Acht Monate vor dem Gipfeltreffen von Warschau Anfang Juli 2016 zeigt die NATO ein gemischtes Bild. Einerseits hat Russlands neo-imperiale Aggression in Osteuropa die Allianz geeint und ihre Kernfunktion als Verteidigungsbündnis reaktiviert – man sieht sich wieder den Realitäten einer „Artikel-5-Welt“ ausgesetzt, in der Bündnissolidarität nach Artikel 5 des Washingtoner Vertrages oberste Aufgabe ist. Folglich haben sich die Mitglieder auf dem NATO-Gipfel von Wales auf ein umfassendes Maßnahmenpaket zur Stärkung der eigenen Verteidigungsfähigkeit verständigt und dieses auch engagiert umgesetzt – ein Umstand, der bei NATO-Beschlüssen nicht immer der Fall ist.
Andererseits ist die NATO in der Frage gespalten, wo und wie das Bündnis seine Fähigkeit zur Selbstverteidigung verbessern soll: Durch Russlands revisionistisches Vorgehen im Osten und die anhaltende islamistische Gewalt im Süden tun sich zwei sehr unterschiedliche Handlungsfelder auf. Daraufhin zeigen sich, vereinfacht dargestellt, vier verschiedene Prioritäten, die unterschiedliche NATO-Mitglieder mit Blick auf den Warschauer Gipfel verfolgen:
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Für die osteuropäischen Mitglieder geht es bei dem Gipfeltreffen in Warschau vor allem um die Umsetzung der in Wales 2014 beschlossenen militärischen Verstärkungen, um die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit der NATO gegenüber Russland zu verbessern.
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Die südlichen NATO-Länder wollen vermeiden, dass der Schwerpunkt der Allianz zu sehr auf Osteuropa liegt und fordern, dass etwa die neue Schnelle Eingreiftruppe („Very High Readiness Joint Task Force“ –VJTF) auch für die Verteidigung Südeuropas tauglich sein muss.
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Die drei großen Europäer in der NATO, Deutschland, Frankreich und Großbritannien, versuchen beide Positionen zu berücksichtigen, um die Spannungen zwischen „Süd“ und „Ost“ zu verringern.
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Die USA als Bündnisvormacht mühen sich ebenfalls um Einigkeit in der Allianz, wollen aber vor allem, dass Europa insgesamt größere militärische Anstrengungen zu seiner eigenen Verteidigung unternimmt.
Eine weitere Bruchlinie ergibt sich in der transatlantischen Dimension: Die Klagen der europäischen NATO-Staaten über mangelnde amerikanische Führung im Bündnis sind derzeit so lautstark wie lange nicht mehr und stehen im Gegensatz zu einer öffentlichen Meinung etwa in Deutschland, die angesichts von NSA-Aktivitäten oder TTIP-Sorgen eine vermeintliche amerikanische Gängelung beklagt. Angesichts dieser Gemengelage dürften vor allem fünf Themen die Agenda von Warschau bestimmen.
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Ukraine, Russland und die Rolle der NATO in Osteuropa
Die NATO hat mit dem in Wales beschlossenen „Readiness Action Plan“ (RAP) rasch und entschlossen auf Russlands Landnahme in der Ukraine reagiert. Obgleich die 28 NATO-Regierungen in unterschiedlichem Tempo realisierten, dass es sich bei Russlands Vorgehen nicht um eine Einzelaktion, sondern um ein grundsätzliches Aufkündigen der europäischen Sicherheitsordnung handelte, wurde die Dynamik von Wales beibehalten. Zur Überraschung mancher Bündnispartner hat sich gerade Deutschland am Aufbau neuer Verteidigungsfähigkeiten in Osteuropa besonders beteiligt. Auch zeigt sich Berlin in der Frage der wirtschaftlichen Sanktionen gegenüber Russland nach wie vor prinzipienfest. Auf dem Warschauer Gipfel wird es nun darum gehen, diese begonnene Anpassung an die neuen Anforderungen der Artikel-5-Welt fortzusetzen. Dabei stellen sich derzeit eine Reihe von Fragen und Problemen.
Wie kann es, erstens, gelingen, die in Wales (und früheren Gipfeltreffen) immer wieder definierten Fähigkeitslücken der NATO zu schließen oder zumindest zu verkleinern? Engere Kooperation im Rahmen von „Smart Defense“ oder Initiativen wie das „Framework Nation Concept“ (bei dem sich NATO-Staaten bei bestimmten militärischen Aufgaben um eine Führungsnation gruppieren) sind hilfreich, reichen aber nicht aus. Russland hat gezeigt, dass es mit sogenannten „Snap Exercises“ innerhalb zwei bis drei Tagen mehrere zehntausend Mann mobilisieren und konzentrieren kann. Dem wäre die weniger als 5.000 Mann umfassende schnelle Eingreiftruppe VJTF im Ernstfall nicht gewachsen, zumal deren Reaktionszeit bestenfalls fünf bis sieben Tage beträgt.
Damit hängt die zweite Frage zusammen, woher die Mittel für den weiteren militärischen Aufbau kommen sollen. In Wales haben die NATO-Mitglieder erneut – allerdings in sehr konditionierter Form – das Versprechen abgegeben, künftig zwei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes (BIP) für ihre Verteidigung auszugeben. Derzeit erfüllen nur fünf Staaten diese Vorgabe, sechs haben 2015 ihre Verteidigungsausgaben erhöht, sechs weitere haben sie allerdings weiter gekürzt. Häufig wird beklagt, dass die schematische Prozentrechnung entlang des BIP den realen Beiträgen zur Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses nicht gerecht werde – der Umstand, dass die Verteidigungsausgaben Griechenlands den zweitgrößten BIP-Anteil im Bündnis (nach den USA) haben, spricht Bände. Auch wird Deutschland angesichts seines sehr hohen BIPs politisch nicht in der Lage sein, einen entsprechenden Verteidigungshaushalt aufzubringen – er läge bei weit über 50 Milliarden Euro. Es gibt Überlegungen, von der statischen Zwei-Prozent-Regelung abzuweichen und die jeweils eingebrachte militärische Leistungsfähigkeit als Maßstab für eine gerechte Lastenteilung zu wählen. Allerdings sind solche qualitativen Kriterien noch schwieriger zu messen und zu vergleichen.
Drittens wird sich die NATO auf eine RAP-Folgeplanung (RAP 2.0) einigen müssen. Russland hat die Verstärkungsmaßnahmen der NATO sehr wohl registriert und weiß darüber hinaus, dass es mit Blick auf den gesamten Kräftevergleich (einschließlich der gewaltigen Militärmacht der USA) der Allianz weit unterlegen ist. Folglich beginnen russische Militärs, „um den RAP herum“ zu planen, indem sie Konzepte entwickeln, um in Teilen Osteuropas im Konfliktfall mit sogenannten „Area Denial“-Maßnahmen den NATO-Nachschub zu blockieren oder durch nukleare Drohungen das Bündnis zu spalten. Hier sind entsprechende Gegen-Konzepte erforderlich.
Allerdings gibt es bei all den Debatten um die Reaktion auf Russlands Aggression auch einen Streit um Scheinprobleme: Zunächst wird es aufgrund der unterschiedlichen geografischen und historisch bedingten Interessenlagen im Bündnis nie einen völligen Konsens über eine angemessene Reaktion auf die russische Bedrohung geben. Osteuropäische Staaten werden die militärische Verstärkung der NATO immer als unzureichend kritisieren, während weiter westlich oder südlich gelegene Mitglieder bereits die derzeitigen Maßnahmen als ausreichend oder gar zu kostspielig ansehen. Wenig fruchtbar ist auch die Diskussion, ob die Stationierung von Streitkräften in Osteuropa dauerhaft oder rotierend erfolgen soll (im NATO-Jargon: „permanent or persistent“). Denn solange es der NATO gelingt, zu jedem beliebigen Zeitpunkt eine bestimmte Anzahl von Streitkräften – einschließlich amerikanischer Truppen und Gerät – in Osteuropa bereit zu halten, ist es sekundär, ob diese rotieren oder fest stationiert sind. Überflüssig ist auch die Debatte, ob die NATO-Russland-Grundakte beibehalten oder aufgekündigt werden soll. Keine der von der NATO beschlossenen Maßnahmen zur Verbesserung der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses steht im Widerspruch zur Grundakte – sie behindert demnach nicht die militärische Verstärkung des Bündnisses. Eine formale Aufkündigung dieses Dokuments durch die NATO würde Moskau lediglich propagandistisch nutzbare Vorwände liefern.
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Die NATO und die Bedrohungen aus dem Süden
Die südlichen Mitgliedstaaten – allen voran Italien und die Türkei – befürchten, dass das atlantische Bündnis zu viel Aufmerksamkeit auf Osteuropa richtet und dabei die Gefahren in der von der NATO als „MENA“ bezeichneten Region (Middle East und Northern Africa) verkennt. Von der Verbesserung von Abschreckung und Verteidigung müsse ihnen zufolge auch die einstige „Südflanke“ der NATO profitieren – ein Argument, dass angesichts etwa der geografischen Lage der Türkei verständlich ist. Allerdings fällt es den Südanrainern innerhalb der NATO schwer, ihre Befürchtungen klar zu benennen und zu erklären, gegen welche Gefährdungen die NATO denn auf welche Weise genau gerichtet sein soll. Während man es in Osteuropa – in Relativierung des aktuellen „Hype“ um die hybride Kriegführung – mit einer linearen Bedrohung durch Russland zu tun hat, der eine lineare Reaktion folgen muss, ist ein solches Narrativ in Südeuropa nur schwer zu entwickeln.
Die Gefahren südlich des Mittelmeers oder im Mittleren Osten, darunter Staatszerfall, Extremismus und menschliche Perspektivlosigkeit, sind zu einem großen Teil sozio-ökonomischer Natur und kaum mit den Instrumenten der NATO zu bekämpfen. So verständlich die Sorgen Italiens waren, als etwa im Oktober 2014 das islamistische Online-Magazin „Dabiq“ mit einem Foto des Petersplatzes in Rom mitsamt einer darüber wehenden schwarzen Flagge des „Islamischen Staates“ den Sturm auf das Symbol der Christenheit forderte – eine NATO-Reaktion ist in diesem Zusammenhang schwer vorstellbar. Andererseits weisen die Südanrainer darauf hin, dass man sich einen Einsatz der VJTF vorstellen könne, wenn es etwa zu einem „IS“-Angriff auf den Suez-Kanal kommen sollte und ägyptische Truppen allein diesen nicht abwehren könnten. Wie würde es um die Verteidigung Osteuropas stehen, wenn Russland eine solche Situation als Anlass für eine Aggression etwa gegen das Baltikum wählen würde?
Sorge bereitet der Umstand, dass mittlerweile die nicht absehbaren Auswirkungen der Flüchtlingskrise in die NATO-Debatten einsickern. So sehen südliche NATO-Mitglieder in dem Verhalten einiger osteuropäischer Staaten gegenüber den Flüchtlingsströmen ein Zeichen fehlender Solidarität und verweisen darauf, dass es die gleichen Osteuropäer seien, die auf die Bündnissolidarität angesichts einer russischen Bedrohung setzen würden. Obgleich diese Debatte zwei getrennte Problembereiche vermischt, enthält sie bündnispolitischen Sprengstoff.
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Die Zukunft der NATO-Partnerschaften
Die NATO pflegte in der Vergangenheit Partnerschaften mit Nicht-NATO-Staaten zu (in der Regel) beiderseitigem Nutzen. Meist waren diese Partnerschaften im Rahmen größerer Foren organisiert: der Partnership for Peace (PfP) in Osteuropa und Zentralasien, dem Mediterranean Dialogue (MD) im Mittelmeerraum oder der Istanbul Cooperation Initiative (ICI) mit den Golfstaaten. Auch bestimmten die Partner weitgehend selbst, wie intensiv sie die Kooperation mit der NATO gestalten wollten.
Durch die Entwicklungen der letzten Monate und Jahre sind diese Foren weitgehend dysfunktional geworden. PfP, dem sowohl Russland als auch die Ukraine angehören, ist durch den aktuellen Konflikt gelähmt. Der Mittelmeerdialog leidet seit Jahren an dem Konflikt zwischen Israel, Ägypten und der Türkei, und die ohnehin nie sonderlich aktiv gewesene ICI ist über den Umgang mit dem „IS“ zerstritten.
Obgleich man trotz der Ineffizienz aus politischen Gründen keines dieser Foren auflösen wird, ist in der Artikel-5-Welt ein Neuanfang in der Partnerschaftspolitik unabdingbar. Zwei neue Ansätze zeigen sich derzeit in der Bündnisdebatte: Zum einen werden Partnerschaften nicht mehr als Gruppenorganisation verstanden, bei der der Partner wählt, in welchem Umfang er sich einbringt. Stattdessen definiert die NATO gemäß ihrer Bedürfnisse Staaten, die – sofern sie dazu bereit sind – mit der NATO partnerschaftliche Aktivitäten durchführen. Dabei geht es darum, von den Partnern Unterstützung etwa im Krisenmanagement zu erhalten und im Gegenzug durch Training oder Ausrüstungshilfe die Partnerstaaten zu effizientem Handeln zu befähigen. Damit ist der NATO-Partnerschaftsgedanke sehr nah an der Logik der deutschen „Ertüchtigungsinitiative“ – wobei sich letztere nicht nur auf militärische Unterstützung bezieht. Mögliche Partner und damit „Ankerstaaten“ der NATO wären etwa Jordanien, Marokko und Tunesien. Zum anderen würde die Kooperation mit diesen Staaten nicht mehr im Rahmen der oben genannten Foren erfolgen, sondern auf individueller Basis – in der NATO-Terminologie „28+1“ oder „28+2“ genannt.
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NATO-Erweiterung
Ein Dauerthema der NATO-Gipfel der annähernd letzten zwei Jahrzehnte ist die Frage der NATO-Erweiterung. Streitfälle werden auch im kommenden Jahr wieder Kandidaten wie Georgien, die Ukraine, Montenegro oder Mazedonien sein. Allerdings bringen auch hier die Realitäten der Artikel-5-Welt bedeutende Veränderungen mit sich.
Zunächst sind durch die revisionistische Politik Moskaus in Osteuropa mit Schweden und Finnland zwei Länder ins Blickfeld geraten, in denen in der Vergangenheit ein NATO-Beitritt nur als eine sehr entfernte Option erwogen wurde. Dies hat sich grundlegend verändert. Der Warschauer Gipfel wird somit auf die in beiden Ländern anschwellende Debatte über eine NATO-Mitgliedschaft eingehen müssen – wann auch immer Helsinki und Stockholm einen Beitrittswunsch äußern werden.
Montenegro wird aller Wahrscheinlichkeit nach zum Beitritt eingeladen werden – die vorbereitenden Beschlüsse sollen auf dem NATO-Außenministertreffen im Dezember 2015 gefasst werden. Dies ist vor allem ein politisches Signal auch gegenüber Russland, dass man an der Politik der offenen Tür festhält und kein russisches Veto gegenüber dem Prinzip der freien Bündniswahl akzeptiert. Zwar ist der Beitrag, den Montenegro zur NATO leisten kann, verschwindend gering, doch das begrenzt zugleich auch den Aufwand, den die Integration dieses kleinen Landes in das Bündnis erfordert.
Bei der Frage einer perspektivischen NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, Georgiens oder von weiteren Staaten des Westbalkans geht es mittlerweile nicht mehr nur um die Staaten selbst, sondern um einen Grundsatzstreit, der sich quer durch das Bündnis zieht: Soll – wie in der Vergangenheit vor allem von den USA vertreten – die NATO-Erweiterung weiterhin als ein kontinuierlicher Prozess zur Transformation Ost- und Südosteuropas („Europe whole and free“) verstanden werden, oder soll vor allem die Leistungsfähigkeit des Bündnisses im Vordergrund stehen?
Dabei ist die Frage, welcher der beiden Wege aktuell für Russland verträglicher ist, nicht so wichtig, wie es scheint. Vertreter der zweiten Position – wozu auch Deutschland gehört – haben schon in der Vergangenheit darauf verwiesen, dass eine Integration etwa der Ukraine als politisch zerstrittener sowie durch Korruption und schlechter Regierungsführung gelähmter Staat extrem schwierig gewesen wäre. Dahinter steht auch eine Enttäuschung über andere in die NATO (und in die EU) aufgenommener Staaten, die nach ihrem Beitritt die übernommenen Zusagen und Verpflichtungen ignoriert haben. Im heutigen sicherheitspolitischen Umfeld, in dem die NATO vor allem wieder auf die Landes- und Bündnisverteidigung ausreichtet ist, stellt sich die Frage, ob das Bündnis überhaupt in der Lage wäre, die Ukraine als zweitgrößten Flächenstaat in Europa militärisch zu verteidigen. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass nach dem Beitritt Montenegros wieder eine längere Pause im Erweiterungsprozess eintritt.
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Die Zukunft der nuklearen Abschreckung
Besonders heikel ist die Frage nach der künftigen Rolle von Kernwaffen in der Strategie der NATO. Nach dem vom deutschen Außenminister Guido Westerwelle 2009 angestoßenen Streit um den Abzug amerikanischer Waffen aus Europa hatte das Bündnis 2012 einen fein austarierten Kompromiss gefunden – den „Deterrence and Defence Posture Review“ (DDPR) – mit dem sich die nuklearen Interessenunterschiede in der NATO überdecken ließen. Er basierte auf zwei Grundlagen: Russland ist erstens Partner der NATO und richtet zweitens sein großes Kernwaffenarsenal in Europa nicht gegen das Bündnis. Beide Voraussetzungen gelten nicht mehr. Russland hat sich endgültig aus der Partnerschaft zurückgezogen und definiert sich selbst als anti-westliche Macht. Darüber hinaus simuliert das russische Militär in Übungen Kernwaffeneinsätze gegen Polen, droht mit der weiteren Verlagerung von Atomwaffen nach Kaliningrad und verletzt mit nuklearfähigen Kampfflugzeugen den NATO-Luftraum.
Das bedeutet nun nicht, dass die NATO ihrerseits ihr (beziehungsweise das amerikanische) Kernwaffenpotential verstärken muss. Es erfordert allerdings einen neuen nuklearstrategischen Konsens in Bündnis. Dieser wird schwer zu finden sein, trifft derzeit das Drängen der osteuropäischen Mitgliedstaaten auf eine glaubwürdige nukleare Abschreckung als Mittel zur Kriegsverhinderung doch auf die traditionell nuklearkritischen Stimmungen in Ländern wie Deutschland oder den Niederlanden.
Darüber hinaus gibt es weitere Probleme. Die NATO kann zwar auf die Erfahrung des Kalten Krieges zurückgreifen, als die damals konventionell hoch gerüstete Sowjetunion abgeschreckt werden konnte. Heute geht es hingegen darum, ein konventionell unterlegenes Russland abzuschrecken, wobei die Gefahr einer nuklearen Kurzschlussreaktion der russischen Führung stets gegeben ist. Generell ist es schwieriger, eine „declining power“ wie Russland abzuschrecken, als eine etablierte oder aufsteigende Macht. Insbesondere die Frage, welche Funktion die in einigen europäischen NATO-Staaten stationierten amerikanischen Atomwaffen in dieser Konstellation haben werden, wird Gegenstand der Warschauer Debatten sein. Auch wird man sich den unterschiedlichen Reaktionszeiten widmen müssen. Russland ist zwar konventionell insgesamt unterlegen, kann aber in zwei bis drei Tagen große Truppenstärken aus Übungen heraus konzentrieren. Die konventionelle Reaktionszeit der NATO im Rahmen der VJTF von fünf bis sieben Tagen ist noch eher optimistisch eingeschätzt. Die nuklearfähigen Kampfflugzeuge der NATO, die mit amerikanischen Atombomben ausgestattet werden können, haben eine Reaktionszeit von etwa 30 Tagen. Aus diesem Missverhältnis ergibt sich die Forderung nach kürzeren Reaktionszeiten (was wiederum mit Kosten verbunden ist) und verstärkter Übungstätigkeit auch im Nuklearbereich.
Es entbehrt rückblickend nicht einer gewissen Ironie, dass die Nuklearfrage auf dem Warschauer Gipfel thematisiert werden dürfte, während der amerikanische Präsident dort seinen Abschied von der NATO gibt. War es doch Barack Obama, der 2009 den Friedensnobelpreis für die aus heutiger Sicht unrealistische Idee von der nuklearwaffenfreien Welt erhalten hatte.
Fazit
Der NATO-Gipfel in Warschau kann ein Erfolg werden, wenn es bis dahin gelingt, die unterschiedlichen Positionen im Bündnis zu harmonisieren. Unabhängig von seinem Ausgang wird auch dieser Gipfel wieder mit den bei solchen Spitzentreffen üblichen Superlativen wie „historisch“ oder „bahnbrechend“ belegt werden. Schafft es die Allianz, den bisher gezeigten Zusammenhalt gegenüber den neuen Bedrohungen aufrecht zu erhalten, wird Warschau ein weiterer Schritt auf dem Weg der Anpassung der NATO an die Zwänge der Artikel-5-Welt sein – nicht mehr aber auch nicht weniger.
Karl-Heinz Kamp ist Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.
Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik | ISSN 2366-0805 Seite 1/5