Arbeitspapiere

Patriotismus heute: Definition eines zu Unrecht diskreditierten Begriffs

26/2016
Der Begriff Patriotismus gilt seit vielen Jahren als diskreditiert oder politisch inkorrekt. Sprach Helmut Kohl während seiner Kanzlerschaft von „Patrioten“ wurde er nicht selten als nostalgisch oder gar als ewig gestrig kritisiert. Heute leidet der Begriff darunter, dass politische Bewegungen wie die AfD sich seiner bemächtigt haben. Was aber heißt Patriotismus jenseits möglicher nationalistischer oder populistischer Verdächtigungen – und was bedeutet der Begriff aus der Sicht von Soldaten?

Der Begriff Patriotismus ist ins Gerede geraten. Populistische und rechte Gruppen, „PEGIDA“ zum Beispiel, haben sich des Begriffs bemächtigt, und verbinden damit eine Ablehnung von Flüchtlingen oder auch eine offen fremdenfeindliche Haltung. Mit dem Anknüpfen an die Montagsdemonstrationen und dem Ruf „Wir sind das Volk“ gebrauchen solche Gruppierungen auch ohne Skrupel Parolen und Symbole der friedlichen Revolution oder berufen sich auf die christliche Religion.

So ist gelegentlich eine Scheu zu beobachten, den Begriff Patriot für sich in Anspruch zu nehmen, mag man sich doch nicht in eine Gesellschaft von Menschen begeben, die Patriotismus und Nationalismus oder Chauvinismus nicht unterscheiden können oder wollen. Wir Deutsche tun uns auch deshalb mit einem unbekümmerten Bekenntnis zu unserem Staat schwer, weil unsere Geschichte eine gebrochene Geschichte ist, weil Nationalsozialismus und Holocaust Teil dieser Geschichte sind, weil wir eine Periode der Teilung hinter uns haben, weil wir an das, was vorher war, nicht ohne Weiteres anknüpfen können und weil der Begriff Patriotismus in unserer Geschichte z.B. durch den Nationalsozialismus sträflich missbraucht und als Vehikel zur Verbreitung der nationalsozialistischen Lehre genutzt wurde.

Wir haben seit 1990 ein gesamtdeutsches Parlament, das aus freien Wahlen hervorgegangen ist, wir haben eine bundesstaatliche Ordnung in ganz Deutschland, wir leben in einer Rechtsordnung und unter einer Verfassung, dem Grundgesetz. Da ist es sinnvoll, zu fragen, was uns eigentlich zusammenhält, was Dienen im demokratischen Staat, in unserem demokratischen Staat ausmacht, wie wir als Staatsbürger im vereinten Deutschland zusammenleben, einem Staat, der seine Rolle in der Welt ausüben soll und will.

Diese Betrachtung geht von einer Definition des Patriotismus aus, die ein damals bekannter Theologe, Gelehrter und Dichter Michael Richey, Mitglied der „Patriotischen Gesellschaft“ in der in Hamburg erscheinenden „moralischen“ Zeitschrift „Der Patriot“ im Jahre 1724 gebraucht hat. Er formulierte, ein Patriot sei ein Mensch, „dem es um das Beste seines Vaterlandes ein rechter Ernst ist, einer, der dem gemeinen Wesen redlich zu dienen beflissen ist“. 1742 bezeichnete er einen Patrioten als „Stadtfreund“ und hatte dabei möglicherweise die Bibel, Jeremia 29 V 7 mit der Aufforderung „Suchet der Stadt Bestes“ im Auge.

Johann Moritz Gericke formulierte 1782, dass „Patriotismus derjenige starke innere Antrieb sei, der das Beste des Staates zum Augenmerk hat, und seine Wohlfahrt auf alle mögliche Art zu befördern sucht.“ Von hier bis zur Aufforderung John F. Kennedys „Fragt nicht, was Euer Land für Euch tun kann, sondern fragt, was Ihr für Euer Land tun könnt“ ist es nur ein kurzer Weg.

Eine klare Abgrenzung des Patriotismus zum Nationalismus hat der damalige Bundespräsident Johannes Rau in einer Rede 1999 vorgenommen: „Ich will nie ein Nationalist sein“, formulierte er, „ein Patriot aber wohl. Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt, ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet. Wir aber wollen ein Volk der guten Nachbarn sein, in Europa und in der Welt.“

Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler sagte nach seiner Wahl vor der Bundesversammlung nicht nur den bekannten Satz: „Ich liebe unser Land“, sondern führte in derselben Rede aus: “Patriotismus und Weltoffenheit sind keine Gegensätze, sie bedingen einander. Nur wer sich selbst achtet, achtet auch andere.“

Völlig unpathetisch drückte es Richard Schröder in seinem Buch „Einsprüche und Zusprüche“ so aus: „Ich bin gerne Deutscher“ und „auch jetzt noch halte ich den Fall der Mauer für Wahnsinn“. Im Vorwort zu diesem Buch forderte er, das Thema Nation nicht den Falschen zu überlassen.

Wir dürfen also Patrioten sein und unser Vaterland lieben. Dies ermöglicht uns in gleicher Weise, von diesem festen Stand aus, anderen Völkern und Menschen mit Respekt und Achtung zu begegnen. Wir können und werden zu aktuellen Fragen der Tagespolitik viele verschiedene Meinungen haben. Aber wir sollten Patrioten, keine Nationalisten sein. Niemand sollte Vaterländer von anderen herabsetzen oder Menschen wegen ihrer Andersartigkeit verachten. Im Gegenteil, die Liebe zu unserem Land macht uns bereit und fähig andere zu respektieren und zu achten.

Was also bedeutet es aus meiner Sicht, ein deutscher Patriot zu sein, als deutscher Patriot zu leben?

In Freiheit leben

Wir sind dankbar für die Freiheit, die mit der Einheit allen Deutschen geschenkt wurde. Wir leben Freiheit. Wir wissen, dass die Demokratie nicht nur auf die gestaltende Kraft der gewählten Politiker, sondern in gleicher Weise auf die Mitarbeit und Leistungsbereitschaft der Bürger angewiesen ist.

Wir können das in der DDR erlebte total andere System der Unfreiheit mittlerweile besser einschätzen, ein System, das seine Bürger gängelte, bestrafte und belohnte, versorgte und überwachte, bremste und kontrollierte, in jedem Falle aber menschliche Wertigkeit nahezu ausschließlich an der Einstellung zum System und ihrer Nützlichkeit für das System maß. Auch in diesem System konnte man Nischen des halbwegs zufrieden stellenden persönlichen Lebens finden, sich den Forderungen des Staates wenigstens teilweise entziehen. Seinen persönlichen Neigungen und Fähigkeiten entsprechend entfalten aber konnte man sich kaum.

Den grundlegenden Unterschied der Freiheit und der Unfreiheit sollten wir immer im Auge behalten, auch dann, wenn hin und wieder in nostalgischen Erinnerungen Vergangenheit noch immer oder sogar wieder vermehrt verklärt wird.

Die Einheit leben

26 Jahre sind nach der friedlichen Vereinigung unseres Landes vergangen. Diejenigen, die damals gesagt haben, dass der Weg zu Inneren Einheit lang und beschwerlich werden würde, haben Recht behalten. Die derzeitige Diskussion, der Bericht der Bundesregierung, die Vorkommnisse anlässlich des Tags der Deutschen Einheit in Dresden zeigen, dass es hinsichtlich der Mentalität offensichtlich noch deutliche Unterschiede zwischen Ost und West gibt. Fremdenfeindlichkeit, Anfälligkeit für einfache Parolen, scheinen jedenfalls in den neuen Ländern ausgeprägter zu sein als in den alten. Die Angleichung der Lebensverhältnisse dauert länger, als zunächst erwartet.

Wir dürfen aber nicht übersehen, dass wir auch kräftige Lichtzeichen erleben durften und dürfen. Blühende Landschaften gibt es ja wirklich, die wirtschaftliche Situation in den neuen Ländern hat sich deutlich verbessert, die Arbeitslosigkeit ist zurückgegangen. Wir haben über den Solidarpakt hinaus gesamtdeutsche Solidarität in den Stunden der Not in einem Ausmaß gesehen, die uns alle überrascht hat. Ich denke dabei vor allem an die Flutkatastrophen an Oder und Elbe. Über die konkrete Hilfeleistung hinweg sind da auch menschliche Bindungen entstanden, die uns allen zugutekommen. Die Zahl der Menschen, die sich zum Helfen und Handeln ansprechen lassen, ist, das weisen die letzten Monate aus, auch in den neuen Ländern hoch, viel höher jedenfalls als die der demonstrierenden Pseudopatrioten.

Die Mühen und Rückschläge sollten uns nicht davon abhalten, nach wie vor stolz darauf zu sein, dass uns Deutschen eine friedliche Revolution gelungen ist, dass die Menschen in den heutigen neuen Ländern diese Revolution durch ihr entschlossenes und besonnenes Verhalten selbst herbeigeführt haben und dankbar dafür zu sein, dass wir heute zusammen in einem freien Deutschland leben dürfen.

Soldaten durften und dürfen als Staatsbürger mithelfen, dass die deutsche Einheit gelingt. Die Einheit der Truppe fördert die Einheit der Deutschen, formulierte der damalige Bundespräsident Richard von Weizäcker im Frühjahr 1991 bei einer Kommandeurtagung des Bundeswehrkommandos Ost und er hatte Recht. Was in den ersten Jahren nach der Einheit in der Bundeswehr geschehen ist, gehört als große Leistung nicht nur zur Geschichte der Bundeswehr, sondern auch unverrückbar zur Deutschen Geschichte.

Wir dürfen uns jedenfalls nicht entmutigen lassen und wollen unseren eigenen Beitrag leisten, dass wir weitere Fortschritte auf den Weg zur „Inneren Einheit“ machen. Die häufig schweigende Mehrheit muss sich deutlicher artikulieren, wir Soldaten sollten dabei vorangehen.

Verantwortung wahrnehmen

Freiheit ist ein Geschenk, das verpflichtet. Es geht nicht nur um die Freiheit von Zwang und Bindung oder die Freiheit zu reisen. Es geht vielmehr um ein positives Verständnis von Freiheit, um die Freiheit zur Gestaltung und zum Engagement, die Freiheit an der Gestaltung unseres Staates und seiner Organisationen mitzuwirken, es geht um die Freiheit, Bürgersinn zu zeigen und schöpferisch mitzumachen.

Klar wird damit, dass die Sicherung und die Gestaltung der Freiheit persönliche Beiträge, gegebenenfalls auch Opfer erfordert. Da der Staat solche persönlichen Beiträge, jedenfalls in Form verpflichtender Dienstleistung nicht mehr einfordert, wird es umso mehr darauf ankommen, dass sie freiwillig erbracht werden. Dankbarkeit für das Geschenk der Freiheit und der Wille und die Entschlossenheit, sie zu gestalten sollten also überall mit dem Bestreben einhergehen, persönliche Beiträge zu leisten und Leere und Inhaltslosigkeit überall entgegenzuwirken. Deshalb engagieren wir uns im Rahmen unserer Aufgabe und – wo immer möglich – darüber hinaus für das Wohlergehen unseres Landes.

Verantwortung wahrzunehmen hat auch einen außenpolitischen Aspekt. Die Wiederherstellung der deutschen Einheit war ein wichtiges Wegstück zur Einheit Europas. Damit konnte und kann die Bundesrepublik auch keine Sonderrolle mehr beanspruchen. Unser Land ist wie andere für Frieden und Freiheit nicht nur in Europa mit verantwortlich und kann und will sich dieser Verantwortung auch nicht entziehen. Dies erforderte und erfordert Beiträge im gesamten Spektrum möglicher Maßnahmen zum Erhalt des Friedens zur Wahrung oder Wiederherstellung der Menschenrechte zu leisten. Dies kann und wird immer wieder auch militärische Beiträge zur Krisenbewältigung einschließen.

Die Beschränkung auf die militärischen Aspekte wäre allerdings eine unzulässige Verengung. Weltweit Verantwortung zu übernehmen sowie die deutsche Entwicklungshilfe gehören genauso dazu, wie die Nothilfe des Auswärtigen Amtes oder der Einsatz vieler Organisationen und Menschen in den Notgebieten dieser Erde.

Dienen im demokratischen Staat heißt jedenfalls zu wissen, dass in Freiheit leben bedeutet, nach innen und außen Verantwortung wahrzunehmen. Wie weit das für Soldaten gehen kann, haben wir mehrfach leidvoll erleben müssen. Wir beteiligen uns, soweit wir es können, an der Wahrnehmung der weltweiten Verantwortung, die unser Staat leisten muss.

Verantwortung zu übernehmen heißt für uns auch, fähig und willens zu sein, komplexe Sachverhalte differenziert zu beurteilen, differenziert zu diskutieren und zu argumentieren. Sachliche Probleme müssen sachlich diskutiert und am Ende sachlich gelöst werden. Dabei kann und wird es unterschiedliche Meinungen und Lösungsansätze geben und oft werden mühsam Kompromisse gesucht werden müssen. Dies sollte dann auch öffentlich vertreten werden, um dem Verbreiten vereinfachender populistischer Parolen entgegenzuwirken. Wir sollten die Auseinandersetzung darüber nicht scheuen und die Auseinandersetzung mit den „Vereinfachern“ aktiver führen.

Verantwortung wahrnehmen im Zeichen der Menschenwürde

Die Wahrnehmung von Verantwortung in unserem Staat bedarf eines Bezugspunktes. Kardinal Ratzinger, der emeritierte Papst Benedikt XVI., hat in einem Buch „Wahrheit, Werte, Macht” über die Zusammenhänge zwischen Freiheit und deren Inhalten folgendes geschrieben: „Freiheit behält ihre Würde nur, wenn sie auf ihren sittlichen Grund und auf ihren sittlichen Auftrag bezogen bleibt. Eine Freiheit, deren einziger Inhalt in der Möglichkeit der Bedürfnisbefriedigung bestünde, wäre keine menschliche Freiheit; sie bliebe im Bereich des Animalischen. Freiheit bedarf eines gemeinschaftlichen Inhalts, den wir als die Sicherung der Menschenrechte definieren können.“

Das Leben in verantworteter Freiheit benötigt also einen Anker und Bezugspunkt. Dieser Bezugspunkt kann im Grundgesetz gefunden werden. In unserem Grundgesetz steht die Würde des Menschen ganz oben, sie zu achten und zu schützen ist nach Artikel 1 oberste Aufgabe aller staatlichen Gewalt. Dieses Grundrecht kann nicht geändert oder eingeschränkt werden. In unserer Werteordnung steht die Würde des Menschen ganz oben, sie ist nicht an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Herkunft, Rasse oder Hautfarbe gebunden, sie schließt alle Menschen ein. So sind wir allen Bürgern unseres Landes verpflichtet. So wird klar, dass Extremismus oder Ausländerfeindlichkeit bei uns keinen Platz haben dürfen. So wird in gleicher Weise deutlich, dass wir von allen, die in unserem Land leben, den Respekt vor unserer Verfassung und den Werten, die ihr zugrunde liegen, einfordern müssen.

Schutz und Erhalt der Menschenwürde, darum geht es!

Die Wurzeln achten, den Zusammenhalt üben

Nun ist die Verfassung sicher nicht das Einzige, was uns verbindet. Sie weist die Übereinstimmung in den grundlegenden Wertefragen aus. Nationale Identität hat aber sicher auch etwas mit gemeinsamer Sprache, Geschichte und gemeinsamer Erinnerung zu tun. Sie muss weit über die eigene Generation hinaus gesehen werden.

Patriot zu sein heißt damit, fest in den Wurzeln zu stehen, die uns die Verfassung ausweist. Sie ist ja für sich selbst erst seit 1949 geltendes Recht. Sie ist aber aus zahlreichen Erfahrungen unserer Geschichte gespeist und in Grundsätze umgesetzt, die sich vielfach, zuletzt auch bei der Vereinigung 1990 in bester Weise bewährt haben. Patriot zu sein heißt andererseits auch, bewusst in unserer Geschichte zu stehen, in allem, was sie uns an Gutem und an Schlimmem im Gelingen und im Scheitern gebracht hat. In dieser Geschichte zu stehen heißt auch anzuerkennen, dass es im geteilten Deutschland unterschiedliche Biographien gegeben hat, die aber für die Zukunft den gleichen Wert haben.

Gemeinsame nationale Identität ist nichts Statisches. Sie wächst im Zusammenleben und in gemeinsamen Erfahrungen und weist aus Vergangenheit und Gegenwart auch in die Zukunft. Einen Stillstand gibt es dabei nicht. Mit der Integration von vielen Menschen aus Kulturen, die uns fremd sind, steht uns eine riesige Aufgabe ins Haus. Sie alle bringen ihre eigene Geschichte und Erfahrung mit. Sie sollten die Wurzeln respektieren, auf denen unser Staat ruht. Sie müssen unsere Verfassung und Gesetze achten. Tun sie dies, sind sie eingeladen, an der Fortentwicklung unseres Gemeinwesens mitzubauen.

Wir sollten als Patrioten von einem festen Stand aus dabei helfen, den Zusammenhalt der Menschen in unserem Land auch in der Veränderung zu bewahren.

Hans-Peter von Kirchbach war von 1999 bis 2000 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2013 Präsident der deutschen Johanniter-Unfall-Hilfe. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.

Copyright: Bundesakademie für Sicherheitspolitik | ISSN 2366-0805 Seite 1/5

 

Arbeitspapier Thema: 
Sicherheitspolitische Debatte
Region: 
Deutschland
Schlagworte: 
Deutschland
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