Jahrelang dominierte das rasante Wirtschaftswachstum die öffentliche Wahrnehmung über China. Neben Bewunderung für die Effektivität eines „chinesischen Modells“ wurde der Aufstieg Chinas und dessen Folgen für die Weltpolitik und den internationalen Wettbewerb aber auch als bedrohlich empfunden. Inzwischen kreist die Debatte über die weitere wirtschaftliche und politische Entwicklung Chinas um Begriffe wie Krise, Turbulenzen, Stagnation, Absturz oder Kollaps. Und wieder wird China als Bedrohung interpretiert, diesmal als „stotternder Motor“, der die Weltkonjunktur gefährdet. Zweifellos ist Chinas weitere Entwicklung von hoher internationaler Bedeutung, und das Land ist als Folge der anhaltenden wirtschaftlichen Dynamik mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert. Statt schriller Horrorszenarien sollte aber ein differenzierender Blick die Diskussion über Chinas weitere Entwicklung leiten.
Droht der Zusammenbruch?
Alle Jahre wieder erregen Vorhersagen über den bevorstehenden Zusammenbruch Chinas öffentliche Aufmerksamkeit. Schon anlässlich der studentischen Protestbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Jahr 1989 wurde diskutiert, wie lange die Kommunistische Partei sich noch würde an der Macht halten können. Aus den frühen 1990ern datieren Überlegungen zu einem Auseinanderbrechen Chinas in mehrere Teilstaaten. Dieser Zerfall wurde wahlweise in Analogie zum Zusammenbruch der Sowjetunion, mit wachsenden innerchinesischen Spannungen oder dem erwartbaren Tod der einflussreichen Führungspersönlichkeit Deng Xiaoping begründet. Die Ökonomin He Qinglian beschrieb das Land dann in ihrem 1998 auf Chinesisch erschienenen Buch „China in der Falle“ als nahezu „gescheitert“. Wachsende Einkommensunterschiede, der Niedergang zentralstaatlicher Autorität, schwache wirtschaftliche Strukturen und der als Begleiterscheinung der Öffnungspolitik zu verzeichnende moralische Verfall seien systemgefährdend.
Vor dem Hintergrund des chinesischen WTO-Beitritts prognostizierte Gordon Chang 2001 in seinem Bestseller „The Coming Collapse of China“ den Niedergang innerhalb von einer Dekade und begründete dies mit der Ineffizienz der staatlichen Banken und der hohen Verschuldung der Staatsbetriebe. Im Zusammenhang mit der Revolution in Tunesien 2011 und den in China folgenden „Jasmin-Kundgebungen“ sprachen Beobachter davon, dass China dem „demokratischen Druck“ auf längere Sicht nicht werde widerstehen können.
2015 schließlich diagnostizierte David Shambaugh, Professor an der George Washington Universität und anerkannter Chinabeobachter, im Wall Street Journal die „Endphase der kommunistischen Herrschaft“. Kapitalflucht, eine wohlhabende Elite, die das Land in Scharen verlasse, wachsende politische Repression, die verbreitete Korruption sowie die drakonischen Versuche ihrer Bekämpfung, der Zynismus staatlicher Kader und eine sich abkühlende Wirtschaft seien Merkmale eines „gebrochenen Systems“, welches volkswirtschaftlich am Beginn einer Stagnation und politisch vor dem Niedergang stehe. Auch ein gewaltsam-chaotisch verlaufender völliger Zusammenbruch sei nicht auszuschließen. In seinem im März 2016 erschienen Buch mit dem Titel „China’s Future“ unterstreicht er nochmals diese Position. Das Land befände sich an einem kritischen Punkt, denn ohne politische Reformen könne keine weitere Prosperität garantiert werden.
Prognosen zu Chinas Zukunft
Chinawissenschaftler diskutieren seit vielen Jahren denkbare Zukunftsszenarien. Die Hoffnung auf eine von oben eingeleitete, sich in geregelten Bahnen vollziehende Demokratisierung wird dabei ebenso erörtert wie eine „Singapurisierung“, ein repressiver Neo-Totalitarismus oder ein durch sozio-ökonomische Krisen eingeleiteter politischer Schlingerkurs mit offenem Ausgang. Im Zeitverlauf kann festgestellt werden, dass Einschätzungen zu Chinas Zukunft zwischen optimistischen Prognosen und apokalyptischen Prophezeiung oszillieren. Viele Beobachter halten jedoch eine noch länger andauernde Kontinuität des gegenwärtigen politischen Status Quo für wahrscheinlich. Aus theoretischer Perspektive jedoch gelten autoritäre Systeme aufgrund ihrer schwachen Legitimität, einer Überzentralisierung von Entscheidungsstrukturen sowie dem Einsatz von Zwangsmitteln als instabil, was die bisherige Kontinuität des chinesischen Systems erklärungsbedürftig macht. In der Chinawissenschaft ist daher das Transformationsparadigma der Resilienz-These gewichen. Resilienz, das heißt die Belastbarkeit eines politischen Systems, kann dabei als Kapazität zum Management akuter Probleme und dem „Aushaltenkönnen von Krisen“ verstanden werden.
Merkmale der Debatte
An der Debatte über Chinas Zukunft sind drei Aspekte bemerkenswert:
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Sie ist geprägt von ökonomischen Erklärungsansätzen für politische Veränderungen. Demzufolge kann eine Wirtschaftsentwicklung in autoritären Systemen mit regulierten Märkten zunächst durchaus positiv verlaufen. Mit zunehmendem Wohlstandsniveau aber ist ein politischer Wandel unausweichlich. Der Staat muss zur Garantie eines positiven Investitionsklimas und aufgrund von Forderungen aus der Gesellschaft Eigentumsrechte und Rechtssicherheit garantieren. Nur durch Liberalisierungsmaßnahmen, so das Argument, können Freiräume für Innovation und unternehmerische Kreativität geschaffen werden, um ein Verharren der Volkswirtschaft auf mittlerem Wohlstandsniveau zu vermeiden. Mit Bezug auf China, so der Befund, ist nachholendes Wachstum auf Basis niedriger Löhne und der Übernahme von ausländischem Knowhow nicht mehr möglich. Um eigenständige Innovationsleistungen und die Fähigkeit zur Produktivitätssteigerungen herauszubilden sowie im Wettbewerb mit den Hochindustrieländern zu bestehen, bedarf es politischer Reformen, sonst bleibt China die Werkbank der Welt. Doch diese Argumentation geht von einem zu einfachen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und politischer Liberalisierung aus. Ein weiteres Problem der Analysen ist es, das chinesische System weniger an sich selbst zu messen, sondern es danach zu beurteilen, wie es sich nach westlichen Vorstellungen entwickeln sollte. Das begünstigt Zerbrechlichkeitsannahmen, die einzelne systemische Fehlfunktionen zu existenziellen Krisen werden lassen. Diesen Ansätzen kann kein chinesischer „Exzeptionalismus“ per se – also eine grundlegende „chinesische Besonderheit“ oder „Andersartigkeit“– entgegengehalten werden, aber Chinas Dimensionen, seine Heterogenität und geschichtlichen Erfahrungen sind in eine Beurteilung einzubeziehen.
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In der akademischen Auseinandersetzung scheinen Wissenschaftler jene Fehler vermeiden zu wollen, die dazu führten, dass politische Ereignisse wie der Zusammenbruch der Sowjetunion oder der Arabische Frühling nicht vorausgesehen wurden. Das Durchspielen verschiedener China-Szenarien ist dabei als intellektuelle Fingerübung zu verstehen, die freilich aus theoretischer Perspektive daran krankt, dass relevante Einflussfaktoren und deren Zusammenspiel noch ungeklärt sind. Insofern mögen Vorhersagen über den möglichen Zusammenbruch Chinas auch eine Form des Reputationsmanagements sein – Aussagen, auf die sich Betreffende bei entsprechender politischer Entwicklung beziehen können.
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Chinesische Kommentatoren reagieren häufig ironisch auf die vorgebrachten Schlussfolgerungen zum Zusammenbruch Chinas und weisen sie als „Wunschvorstellung Amerikas“ ab, als „eine Fantasie, die einfach nicht sterben wolle“. Sie sehen die hohen Kosten des chinesischen Wirtschaftsmodells durchaus kritisch, „westliche Analysen“, so der Vorwurf, beinhalteten aber stets die üblichen Beschwerden über die interventionistische Rolle des Staates. „Tut uns leid Amerika, aber China wird nicht kollabieren!“ lautet die selbstbewusst anmutende Antwort, die als Teil eines seit langem geführten Selbstbehauptungsdiskurses gegen einen den „Aufstieg Chinas behindernden Westen“ verstanden werden kann.
China unter Anpassungsdruck
Als Resultat seiner Wirtschaftsentwicklung kämpft China heute mit zahlreichen Schwierigkeiten: Urbanisierung, demographischer Wandel, ein schwaches Sozialversicherungssystem, ein für die Qualifizierung von Arbeitskräften unzureichendes Bildungssystem, regionale Ungleichheiten, Einkommensdisparitäten, ethnische Konflikte, die Sicherstellung des für die wirtschaftliche Entwicklung erforderlichen Ressourcenzugangs sowie die Bewältigung von Umweltzerstörung und Klimawandel zählen zu den Langzeitherausforderungen. Neue soziale Schichten sind entstanden, Einstellungen und Wertvorstellungen in Veränderung begriffen. Soziale Spannungen, die das Resultat vielfältiger Interessens- und Verteilungskonflikte sind, für deren Bearbeitung jedoch keine ausgereiften Instrumente existieren, äußern sich vielfach in Protesten. Wirtschaftlich betrachtet möchte die Pekinger Führung China in eine Service- und Konsumgesellschaft umbauen. Politisch steht der Parteistaat aufgrund der Ansprüche einer sich ausdifferenzierenden und mobilen Gesellschaft, der Integration in die globalen Wirtschaftsstrukturen und den Anforderungen der internationalen Gemeinschaft unter permanentem Anpassungsdruck. Dies birgt auch die Gefahr von Konflikten zwischen Gegnern und Befürworten, Gewinnern und Verlierern der verschiedenen Umstrukturierungen.
Wirtschaftlicher Umbau
China ist durch die Integration in die globalen Wirtschaftsprozesse verwundbar geworden für Nachfrageschwächen auf dem Weltmarkt. Durch den demographischen Wandel und die damit steigenden Arbeitskosten verliert die Volkswirtschaft an Wettbewerbsfähigkeit. Viele chinesische Staatsunternehmen gelten als ineffizient. Der Finanzsektor ist reformbedürftig, Währungsbereich und Aktienmarkt haben in den letzten Monaten Zweifel an den staatlichen Steuerungskompetenzen aufkommen lassen. Die zur Konjunkturbelebung in den Infrastrukturausbau gelenkten Investitionen amortisieren sich nur langsam und auch nur dort, wo sie nicht auf Fehlplanung basieren. In zahlreichen Sektoren wie Stahl und Chemie müssen Überkapazitäten abgebaut werden. Im Ausbau des Dienstleistungssektors und bei der Urbanisierung hat China Nachholbedarf, daher gelten diese Bereiche als Wachstumsmotoren. Die Regierung in Peking möchte die Unternehmen innovativer machen. Strukturen und Mechanismen, die Innovationen fördern und ermöglichen, müssen im chinesischen Kontext jedoch erst entwickelt werden. Außerdem soll der Binnenmarkt eine Alternative zur nachlassenden Exportkonjunktur werden. Dies erfordert jedoch Logistikstrukturen, die sich erst entsprechend der Nachfrage herausbilden. Insgesamt befindet sich China also in einem Strukturwandel. Damit sind eine Veränderung im Außenhandel und eine Abkühlung des Hochwachstums verbunden. Positiv zu verzeichnen ist, dass der Binnenmarkt nach aktuellen Daten stärker wird und der Dienstleistungssektor kontinuierlich ausgebaut wird. Dies schafft Arbeitsplätze, die zur Kompensation für schwächer werdende Industriezweige benötigt werden.
Politische Korrekturen
Die schnelle Wachstumsphase hat China enorme soziale, ökologische und ökonomische Kosten abverlangt und in vielen Bereichen gesellschaftliche Unzufriedenheit verursacht. Die politische Führung ist mit wachsenden Erwartungen und Ansprüche der Bevölkerung konfrontiert. Der Staat muss liefern, ist aber in vielen Bereichen im Umbau begriffen und noch nicht fit für die Bearbeitung all jener Probleme, die moderne Industriegesellschaften kennzeichnen. Dezentralisierung und Deregulierung haben zu fragmentierten Verwaltungsstrukturen geführt, sodass Zuständigkeiten, Ressourcen und Kompetenzen auf inkohärente Weise zwischen der nationalen und den zahlreichen lokalen Ebenen verteilt sind. Damit steht die alltägliche Realität im Gegensatz zu dem gern gepflegten Bild autoritärer Effektivität.
Die neue Führungsspitze um Xi Jinping ist aus einem heiklen Kompromiss zwischen verschiedenen Parteiflügeln hervorgegangen. Den Schlüssel zur Machtkonsolidierung sieht sie in einer Stärkung zentralstaatlicher Autorität. Neu geschaffene Führungsgruppen für zentrale Politikfelder sind ein organisatorischer Hinweis hierauf. Auch soll der Staat leistungsfähiger werden. Der Anti-Korruptionskampf bietet sich dabei zur Disziplinierung der parteistaatlichen Akteure ebenso an, wie zur Demonstration politischer Handlungsfähigkeit gegenüber einer Bevölkerung, die die grassierende Korruption seit Jahren als zentrales Defizit benennt. Viele Menschen hegen daher Sympathie für den derzeitigen Feldzug gegen die Korruption. Doch führt die chinesische Art der Korruptionsbekämpfung seit jeher zu einer wirtschaftlichen Abschwächung. Wirtschaftliche Entscheidungen werden aufgrund von Unsicherheit über akzeptable Vorgehensweisen zaghafter, wenn überhaupt, getroffen – mit ungünstigen Folgen für die Erteilung von Genehmigungen und die Durchführung von Investitionsvorhaben. Viele Beobachter gehen davon aus, dass die Legitimität der chinesischen Führung ausschließlich auf der Wirtschaftsleistung basiere. Doch neben guten wirtschaftlichen Resultaten sind positive Entwicklungen im Bildungsbereich, Umweltschutz, Klarheit von Gesetzen, Korruptionsbekämpfung und der Abbau von als ungerecht empfundenen Ungleichheiten legitimationsrelevante Themen. Solange die Regierung in diesen Feldern Reformwillen und Handlungsfähigkeit zeigt, ist eine Unterstützung durch die Bevölkerung wahrscheinlich.
Das repressive Vorgehen gegen Intellektuelle, Künstler, Anwälte ist unter anderem der Versuch, die Vielstimmigkeit der innerchinesischen Debatte zu reduzieren und der Führung Deutungshoheit zu garantieren. Als Programmatik eines erfolgreichen China gilt Xi Jinpings „chinesischer Traum“. Doch die mit den Schlagworten Prosperität, Demokratie, Höflichkeit, Harmonie, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit, Patriotismus, Hingabe, Integrität, Freundschaft zusammengefassten „sozialistischen Kernwerte“ muten nicht wie eine kohärente Vision sondern wie Flickwerk an. Wenn Politik nicht nur Krisenmanagement, sondern auch Ordnungsangebot ist, dann können diffuse Verweise auf den Stolz auf die chinesische Kultur, Geschichte und Tradition als Indiz dafür gesehen werden, dass unklar ist, wofür ein modernes China steht – ein Effekt, der angesichts eines alle Lebensbereiche durchdringenden Wandels kaum verwundert, welcher durch das Einhegen kritischer Debatten aber auch nicht konstruktiv überwunden werden kann.
Risiken
Staaten zerbrechen, wenn die politische Elite zersplittert, es an gesellschaftlicher Bindungskraft mangelt und wirtschaftliche Probleme auftreten, die sich negativ auf die Verfügbarkeit staatlicher Ressourcen auswirken. Schwache, scheiternde oder zerfallende Staaten weisen in unterschiedlichen Abstufungen Fehlleistungen in den Bereichen Sicherheit, Wohlfahrt und Legitimität auf. Instabilität entsteht dort, wo der Kontakt zwischen politischer Führung und Bevölkerung verloren geht und Bürger der Regierung nicht mehr vertrauen.
Eine Variante chinesischen Scheiterns wäre eine Verstetigung beziehungsweise Verstärkung einer Repression, die eine gesellschaftliche Konsensfindung über die Prioritäten und Ziele der weiteren Entwicklung verhindert. Eine andere wäre die Verstetigung beziehungsweise Ausweitung polit-ökonomischer Machtkartelle, die China als Beute unter sich aufteilen. All dies würde die politische Führung langfristig von der Gesellschaft entfernen. Eine dritte Gefahr liegt in der Zersplitterung der politischen Führung, die nicht ausgeschlossen werden kann und sich an Differenzen über Politikinhalte, ökonomischen Krisen oder dem Umgang mit Protesten entzünden kann. Viertens würde auch eine fortschreitende Personalisierung von Macht den Parteistaat verwundbarer macht – insbesondere mit Blick auf eine spätere politische Nachfolge für Xi Jinping. Eine fünfte Variante ist die Destabilisierung von außen.
Stabilisierende Faktoren
Der Erfolg der Kommunistischen Partei lag bei der Gründung der Volksrepublik in der Fähigkeit, einen starken Staat als Organisations- und Mobilisierungsagentur zur Verteidigung nationaler Unabhängigkeit und Modernisierung zu etablieren. An den folgenden dramatischen Fehlern ist die Partei nicht zerbrochen. Der Staatsapparat hat ab 1978 eine starke Veränderung durchlaufen. In positiver Hinsicht kennzeichnen ihn Lernfähigkeit, Entwicklungsorientierung und Freiräume zur flexiblen Reaktion auf akute Herausforderungen. Auch ist er in weiten Teilen mit qualifiziertem Personal ausgestattet, das über die Belange relevanter sozialer Gruppen informiert ist. Damit ist die politische Führung zum einen handlungs- und steuerungsfähig, zum anderen haben die vielen Verantwortlichen in Politik, Verwaltung und Staatsunternehmen ein hohes Eigeninteresse an der Aufrechterhaltung der bestehenden Strukturen.
Viele Menschen in China teilen das Gefühl, dass die politische Führung um Xi Jinping fest im Sattel sitzt und die drängenden Probleme mit Durchschlagskraft angeht. Insofern genießt die Zentrale in Peking, wie Untersuchungen belegen, durchaus das Vertrauen der Bevölkerungsmehrheit. Aufgrund der vielen negativen Erfahrungen mit Umbrüchen und Diskontinuitäten im Verlauf der neueren chinesischen Geschichte ist „Stabilität“ in den Augen vieler Chinesen ein zentrales politisches Ziel. Während westliche Demokratien aufgrund der offenen Austragung von Interessenkonflikten oft als chaotisch empfunden werden, findet das unideologische Abwägen der Regierung zwischen Reform, Entwicklung und Stabilität in vielen Teilen der Gesellschaft Zustimmung. Mit der Erschließung solcher sozial geteilter Denkmuster, die sich auch auf nationalistische Töne erstrecken und in Regierungsdevisen wie dem „chinesischen Traum“ niederschlagen, versucht die politische Führung, ein für sie günstiges politisches Meinungsklima zu schaffen. Solange der Parteistaat auf den Wandlungsdruck reagiert und an seiner Spitze ein um Kompromiss und Konsens ringendes Führungsteam steht, das bereit ist, zwischen den verschiedenen Interessen und Ansichten der Gesellschaft zu moderieren, kann davon ausgegangen werden, dass er sich als relativ stabil erweist. Zu hoffen ist, dass dies auch die Belange der verschiedenen ethnischen Gruppen und das Verhältnis zu Hongkong einschließt. Neben diesen „weichen“ Faktoren ist die politische Führung mit Hilfe eines Sicherheitsapparates außerdem bereit und in der Lage, eine Zuspitzung und Ausbreitung von Pro-testen im Notfall zu unterbinden und die Entstehung politischer Alternativen zu verhindern.
Schlussfolgerung
China spielt in der gegenwärtigen deutschen Exportstruktur eine bedeutende Rolle und wird bei der Bearbeitung weltpolitischer Herausforderungen als Partner gebraucht. Das Land befindet sich momentan in einem doppelten Umbau was sein Wirtschaftsmodell und die Verarbeitung des Führungswechsels betrifft. Gedankenspiele zu einem kollabierenden China, womöglich getragen von einer unterschwelligen Genugtuung über den vermeintlichen Sieg des Westens oder die Höherwertigkeit westlich geprägter Demokratien sind wenig hilfreich. Wer den Zusammenbruch Chinas für möglich hält, sollte basierend auf guten Analysen Vorbereitungen treffen, denn ein handlungsunfähiges, möglicherweise zerfallendes China würde enorme Konsequenzen nicht nur für die deutsche Wirtschaft haben. Wer eine weitere stabile Entwicklung für wahrscheinlich hält, sollte nach konstruktiven Ansätzen der Zusammenarbeit auf der Grundlage gemeinsamer Interessen suchen. Deutschland und Europa sollten auf die verschiedenen Möglichkeiten vorbereitet sein, denn die Zukunft Chinas wird eine der globalen Unsicherheiten bleiben.
Prof. Dr. Anja Senz ist Professorin für Transkulturelle Studien mit dem Schwerpunkt Wirtschaft, Politik und Gesellschaft Chinas und Ostasiens am Institut für Sinologie der Universität Heidelberg.
Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik | ISSN 2366-0805 Seite 1/5