Arbeitspapiere

Das atomare Element im Russland-Ukraine-Konflikt

3/2015
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Russlands Aggression gegen die Ukraine bedroht nicht nur die europäische Friedensordnung sondern bringt auch die Grundfragen nuklearer Abschreckung wieder auf die euro-atlantische Agenda. Was ist von den atomaren Drohgebärden Moskaus zu halten? Welche Konsequenzen ergeben sich für die in Europa stationierten amerikanischen Kernwaffen? Was folgt daraus langfristig für die Nuklearstrategie der NATO.

Russlands Aggression gegen die Ukraine bedroht nicht nur die europäische Friedensordnung sondern bringt auch die Grundfragen nuklearer Abschreckung wieder auf die euro-atlantische Agenda. Was ist von den atomaren Drohgebärden Moskaus zu halten? Welche Konsequenzen ergeben sich für die in Europa stationierten amerikanischen Kernwaffen? Was folgt daraus langfristig für die Nuklearstrategie der NATO?

Je deutlicher es wird, dass es sich bei der Ukraine-Russland Krise nicht um eine durchziehende Schlecht-wetterfront, sondern um einen nachhaltigen politischen Klimawandel handelt, desto klarer zeichnen sich die fundamentalen Veränderungen für die euro-atlantische Sicherheitspolitik ab. Die Frage der nuklearen Abschreckung, in den letzten zwei Jahrzehnten eher ein Randthema, drängt sich wieder in den Vordergrund. Das Jahr 2008, in dem das russische Militär große Schwächen im Krieg mit Georgien offenbarte, markierte nicht nur den Beginn einer Modernisierung der konventionellen Streitkräfte. Auch das Atomwaffenarsenal Russlands wurde seither stetig verstärkt und verbessert. Neue ballistische Raketensysteme wurden eingeführt und mit mehr Sprengköpfen bestückt. Moderne Unterseeboote ersetzten die noch aus den Zeiten des Kalten Krieges stammenden Modelle. Weitreichende Marschflugkörper wurden getestet, was nach Ansicht der USA eine gravierende Verletzung des Abrüstungsvertrages über die Mittelstreckenwaffen (INF-Vertrag) von 1987 bedeutet.1

Noch schwerer wiegt, dass Moskau seine Atomwaffen in den letzten Jahren stetig in militärische Gedankenspiele einbezieht. Bereits 2008 kündigte der stellvertretende russische Generalstabschef Nogovitsyn an, dass Warschau zum Ziel russischer Atomwaffen werde, wenn man – wie zu der Zeit geplant – Teile des amerikanischen Raketenabwehrsystems in Polen stationieren würde. Ein Jahr später wurden im Rahmen des Militärmanövers „Zapad 2009“ (Zapad bedeutet sinnigerweise „Westen“) Kernwaffeneinsätze gegen Polen simuliert. Seit Beginn der Ukraine-Krise führt Russland nahezu im Monatsrhythmus militärische Übungen durch, in die nuklearfähige Waffensysteme einbezogen werden.

Auch hat der Vertrag über die Nukleare Nichtverbreitung (NVV), der durch die nuklearen Aktivitäten des Iran ohnehin beschädigt ist, eine weitere Delle erlitten. Die Ukraine war 1994 dem NVV als nicht-Nuklearstaat beigetreten, nachdem man zuvor alle im Land gelagerten sowjetischen Atomwaffen an Russland zurückgegeben hatte. Im Ausgleich hatten sich die USA, Russland und Großbritannien im Budapester Memorandum vom 5. Dezember 1994 verpflichtet, die territoriale Integrität der Ukraine nicht zu verletzten. Russlands Bruch dieses Abkommen durch die Annexion der Krim ist bislang folgenlos geblieben. Kein anderer Nuklearstaat außerhalb des NVV (Pakistan, Indien, Israel, Nordkorea) wird sich je auf ein ähnliches Abkommen einlassen.

Schließlich kündigte Russland im Dezember 2014 einen tragenden Pfeiler amerikanisch-russischer Nuklearkooperation auf, das sogenannte Nunn-Lugar-Abkommen zur Nuklearsicherheit. Die beiden US-Senatoren Sam Nunn und Richard Lugar hatten 1991 eine Initiative vorangetrieben, um die riesigen Bestände an Kernwaffenmaterial in der untergegangenen Sowjetunion zu sichern und vor Diebstahl und Schmuggel zu schützen. Seither haben die USA etwa zwei Milliarden Dollar aufgewandt, um Russland bei der Beseitigung ausgemusterter Kernwaffen und ausgedienter Atom-U-Boote zu helfen oder Gehälter russischer Nuklearwissenschaftler zu zahlen, um deren Abwanderung in die Krisenregionen des Mittleren Ostens zu verhindern. Auch andere Länder – einschließlich Deutschland – haben finanzielle Beiträge geleistet, um Russland bei der Sicherung seiner Massenvernichtungsmittel (auch chemische und biologische Waffen) zu helfen.

Damit gewinnt der tiefe Konflikt mit Russland auch mit Blick auf nukleare Gefahren eine doppelte Brisanz: Es besteht die Befürchtung, dass Moskau seine nukleare Hemmschwelle gesenkt hat und atomare Drohungen noch stärker als bisher in seine Politik gegenüber den Nachbarn und der NATO einbezieht. Dadurch könnten Kernwaffen wieder einen Teil der politischen Bedeutung zurück erlangen, die sie im Kalten Krieg besessen hatten. Zweitens wächst gerade bei den osteuropäischen NATO-Mitgliedern die Furcht – ob rational begründet oder nicht – vor einem möglichen Einsatz dieser Waffen. Aus beidem folgt die Frage, ob und wenn ja wie die NATO ihre Nuklearstrategie und ihre nukleares Abschreckungspotential anpassen muss.

Russisches nukleares Denken

Offene oder verdeckte Nukleardrohungen gehören seit vielen Jahren zum Repertoire russischer Politik. Ob es um die NATO-Mitgliedschaft der baltischen Staaten ging oder um den Aufbau einer amerikanischen Raketenabwehr – stets drohten Politiker und Militärs mit der Verlagerung von Atomwaffen an die NATO-Grenzen oder gar mit dem deren Einsatz. Das ist nicht nur politische Unbedachtsamkeit, sondern deutet auch auf einen grundlegenden Unterschied im nuklearen Denken hin. Für die westlichen Nuklearmächte USA, Frankreich und Großbritannien hat das Nukleare als „Machtwährung“ seit dem Ende des Kalten Krieges erheblich an Wert eingebüßt. Demnach helfen Kernwaffen kaum noch bei den heutigen sicherheitspolitischen Problemen, und der Status als Atommacht lässt sich nur noch sehr begrenzt in politischen Einfluss ummünzen. Die strategische Bedeutung von Kernwaffen ist deshalb deutlich gesunken.

Auch unterscheiden die westlichen Atommächte konzeptionell – vereinfacht dargestellt – zwischen „einsetzbaren“ konventionellen Waffen und letztendlich „nicht-einsetzbaren“ Nuklearwaffen, denen die politische Aufgabe der Abschreckung zukommt. Nukleare Eskalation ist denkbar, wird aber nicht ernsthaft in Erwägung gezogen, weil der Schaden unvorstellbar groß wäre. Diese Denkweise ist allerdings nicht völlig konsistent, da Atomwaffen einsetzbereit sein müssen und ein möglicher Einsatz auch glaubhaft sein muss, damit sie ihre Abschreckungswirkung entfalten können. Wäre ein Gebrauch prinzipiell ausgeschlossen, wären sie wirkungslos. Dieses schwer zu akzeptierende Dilemma, dass Kernwaffen einsatzbar sein müssen, um nicht eingesetzt zu werden, ist einer der Gründe für die öffentliche Kritik an der Idee der nuklearen Abschreckung.

Russland versteht hingegen nukleare Waffen als integraler Teil seiner Militärmacht und vor allem als Kompensation für fehlende konventionelle Kräfte gegenüber einer NATO, deren Stärke durch den Beitritt ehemaliger Mitglieder des Warschauer Paktes noch gewachsen ist. Die Bedeutung von Kernwaffen ist deshalb in der Wahrnehmung Moskaus stetig gestiegen.

Seit der ersten russischen Militärdoktrin aus dem Jahr 2000 werden Kernwaffeneinsätze sogar offiziell als Mittel der De-Eskalation gesehen.2 Diese aus westlicher Sicht merkwürdige Logik gründet auf der Wahrnehmung der NATO als ein konventionell überlegenes Bündnis. Bei einem großangelegten Angriff der NATO, der offenbar als reale Gefahr gesehen wird, würde ein begrenzter Kernwaffeneinsatz dem Gegner einen „maßgeschneiderten Schaden“ (tailored damage) zufügen, um den zerstörerischen Großangriff zu beenden – De-Eskalation also.

Darüber hinaus sieht Moskau Atomwaffen immer noch als wesentlicher Faktor staatlicher Macht – vermutlich auch deshalb, weil es eines der letzten Elemente ist, das vom einstigen sowjetischen Supermachtanspruch geblieben ist. Präsident Putin betonte in mehreren Reden der vergangenen Monate, der Westen solle nicht vergessen, dass Russland eine Atommacht sei.

Beides, die Betonung des eigenen Nuklearstatus' und die Demonstration nuklearer Waffen – etwa durch Einsätze von kernwaffenfähigen Bear-Bombern über dem Ärmelkanal – sind bewusst ausgesandte Signale sowohl an die NATO als auch an Russlands Nachbarn. Gegenüber der NATO bedeutet dieses „nuclear messaging“, dass man sich der militärischen Stärke der Allianz sehr wohl bewusst ist und mit den eigenen Kernwaffen entgegenhält. Gegenüber den Nachbarn – ob NATO-Mitglieder oder nicht – baut Russland die Drohkulisse eines konkreten Kernwaffeneinsatzes als Mittel der Einschüchterung auf.

Die Nukleardiskussion in der NATO

Aus Sicht der NATO haben diese unterschiedlichen nuklearen Denkweisen – hier eher politisch, dort eher militärisch – lange keine große Rolle gespielt. Zwar versteht das Atlantische Bündnis sich als eine nukleare Allianz, in der Nuklearstaaten Sicherheitsversprechen für ihre nicht-nuklearen Bündnispartner übernommen haben, allerdings war die nukleare Abschreckung nach dem Ende des Ost-West Konfliktes nicht mehr gegen einen bestimmten Gegner gerichtet. Damit bot das seit dem Kalten Krieg ungebrochene russische Verständnis von Kernwaffen als einsetzbare Machtmittel nur begrenzt Anlass zur Sorge.

Auch deshalb hat die kleine Zahl von Atombomben, welche die USA nach wie vor auf dem Territorium einiger europäischer NATO-Mitglieder stationiert haben, in der öffentlichen Wahrnehmung nur selten eine Rolle gespielt. Zuletzt machten diese „NATO-Nuklearwaffen“ – ein populärer aber falscher Begriff, da die gelagerten Bomben ausschließlich amerikanischem Befehl unterstehen – im Jahr 2009 Schlagzeilen. Damals forderte der neu ins Amt gekommene deutsche Außenminister Westerwelle in einer nicht in der NATO abgestimmten Initiative den Abzug der US-Atomwaffen von deutschem Boden. Westerwelle verwies nicht zu Unrecht auf den Umstand, dass es sich bei diesen Bomben vom Typ B-61 um Relikte aus dem Kalten Krieg handele, deren Ziele einst auf dem Territorium der heutigen NATO-Mitgliedsstaaten in Osteuropa lagen. Angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, in dem nukleare Gefahren vor allem in Ostasien oder im Mittleren Osten lauerten (Russland wurde noch als Partner gesehen) war die Logik von Kernwaffen, die mit Trägerflugzeugen ins Ziel gebracht würden, nur schwer zu begründen.

Was der Minister allerdings völlig unterschätzt hatte, war die politische Bedeutung dieser Waffen als Symbol für die Glaubwürdigkeit des amerikanischen nuklearen Schutzschirms. Darum stieß sein Vorstoß nicht nur bei den NATO-Nuklearmächten, sondern vor allem in Osteuropa, wo es historisch bedingt stets Vorbehalte gegenüber Moskau gab, auf völliges Unverständnis. Die NATO löste das Dilemma in einem Doppelschritt. Zum einen verständigten sich alle 28 Mitgliedsländer 2012 auf ein neues nukleares Grundsatzdokument – den Deterrence and Defense Posture Review (DDPR) – in dem Atomwaffen zum Kernelelement („core element“) der Abschreckung erklärt wurden. Auch wurde apodiktisch festgelegt, dass die amerikanischen Sprengköpfe in Europa den Erfordernissen der Abschreckung entsprechen würden. Damit war die Debatte über die Sinn dieser Waffen vorläufig vom Tisch. Zum anderen beschloss die NATO ein neues Rüstungskontroll-Komitee, das sich mit Russland über die in Ost und West gelagerten sogenannten „taktischen Atomwaffen“ – also über die US-Bomben und die russischen Entsprechungen – verständigen sollte. Allerdings kann dieses Gremium, das erst mit einiger Verzögerung die Arbeit aufnahm, nur eine beratende Rolle haben, da die USA und Russland über ihre Atomwaffen ausschließlich bilateral verhandeln.

In die ersten Debatten des neuen Komitees fiel die Aggression Moskaus gegen die Ukraine und veränderte die internationale Sicherheitslandschaft und damit die Nukleardebatte grundlegend.

Die Renaissance nuklearer Abschreckung

Mit Russlands Ausgreifen gegenüber seinen Nachbarn gewinnt die klassische Rolle der NATO als Instrument der Selbstverteidigung gemäß Artikel 5 des Washingtoner Vertrages wieder an Bedeutung. Damit gerät auch die Abschreckung als Mittel zur Kriegsverhinderung wieder in den Vordergrund. Abschreckung zielt auf die Kosten-Nutzen-Analyse eines potentiellen Aggressors indem sie klarstellt, dass der Schaden im Falle eines Angriffs größer sein wird, als der mögliche Gewinn, den sich der Aggressor erhoffen mag. Handelt dieser rational, so wird er nicht zu den Waffen greifen.

Angesichts der Entwicklungen in der Ukraine und der Sorgen der osteuropäischen NATO-Mitglieder ist verständlich, dass die NATO zunächst ihre konventionellen Kräfte verstärkt, um ein solches Abschreckungssignal zu senden. Wesentliche Maßnahmen des sogenannten „Readiness Action Plan“ sollen bis zum nächsten NATO-Gipfeltreffen 2016 in Warschau umgesetzt sein. Darüber hinaus stellt sich aber die Frage, wie künftig nukleare Abschreckung glaubwürdig gewährleistet werden kann. Als die NATO im DDPR die Diskussion um die Rolle von Kernwaffen einstimmig für beendet erklärte, wurde Russland noch als Partner gesehen. Auch war die Allianz primär mit Krisenmanagement in Afghanistan, mit dem Aufbau einer Raketenabwehr oder den Folgen der Finanzkrise befasst. Mit Blick auf Russland, das nach wie vor über 5.000 bis 7.000 Atomsprengköpfe verfügt, sich selbst als anti-westlich definiert und die NATO als eine konkrete Gefahr darstellt, muss Nuklearstrategie neu diskutiert und begründet werden.

a) US-Atomwaffen in Europa

Die in Europa stationierten amerikanischen B-61-Bomben werden derzeit technisch überholt und in einigen Teilkomponenten heutigen technologischen Standards angepasst. In der Vergangenheit gab es eine Debatte, ob diese „Modernisierung“ lediglich eine Überarbeitung sei, oder ob die Waffen mit grundlegend neuen Fähigkeiten versehen würden – was wiederum von Russland als aggressiv gewertet werden könnte. Auch wurde gelegentlich gemutmaßt, dass die USA die erheblichen Kosten für diese Modernisierung angesichts allgegenwärtiger Budgetkürzungen gar nicht mehr aufbringen wollen und die Waffen letztlich aus Europa abziehen würden. Beide Aspekte dürften seit den jüngsten Entwicklungen kaum noch eine Rolle spielen. Angesichts der Sorgen in Osteuropa ist der symbolische Wert dieser Waffen noch gestiegen, sodass Fragen nach ihrer konzeptionellen Sinnhaftigkeit in den Hintergrund treten. Hinzu kommt, dass das nukleare Abschreckungspotential gegenüber Russland nicht allein aus den amerikanischen Bomben gebildet wird, sondern aus dem gesamten atomaren Arsenal plus (mit Einschränkungen) der Atomwaffen der NATO-Mitglieder Frankreich und Großbritannien.

Langfristig stellt sich aber die Frage, wie die NATO bei einer weiteren Verschärfung der Gegnerschaft mit Russland reagieren soll – etwa wenn sich die amerikanischen Vorwürfe eines Bruchs des INF-Vertrages als korrekt herausstellen sollten. Aus der amerikanischen Administration wird bestätigt, dass mögliche Gegenmaßnahmen – auch militärische – bereits geprüft würden. Eine Stationierung weiterer amerikanischer Atomwaffen ist allerdings auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Sie wäre weder politisch durchsetzbar noch militärisch begründbar, da die USA über ein ausreichend breites Spektrum an Kernwaffen verfügen. Auch gibt es noch keinen nuklearstrategischen Rahmen für die neue Sicherheitslage nach 2014, der Nachrüstungsschritte begründen könnte. Daraus ergibt sich aber auch die Notwendigkeit, sich in der NATO wieder stärker mit Nuklearfragen zu befassen, um Abschreckungserfordernisse, Strategie und Waffensysteme in Einklang zu bringen.

b) Die nuklearen Trägersysteme

Kritiker der amerikanischen Kernwaffen in Europa hatten in der Vergangenheit häufig spekuliert, dass diese Waffen auch deshalb ihre Funktion verlieren würden, weil die nuklearen Trägerflugzeuge (Tornado, F-15, F16) an das Ende ihre Betriebszeit kämen und etwa Deutschland nicht bereit wäre, das teure nuklearfähige Modell F-35 der USA zu beschaffen. Ohne Trägerflugzeuge seien die Kernwaffen wertlos und müssten abgezogen werden. Allerdings war die Frage des Trägerflugzeuges stets weniger technisch, sondern eher politisch. Technisch kann die Laufzeit eines Flugzeuges immer weiter ausgeweitet werden – es steigen allerdings die Kosten ganz erheblich. Der amerikanische atomare Langstreckenbomber B-52 ist heute noch in Betrieb – er wurde vor über 60 Jahren (1952) erstmals in Dienst gestellt. Auch der Tornado kann weiter betrieben werden, wenn der politische Wille besteht und die Industrie – gegen Bezahlung – Ersatzteile auch über die avisierte Lebenszeit hinaus zur Verfügung stellt. Ebenso hatten amerikanische Spitzenmilitärs schon vor längerem betont, dass die Bomben auch von amerikanischen Jets in Europa transportiert werden könnten, falls die Bündnispartner ihre eigenen Flugzeuge dafür nicht mehr zur Verfügung stellen wollen.3

Real dürfte sich diese Frage kaum stellen. Der erstaunliche Zusammenhalt der NATO (und der EU) in der Russlandkrise hat gezeigt, wie sehr sich die Bündnispartner dem Ernst der Lage bewusst sind. Somit ist es unwahrscheinlich, dass sich eines der nuklearen Stationierungsländer seiner Bündnisverantwortung entzieht und die Bereitstellung von Trägerflugzeugen nicht mehr sicherstellt, selbst wenn dies mit höheren Kosten verbunden ist.

c) Nukleare Rüstungskontrolle

Die USA hatte eine Verminderung ihrer Atomwaffen in Europa gemeinsam mit russischen Abrüstungsschritten stets angeboten. Allerdings scheiterte eine solche Rüstungskontrolle unter anderem daran, dass Moskau stets forderte, Washington müsste seine Kernwaffen zuallererst aus Europa auf amerikanisches Territorium zurückziehen, da auch Russlands Atomwaffen ausschließlich auf russischem Boden lagern würden. Erst dann könne mit dem beiderseitigen Abbau der Waffen begonnen werden.

Unter den aktuellen konfrontativen Bedingungen ist eine gemeinsame Reduzierung der Atomwaffen in Europe kaum noch vorstellbar. Russland zieht sich aus amerikanisch-russischen Gremien schrittweise zurück. Im November 2014 ließ Moskau wissen, dass man an den jährlichen russisch-amerikanischen Gipfeln zur Nuklearsicherheit nicht mehr teilnehmen werde. Auch befürchtet Moskau offenbar nicht nur eine von den USA gesteuerte Aktion zum Sturz der Putin-Regierung, sondern langfristig auch eine militärische Aggression der NATO gegen Russland.44 Vor beiden Gefahren sollen unter anderem starke Nuklearstreitkräfte schützen.

Umgekehrt dürften osteuropäische NATO-Mitglieder noch weniger als bisher einer Reduzierung amerikanischer Kernwaffen in Europa zustimmen. Vermutlich würde Polen oder die Baltischen Staaten sogar eine Nuklearstationierung auf eigenem Boden gutheißen, allerdings hatte die NATO dies in der 1997 unterzeichneten NATO-Russland-Grundakte ausgeschlossen. Dafür beteiligen sich eine größere Zahl von nicht-nuklearen NATO-Mitgliedern an konventionellen Unterstützungsmaßnahmen für mögliche Nukleareinsätze – sogenannte SNOWCAT-Operationen (Support for Nuclear Operations With Conventional Air Tactics). Unwahrscheinlich ist auch, dass sich derzeit eines der NATO Stationierungsländer noch einmal für den Abzug der amerikanischen Bomben ausspricht.

Damit ist nukleare Rüstungskontrolle nicht grundsätzlich ausgeschlossen – sie bleibt integraler Teil westlicher Sicherheitspolitik. Allerdings ist sie dem Zweck der Sicherheitsvorsorge eindeutig nachgeordnet. Es ist nicht der primäre Daseinszweck einer Nuklearwaffe, abgerüstet zu werden. Zweck einer Kernwaffe – wie auch jeder anderen Waffen – ist es, zur Sicherheit und Verteidigung beizutragen. Kann sie das nicht oder ist sie hierfür nicht mehr erforderlich, so kann sie abgerüstet werden. Allerdings muss vorab geklärt sein, wie Sicherheit ohne diese Waffe gewährleistet werden kann. Auch dieser Gedanke muss bei den kommenden Debatten eine Rolle spielen, will man eine für alle 28 NATO-Mitglieder annehmbare Nuklearstrategie schaffen.

Dr. Karl-Heinz Kamp ist Direktor Weiterentwicklung an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.

Arbeitspapier Sicherheitspolitik, Nr. 3/2015 | Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik Seite 1/6

 

Arbeitspapier Thema: 
NATO
Nuklearwaffen
Region: 
Europa
Russland
Ukraine
Schlagworte: 
Russland
Ukraine
Europa
NATO
Nuklearwaffen