Ostasien und Europa stehen angesichts der veränderten US-Bündnispolitik vor einer gemeinsamen Frage: Wie glaubwürdig ist die nukleare Schutzgarantie der USA? Das koreanische Research Institute for Security Affairs lud deshalb gemeinsam mit der Konrad-Adenauer-Stiftung und der BAKS Experten aus Praxis und Forschung zur Diskussion nach Seoul ein.
Die Krise um Nordkoreas Nuklearprogramm könnte bald entschärft werden. Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un hat angekündigt, das Nukleartestgelände Punggye-ri Ende Mai zu schließen. Bereits Ende April traf Kim den Präsident Südkoreas Moon Jae-in zum direkten Gespräch, und für Mitte Juni ist ein Treffen mit US-Präsident Donald Trump geplant. Öffnet sich das Regime in Nordkorea? Entspannungsphasen und Gipfeldiplomatie zwischen Süd- und Nordkorea sind zwar nicht neu, könnten diesmal allerdings – bei aller gebotenen Vorsicht – zu einer wirklichen Entspannung zwischen den verfeindeten Nachbarn führen. Vor diesem Hintergrund kamen am 10. Mai auf Einladung der BAKS, des koreanischen Research Institute for Security Affairs (RINSA) und der Konrad-Adenauer-Stiftung deutsche und koreanische Vertreter aus Ministerien, Sicherheitsinstitutionen und Wissenschaft in Seoul zusammen, um über die Herausforderungen nuklearer Abschreckung zu diskutieren.
Die Notwendigkeit eines europäisch-asiatischen Dialogs über nukleare Abschreckung ist offensichtlich, da Kernwaffen in beiden Regionen eine Rolle spielen. (NATO-) Europa erlebt eine Renaissance nuklearer Abschreckung, nachdem Russland mit seiner Aggression gegen die Ukraine die europäische Sicherheitsordnung aufgekündigt, mehrfach durch nukleare Drohgebärden, zum Beispiel gegen Dänemark, Aufsehen erregt hat, und von seinen westlichen Nachbarn als Bedrohung empfunden wird. In Asien war das Abschreckungsproblem aufgrund der großen Zahl von Nuklearmächten in der Region nie vom Tisch und hat durch die nuklearen Ambitionen Nordkoreas noch eine besondere Dringlichkeit gewonnen – von der aggressiven Rhetorik Trumps und Kims ganz zu schweigen.
"Chicago für Frankfurt opfern": Erweiterte Abschreckung setzt Glaubwürdigkeit voraus
Dabei geht es weit mehr als angebliche Atomwaffenknöpfe auf Schreibtischen. In beiden Regionen gilt das Konzept der Erweiterten Abschreckung (Extended Deterrence), demzufolge die Nuklearmacht USA Sicherheitsgarantien für seine nicht-nuklearen Verbündeten in Europa und Asien gegeben hat. Damit sind beide Regionen mit dem grundsätzlichen Glaubwürdigkeitsproblem der Erweiterten Abschreckung konfrontiert: Wie glaubwürdig ist ein Sicherheitsversprechen der Schutzmacht, wenn diese, sobald sie für einen Partner in die Bresche springt, ihrerseits mit nuklearen Vergeltungsschlägen des Angreifers rechnen muss? Die aus dem Kalten Krieg bekannte Frage, "ob jemand bereit wäre, Chicago für Frankfurt zu opfern", lässt sich auf die heutige Situation in Asien wie Europa übertragen.
Auch sind beide Regionen mit den Veränderungen amerikanischer Bündnispolitik unter Präsident Trump konfrontiert. Indem der neue US-Präsident Bedingungen für die Geltung von Sicherheitszusagen stellt – etwa politisches Wohlverhalten oder finanzielle Beiträge – untergräbt er die Glaubwürdigkeit der Erweiterten Abschreckung weiter, da Beistandszusagen – ob nuklear oder konventionell – immer bedingungslos gelten müssen, um bei Verbündeten und Gegnern die beabsichtigten Effekte von Abschreckung und Rückversicherung auszulösen.
Nuklearwaffen bleiben politische Realität
- in Asien und in Europa
Schließlich haben beide Regionen Probleme mit der Akzeptanz der Idee nuklearer Abschreckung in der Öffentlichkeit. Das ist verständlich angesichts der unauflösbaren Dilemmas, die mit diesem Konzept verbunden sind. Nukleare Abschreckung kann konfliktverhindernd wirken, weil sie einen unakzeptablen Schaden androht, darf aber auch nicht scheitern, weil die Folgen eines Kernwaffeneinsatzes katastrophal wären. Verschärft wird die öffentliche Kritik noch durch das Werben für eine kernwaffenfreie Welt, die den Befürwortern zufolge in absehbarer Zeit erreicht werden könne, wenn nur der politische Wille vorhanden wäre. Nun bestreitet niemand, dass eine Welt ohne Atomwaffen eine bessere wäre, und dass man langfristig auf die völlige nukleare Abrüstung hinarbeiten solle. Für die vorhersehbare Zukunft bleibt die atomwaffenfreie Welt aber eine Illusion. Kernwaffen werden stattdessen ein Faktor der internationalen Politik bleiben. Sie spiegeln insofern auch das gespannte Verhältnis der Staaten zueinander wieder, weshalb sich die Diskussion auch den Problemen der nuklearen Abschreckung nicht verschließen kann.
Die koreanischen Gesprächspartner beklagten vor allem, dass die Glaubwürdigkeitsfrage in ihrem Land noch deutlicher gestellt werde als im europäischen Kontext. In Europa beruht die Erweiterte Abschreckung seit jeher und unabhängig von der jeweiligen US-Regierung auf drei Säulen: der Präsenz amerikanischer Kernwaffen auf europäischem Boden, der Mitsprache der NATO-Mitglieder hinsichtlich der amerikanischen Nuklearplanung und dem Abhalten gemeinsamer Übungen, in denen nukleare Verfahren geprobt werden. Bei den asiatischen Ländern, die unter dem amerikanischen Nuklearschirm stehen, gibt es nichts davon, und dementsprechend sei dort die Unsicherheit gegenüber der Tragfähigkeit amerikanischer Versprechen größer.
Würde Kims Regime selbst eine vorsichtige Öffnung des Lands überleben?
Mehr Einfluss der Partner auf die Abschreckungspolitik der USA sei auch dann nötig, wenn sich das derzeitige Tauwetter zwischen Nord und Süd als dauerhaft erweisen und eine Verminderung der nordkoreanischen Nuklearbedrohung möglich werden sollte. Unabhängig von derzeitigen Beschlüssen, so die Einschätzung der Experten, würden die Umsetzung nuklearer Abrüstungs-schritte und deren Verifikation Jahre beanspruchen. Derzeit ist nicht einmal bekannt, über welche nuklearen Fähigkeiten Nordkorea genau verfügt und wie Überprüfungsmaßnahmen im verschlossensten Staat der Welt möglich sein sollen. Unklar ist auch, ob das Regime selbst eine vorsichtige Öffnung und eine Lockerung des Drucks auf das eigene Volk überleben würde. Folglich ist Südkorea von einer Euphorie gegenüber den Signalen des Nordens weit entfernt.
Für den Fall, dass die derzeitige Annäherung wieder einmal scheitern sollte, schlossen einige asiatische Gesprächspartner nicht aus, dass Südkorea zumindest zeitweise den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) verlassen müsste, um sich eigene Kernwaffen zu beschaffen. Von deutscher Seite wurde auf die Gefahren eines solches Schrittes hingewiesen, weil man damit nicht nur ein Abschreckungs-signal an Nordkorea sende, sondern auch von Nachbarn wie Japan oder China als Bedrohung wahrgenommen würde. Die Folgen für die Stabilität der gesamten Region Ostasien wären nur schwer abzusehen.
Bemerkenswert war die Deutlichkeit der Kritik an den USA, obgleich Washington für sich in Anspruch nimmt, die Annäherung der beiden koreanischen Staaten erst möglich gemacht zu haben. So wurden etwa die amerikanischen Vorbereitungen des USA-Nordkorea-Gipfels als „sehr verbesserungswürdig“ beschrieben, und die Aufkündigung des Iran-Abkommens durch Präsident Trump beschrieb man diplomatisch als „nur begrenzt hilfreich“. Die sehr offen geführten Diskussionen haben gezeigt, wie notwendig ein solcher Austausch ist. In beiden Region erkennt man, dass sich die unbequemen Fragen, die sich hinsichtlich der nuklearen Abschreckung stellen, nicht mehr auf die lange Bank schieben lassen und hinter verschlossenen Türen diskutiert werden können.
Autor: Karl-Heinz Kamp