichende und extrem wichtige, sicher umstrittene politische Entscheidung, deren Tragweite weit über die jüngste Entscheidung zur PESCO hinausginge. Zur Erinnerung: Die PESCO, Kernstück deutscher Politik zur „Stärkung“ europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik (laut Koalitionsvertrag von 2018) ist für Macron lediglich der Sockel, auf dem die gemeinsame europäische Streitmacht zur Intervention, die „autonome Aktionsfähigkeit“, zu errichten wäre.
Kann also ein gemeinsames politisches Interesse beider Länder entwickelt werden, welches auf eine gemeinsame autonome militärische Handlungsfähigkeit zielt und dabei Zurückhaltung bei der Anwendung dieser Fähigkeit walten lässt? Ein solcher Schritt ist nicht zu umgehen, wenn Berlin und Paris ihren eigenen Worten folgen wollen: „Neuer Aufbruch für Europa“ hier, „Neugründung Europas“ dort. Es wird sich nichts neu gründen oder aufbrechen lassen, wenn es nicht gelingt, eine gemeinsame strategische, beziehungsweise politische Kultur zu entwickeln, so mühsam und langwierig dies auch sein wird. Dies würde ein Übereinkommen, zumindest miteinander vereinbare Vorstellungen darüber bedeuten, was „europäische Souveränität“ ausmachen soll. Die Probleme mit der Eurozone und ihrem Management zeigen doch deutlich was passiert, wenn es keine gemeinsame politische Kultur gibt.
2. Europäische Souveränität – eine Frage institutioneller Verantwortlichkeit
Freilich, eine gemeinsame politische und strategische Kultur, so unerlässlich sie ist, reicht nicht aus. Wer sollte über die Nutzung einer solchen gemeinsamen „autonomen Aktionsfähigkeit“, also der Interventionstruppe, entscheiden? Die Vorschläge Frankreichs stehen ja nicht neben der EU, sondern sind integraler Bestandteil des Programms zur „Neugründung Europas“, einschließlich demokratischer Kontrolle im Rahmen der EU und einer Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments – so nachzulesen in Macrons Sorbonne-Rede. Auch der Koalitionsvertrag der Bundesregierung sieht für den gewünschten „neuen Aufbruch für Europa“ eine Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments vor. Ist damit auch eine Übertragung von Kompetenzen auf die EU in Fragen der Verteidigung gemeint? Weder Berlin noch Paris haben sich je für solch eine Kompetenzübertragung auf ‚Brüssel‘ ausgesprochen. Wer aber ist dann verantwortlich für einen Einsatz der „gemeinsamen Interventionsmacht“ (französisches Projekt) oder der „europäischen Armee“ (deutsches Projekt laut Resolution des 18. Bundestags)? Soll es in Anwendung des Vertrags von Lissabon der Europäische Rat sein? Oder der Ministerrat? Oder bleiben ausschließlich die nationalen Regierungen zuständig? Und wenn ja, in welcher Gruppierung? Oder soll es in der EU neben der Eurozone und dem Schengen-Raum eine weitere Untergruppe mit eigenem Unterbau geben, eine Verteidigungszone, die „Verteidigungsunion“, die aber nicht identisch wäre mit der EU, sondern nur fast, da sie ja „inklusiv“ sein soll? Diese Fragen bleiben völlig offen, bedürfen aber einer Klärung.
Ganz offensichtlich ist der derzeitige institutionelle Rahmen der EU nicht mehr so ausgestaltet, dass er das gesamte Handlungsspektrum der Union abdeckt. Nun muss es ja, vor allem in der Verteidigungspolitik, nicht notwendigerweise nur eine einzige Zuständigkeit – entweder eine reine Unionskompetenz oder ausschließlich eine nationale Kompetenz – geben. Aber es sollten schon klar definierte Verantwortlichkeiten bestehen, die miteinander vereinbar und demokratisch legitimiert sein müssen. Diese Frage ist nicht nur theoretisches Glasperlenspiel. Sie ist eine conditio sine qua non für eine demokratische Europäische Union, deren Mitgliedstaaten und deren Institutionen Rechenschaft abzulegen haben vor den gewählten Vertretern der Bürger. Diese haben das Sagen über die Budgets, die nötig sind, um Fähigkeiten und Aktionen jeglicher Art zu finanzieren. Eine autonome europäische Interventionstruppe muss Teil eines rechtlich klaren institutionellen Rahmens mit demokratischer Legitimation sein. Dabei stellt sich die parlamentarische Kontrolle als besonders kniffliges Problem dar, da ja der deutsche Parlamentsvorbehalt quasi verfassungsmäßige Qualität hat und nicht einfach außer Kraft gesetzt werden kann. Auch darüber muss am Ende Einigung erzielt werden. Aussitzen geht nicht.
3. Europäische Souveränität – das ist Kooperation und Wettbewerb
Und noch eine weitere Divergenz wird in dieser Debatte in Rechnung zu stellen sein, wenn sie sich nicht in Illusionen verlieren soll: Zu den Pariser Vorstellungen von strategischer Autonomie Europas gehört eine starke eigene „rüstungs- und technologiepolitische Basis“. Dies wird auch in der neuen Strategie wieder bekräftigt. Entsprechend waren staatliches Eigentum oder staatliche Einflussnahme auf die Rüstungsindustrie schon immer Wesensmerkmal französischer Verteidigungspolitik. Diese stand deshalb schon immer im Widerspruch zu deutscher Politik, welche auch in diesem Bereich vornehmlich auf privatwirtschaftlichen Wettbewerb setzt und den staatlichen Einfluss geringhalten will.
Das hatte und hat weiterhin Auswirkungen auf Stellenwert und Organisation von Rüstungspolitik in beiden Ländern, in denen ja über militärische Ausrüstung zu befinden ist. In dieser, für eine gemeinsame europäische Interventionstruppe nicht ganz unwichtigen Frage stoßen also nicht nur zwei sehr unterschiedliche, wenn nicht gegensätzliche Strategien der Regierungen und Parlamente in Paris und Berlin in Bezug auf Rüstungsindustrie und Hochtechnologie aufeinander.
Hier geht es dabei auch immer wieder um nationale ökonomische Interessen, einschließlich Exportchancen für Rüstungsgüter, die nicht nur vom politisch getragenen Wunsch nach Kooperation, sondern auch von geschäftlichen Interessen im Wettbewerb gegeneinander geprägt sind. Dieser grundlegende Streit wird bleiben, seine Folgen jeweils in den Einzelfällen konkreter Projekte auszutarieren sein. Die Debatte allein wird sicher nicht zu Lösungen führen, mit denen alle Probleme im Zusammenhang mit europäischer „Souveränität“ oder autonomer Handlungsfähigkeit geregelt werden, nicht rasch und schon gar nicht zur Perfektion. Aber es ist dringend, dass mit der Arbeit begonnen wird – und wo sie schon begonnen hat, nachhaltig fortgefahren wird, um dem umfassenden ökonomischen, rechtlichen, politischen und auch kulturellen Kontext der jetzt anstehenden Diskussion in Deutschland und Frankreich Rechnung zu tragen.
Natürlich ist es hilfreich, dass die Verteidigungsministerinnen beider Länder, Ursula von der Leyen und Florence Parly, bei der jüngsten Münchner Sicherheitskonferenz ihre Entschlossenheit herausgestellt haben, diesen Weg gemeinsam zu beschreiten – Europa zu „mehr Eigenständigkeit und Eigenverantwortung“ zu verhelfen mit Hilfe einer „Armee der Europäer“, wie Ursula von der Leyen sagt, oder „Lage- und Bedrohungsanalysen zu teilen“ sowie ein „gemeinsames Verständnis von Krisen zu entwickeln“, eine „gemeinsame Einschätzung der Notwendigkeit zu handeln“, einen „gemeinsamen Aktionsplan“, wie Florence Parly fordert. Nur davon sind beide Länder eben immer noch weit entfernt. Die Ministerinnen haben es in der Hand, für Bewegung zu sorgen.
Detlef Puhl war Pressesprecher im Bundesministerium der Verteidigung und diente danach als Berater im französischen Verteidigungsministerium und in der NATO.