Vorgeschichte
Ausgangspunkt der japanischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik seit der Kapitulation Japans zum Ende des Zweiten Weltkriegs ist der in Artikel 9 der japanischen Verfassung verankerte Verzicht auf den Krieg als souveränes Recht einer Nation und – damit verbunden – der Verzicht auf den Unterhalt von Streitkräften. Eine nationale Polizeireserve wurde dennoch 1950 aufgestellt. Diese Kräfte wurden 1952 restrukturiert und nun als „Sicherheitskräfte“ bezeichnet. Im Jahr 1954 wurde – unter dem Eindruck des Koreakrieges – zwischen Japan und den USA das U.S. and Japan Mutual Defense Assistance Agreement unterzeichnet und die Sicherheitskräfte auf der Grundlage des „Gesetzes über die Selbstverteidigungsstreitkräfte“ als „Selbstverteidigungsstreitkräfte“ (Self Defense Forces – SDF) neu aufgestellt.
Im Zuge der sich verschärfenden Ost-West-Konfrontation des Kalten Krieges schlossen Japan und die USA am 19. Januar 1960 ein bilaterales Bündnis über gegenseitige Kooperation und Sicherheit. Dieses Bündnis diente und dient effektiv mehreren Zwecken. Es stärkt die Einbindung Japans in die westliche Wertegemeinschaft und leistet bis heute durch die Stationierung US-amerikanischer Streitkräfte in Japan einen zentralen Beitrag zur Landesverteidigung; in Geist und Wortlaut folgt es in weiten Teilen dem NATO-Vertrag. Im kollektiven Bewusstsein Japans verfestigte sich über viele Jahre die Vorstellung, dass die US-amerikanischen Streitkräfte der eigentliche Sicherheitsgarant Japans seien, während Japan selbst sich auf raschen zivilen Wiederaufbau und wirtschaftliche Stärke konzentrieren solle und der SDF eher die Rolle der Katastrophenhilfe im Innern zukomme. Diese Politik wurde nach ihrem Urheber Shigeru Yoshida, dem ersten Premierminister Japans nach dem Zweiten Weltkrieg, auch als Yoshida-Doktrin bekannt.
Mit seiner Nachkriegsverfassung verankert sich Japan fest in einer auf Frieden, Recht und universell gültigen politischen Anstand gegründeten internationalen Ordnung, in der – so die Präambel der Verfassung – keine Nation nur für sich allein verantwortlich sein kann; im Gegenteil verpflichtet sich Japan zur umfassenden Mitwirkung an dieser durch Ideale geleiteten Ordnung. Aus heutiger Sicht mag der im Verfassungstext erscheinende Begriff „politischer Anstand“ abstrakt erscheinen; mit Leben erfüllt wird er durch das Eintreten Japans für die rule of law, Demokratie und Menschenrechte. Weitaus bekannter ist international der Artikel 9 der japanischen Verfassung. Nach ihm „verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als souveränes Recht der Nation“ und unterhält keine „Streitkräfte oder sonstige Kriegsmittel. Ein Recht des Staates zur Kriegführung wird nicht anerkannt.“
Da die Präambel der japanischen Verfassung ein aktives Mitwirken an der Gestaltung eines auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten Friedens ausdrücklich vorsieht, greift eine alleinige Berufung auf Artikel 9 der Verfassung im Kontext staatlicher Willensbildung sowie außen- und sicherheitspolitischen Handelns eindeutig zu kurz. Wiederholt sind Versuche gescheitert, die erforderliche Mehrheit für eine Verfassungsänderung zu erreichen, um die SDF in die Verfassung aufzunehmen. Bei den letzten Wahlen zum Oberhaus der japanischen Nationalversammlung am 21. Juli 2019 konnte die führende Liberaldemokratische Partei (LDP) mit Premierminister Shinzo Abe ihre Mehrheit zwar behaupten, büßte aber Stimmen ein und verfehlte das Ziel einer Zweidrittelmehrheit, die zur Änderung der Verfassung erforderlich ist.
Sicherheitspolitik – ein polarisierendes Thema in der öffentlichen Debatte Japans
In großen Teilen der japanischen Öffentlichkeit herrscht seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine pazifistische Grundstimmung vor, die breit in der Bevölkerung verankert ist, sich auf eine wörtliche Auslegung des Artikels 9 der japanischen Verfassung stützt und lautstark gegen jeden Versuch protestiert, die den Selbstverteidigungskräften durch die Verfassung auferlegten Beschränkungen im Sinne internationaler Verpflichtungen neu zu interpretieren. Bereits im Jahr 1992 beteiligten sich die SDF im Rahmen von UNTAC in Kambodscha an ihrer ersten UN-mandatierten Friedensmission, jedoch sahen die Einsatzregeln einen Waffeneinsatz nur zur unmittelbaren Selbstverteidigung vor. Im Jahr 2015 war der Tod zweier japanischer Geiseln durch die Hand der Terrororganisation „Islamischer Staat“ der unmittelbare Auslöser für die vom dritten Kabinett Abe verabschiedete „Gesetzgebung zu Frieden und Sicherheit“, ein Paket von insgesamt elf verschiedenen Gesetzen beziehungsweise Novellierungen bestehender Gesetze. Insbesondere der durch das Gesetz zur Kooperation im Rahmen von UN-Friedensmissionen beschränkte Einsatz von Waffen zur Selbstverteidigung wurde nun ausdrücklich erweitert, sodass SDF-Kräfte Verbündeten im Rahmen kollektiver Selbstverteidigung zu Hilfe eilen können („zur Verteidigung zu Hilfe eilen“ steht in Japan stellvertretend für das ganze Gesetz). Diese kollektive Selbstverteidigung bezieht sich jedoch stets auf die unmittelbare Gefechtssituation und darf nicht im Sinne der Kollektivität des Artikel 5 des NATO-Vertrags verstanden werden. Der bislang letzte Einsatz eines SDF-Kontingentes im Südsudan (UNMISS) wurde im Jahr 2017 vorfristig abgebrochen, nachdem bekannt wurde, dass das japanische Verteidigungsministerium zunächst versucht hatte, die in den Einsatztagebüchern dokumentierte Intensität des Konfliktes zu verschleiern.
Aktuelle Sicherheitslage und Bedrohungsperzeption
Als rohstoffarme hochindustrialisierte Inselnation mit exportorientierter Wertschöpfung ist Japan elementar auf freie Seewege angewiesen. Darüber hinaus hat Japan mit mehreren Staaten in der Region ungelöste Territorialkonflikte, die von diesen wiederholt opportunistisch eskaliert werden. An erster Stelle der Bedrohungsperzeption Japans steht daher die militärische Expansion der Volksrepublik China im Ost- und Südchinesischen Meer, insbesondere im Kontext hoher Intransparenz der chinesischen Militärstrategie, des Verteidigungsbudgets der Volksrepublik sowie der in den letzten Jahren erzielten technologischen Fortschritte, etwa im Bereich des Informationsraumes und der elektronischen Kampfführung. Eine zweite gravierende Bedrohung für Japan stellt Nordkorea dar. Neben seit Jahrzehnten ungelösten Fragen wie der Entführung japanischer Staatsbürger nach Nordkorea zum Zwecke der Agentenschulung sind dies insbesondere die atomaren Ambitionen und die Raketenversuche Nordkoreas. Wiederholt sind in der Vergangenheit nordkoreanische Flugkörper über japanisches Territorium geflogen.
Eine dritte Bedrohungsperzeption besteht hinsichtlich Russlands, insbesondere der Modernisierung seiner Kernwaffen sowie der zunehmenden militärischen Aktivitäten an der nördlichen Peripherie Japans; auch hier bestehen Territorialkonflikte um die von Japan beanspruchten, aber von Russland besetzten Inseln der südlichen Kurilen. Die japanische Regierung ist bei der Bewertung der Bedrohungslage zu dem Ergebnis gekommen, dass sich in Verbindung mit neuen Unsicherheiten die Kräfteverhältnisse so nachhaltig verschoben haben, dass trotz zahlreicher Interdependenzen die bisherige Ordnung im Bestand gefährdet ist; von einer graduellen Weiterentwicklung der Lage kann demnach nicht mehr gesprochen werden.
Japans umfassender Ansatz der Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Die Antwort Japans auf die komplexen Veränderungen der Sicherheitslage ist mehrdimensional und umfasst neben diplomatischen Aktivitäten, der Festigung der Allianz mit den US-Streitkräften und des organisatorischen Umbaus der SDF mit dem Ziel einer koordinierten, teilstreitkräftegemeinsamen Reaktionsfähigkeit auch die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit von Industrie und Wirtschaft sowie eine vertiefte zivil-militärische Integration einzelner militärischer Organisationsbereiche, zum Beispiel des Sanitätsdienstes. Insbesondere durch die vielfältigen Aufgaben der SDF im Katastrophenschutz und bei Großschadenslagen spielt der Verbund zwischen zivilen und SDF-Krankenhäusern eine bedeutende Rolle bei der medizinischen Versorgung der Bevölkerung. Darüber hinaus befasst sich eine Planungsgruppe im japanischen Verteidigungsministerium systematisch mit der Forschung, Entwicklung und Produktion nationaler Rüstungsgüter sowie den strukturellen Zusammenhängen zwischen Rüstungsindustrie und Stärke der japanischen Volkswirtschaft; Japan ist bemüht, seinen Rüstungsbedarf aus eigener Fertigung (teilweise mit Lizenzen) zu decken, und beschafft nur ausgewählte Waffensysteme komplett aus dem Ausland, vorrangig den USA. Im Bereich der US-japanischen Allianz wird eine „total integration“ der SDF- und der US-amerikanischen Kräfte angestrebt. Multilaterale ständige Kooperationsmechanismen sind hingegen nur schwach ausgeprägt, aber insbesondere die Zusammenarbeit mit Australien und Indien wird seit einigen Jahren verstärkt gefördert.
Von der nationalen Sicherheitsstrategie zum jährlichen Verteidigungshaushalt
Der jährliche Verteidigungshaushalt leitet sich in einem mehrstufigen Prozess aus den Befunden und Schwerpunkten der nationalen Sicherheitsstrategie ab, die in etwa zehnjährigem Turnus überarbeitet wird. Daraus entsteht die Fähigkeitsplanung unter Einschluss aller militärpolitischen Ziele (National Defense Program Guidelines), die gerade neu verabschiedet worden ist. Aus der Fähigkeitsplanung werden die konkreten Beschaffungsvorhaben abgeleitet (Medium Term Defense Program, ebenfalls 2019 neu verabschiedet), und am Ende dieses Prozesses steht der jährliche Verteidigungshaushalt. Obwohl die genannten Planungsdokumente wie auch die Haushaltsvorlagen und jährlich verabschiedeten Haushaltsgesetze der Öffentlichkeit zugänglich sind, gibt es darüber hinaus eine „Schnittstelle“ zwischen Politik und Öffentlichkeit, über die der Zusammenhang zwischen Politik, Strategie und Verteidigungshaushalt überaus detailliert kommuniziert wird: die jährlich erscheinenden Verteidigungsweißbücher. Diese Weißbücher haben regelmäßig einen Umfang von 400 bis 500 Seiten; darüber hinaus hält die Webseite des japanischen Verteidigungsministeriums ausführliche Hintergrundpapiere, Planungsunterlagen und Budgetzahlen bereit, darunter auch die oben genannten Dokumente.
Einzelne Beschaffungsvorhaben, etwa die Modernisierung der Luftstreitkräfte (mit US-Kampfflugzeugen der Typen F-35A und F-35B und den Hubschrauberträgern der Izumo-Klasse) sowie die im Dezember 2018 deutlich angepassten Zielgrößen (147 statt 42 Flugzeuge F-35A und F-35B) dienen innerhalb und außerhalb Japans gelegentlich als Vorwand, um der Regierung ein Verlassen ihrer pazifistischen Orientierung vorzuwerfen. Hierzu muss bemerkt werden, dass sämtliche Beschaffungsvorhaben das Ergebnis einer langjährigen und kontinuierlich überarbeiteten Bedrohungsanalyse sind. Diese Vorhaben sind Antworten auf den Fähigkeitsaufwuchs potentieller Gegner, wobei betont werden muss, dass das Gesamtkonzept der Verteidigung nach wie vor defensiv und nicht auf power projection ausgerichtet ist. Schwerpunkte sind die glaubwürdige Abschreckung und die schnelle, hochwirksame Reaktionsfähigkeit. So ist auch der größte Einzelposten in der aktuellen Beschaffung zu bewerten, das Raketenabwehrsystem Aegis Ashore, für das im Budget etwa 10 Milliarden Euro vorgesehen sind. Das geplante Zusammenwirken von Luftraumüberwachung, Abwehrfähigkeiten und neuen teilstreitkräftegemeinsamen Führungsfähigkeiten birgt in sich kein Potential zur militärischen Machtprojektion nach außen.
Erstaunlicherweise konzentriert sich die öffentliche Debatte in Japan rein auf die Frage, ob Japans Verteidigung weiterhin rein defensiv bleibt; diese Kernfrage war es auch, die angesichts der instabilen Lage im Südsudan zum Abbruch der japanischen Beteiligung an UNMISS geführt hatte. Im Gegensatz zu Europa findet in Japan keine nennenswerte Diskussion über die Höhe des Verteidigungshaushaltes statt; seit vielen Jahrzehnten pendelt der Wert um ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts und unterschreitet diese Schwelle meistens geringfügig. Der Wert wurde 1976 vereinbart, gekoppelt an das politische Verständnis, dass die Leistungsfähigkeit der SDF vorranging qualitativ und nicht quantitativ zu steigern sei.
Schwieriger ist die Lage im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Trotz der teilweise hochkontroversen Außenpolitik der US-Regierung mit unmittelbaren Auswirkungen auf Japan (Kündigung der Transpazifischen Partnerschaft TPP, Handelskrieg mit China, Isolationismus), ist Japan nahezu das einzige G7-Land, das mit den USA keine offenen Konflikte austrägt; Premierminister Shinzo Abe pflegt die Beziehung zu Präsident Trump mit der größten vorstellbaren Geschmeidigkeit.
Sicherheitsvorsorge als gesamtstaatliche Aufgabe
Japan ist eine westlichen Werten verpflichtete Industrienation und steht vor einer Reihe komplexer Herausforderungen. Zusätzlich zu den äußeren, bereits genannten Bedrohungen verschärft sich die Lage dadurch, dass regional und weltweit autoritäre Staatswesen die Werte freiheitlich-demokratisch verfasster Ordnungen immer unverhohlener anzweifeln, wenn nicht sogar aktiv untergraben. Im Innern gibt es bis jetzt keine tragfähige Antwort auf die langfristige Herausforderung einer dramatisch alternden Bevölkerung.
Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass Japan nach außen aktiv an neuen Sicherheitspartnerschaften, beispielsweise mit Indien und Australien, arbeitet, um ein vorteilhafteres Umfeld zu schaffen, während es sich für die Landesverteidigung auf die strategische Partnerschaft mit den USA stützt und sich bei der Modernisierung der SDF auf seine Kernkompetenzen als technologisch führende Industrienation besinnt. Zugleich wird die Verankerung der SDF in der Bevölkerung auf zahlreichen Wegen vorangetrieben. Dies umfasst standortsnahes soziales Engagement ebenso wie die Katastrophenhilfe bei Erdbeben und Vulkanausbrüchen, aber auch eine Selbstdarstellung der SDF als einzigartiger Arbeitgeber: Dem Auftrag der Landesverteidigung verpflichtet, aber mit einem Gespür für sozialen Wandel – die „work-life balance“ steht nun ebenso im Vordergrund wie die Beschäftigung von Frauen.
Japan kann in mehrerlei Hinsicht für sich erfolgreich beanspruchen, eine auf Konsens gestützte Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu betreiben. Durch die Verkettung des Ein-Prozent-Zieles mit dem Prinzip Qualität vor Quantität wurde ein tragfähiger Kompromiss für die grundsätzliche Größenordnung der jährlichen Verteidigungshaushalte geschaffen. Bisweilen werden zwar politische Diskussionen um die Ausrichtung und Einzelfragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik in scharfem Ton geführt, die Regierung Japans sieht sich aber seit Jahrzehnten in der Verpflichtung, ihre Verteidigungs- und Sicherheitspolitik umfassend zu erklären und zu dokumentieren, was wesentlich zur Qualität der politischen Willensbildung beiträgt.
Dr. Oliver Corff ist Sinologe, Wirtschaftsberater und Dolmetscher. Er ist Mitglied des Freundeskreises der BAKS. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.