Arbeitspapiere

Ein schwieriger Wiederaufbau: Perspektiven europäischer Initiativen in Syrien

2/2019
Obwohl der Krieg in Syrien keineswegs beendet ist, werden bereits vielerorts Konzessionen und Aufträge für den einsetzenden Wiederaufbau des Landes unter den Partnern von Baschar al-Assad verteilt. Da jedoch Damaskus und seine Verbündeten kaum in der Lage beziehungsweise nicht willens sein werden, den syrischen Staat aus eigener Kraft wieder aufzubauen, stellt sich vor allem für die kapitalvermögenden Staaten Europas die Frage nach mehr Engagement im Land am Euphrat. Europa braucht einen stabilen Nahen Osten und sollte sich daher am Wiederaufbau Syriens beteiligen. Auch wenn das bedeutet, mit Assad zusammen zu arbeiten.

Zur Lage im Land

Der Syrienkrieg wütet seit 2011 und hat bereits etwa eine halbe Million Leben gefordert. Mehr als eine Million Menschen wurden verwundet und schätzungsweise 12 Millionen Menschen wurden vertrieben, was der Hälfte der Vorkriegsbevölkerung entspricht. Oft herangezogene Vergleiche zum 30-jährigen Krieg sind daher gemessen am Leiden der Zivilbevölkerung nicht ganz unberechtigt. Auch wenn die meisten Medien dem Krieg selbst momentan vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit schenken – hin und wieder wird über ein Trump-Tweet zu Syrien berichtet – so ist er noch lange nicht beendet. Der Norden und der Osten des Landes sind weiterhin fest in der Hand oppositioneller Kräfte. Noch im September vergangen Jahres drohte eine Eskalation zwischen Russland und der Türkei um die letzte Rebellenhochburg Idlib. Die russischen Kräfte wollten zusammen mit den syrischen und iranischen Verbänden dabei helfen, die Provinz mit ihren fast drei Millionen Einwohnern von den oppositionellen Islamisten zu befreien, die dort derzeit die Kontrolle haben. Eine Offensive konnte zwar durch einen vorläufigen Deal zwischen Ankara und Moskau abgewendet werden, doch eine dauerhafte Lösung wurde noch nicht gefunden. Nichtsdestotrotz kündigte der türkische Präsident Erdogan jüngst anstehende Offensivoperationen auf syrischem Gebiet an.

Die größtenteils kurdisch bewohnten Gebiete im Nordosten sowie nahezu das gesamte Land östlich des Euphrat sind unter der Kontrolle kurdischer und oppositioneller arabischer Einheiten, die zumeist von den USA unterstützt werden. Nun, da die USA ihren Rückzug vorbereiten, und den Kurden eine türkische Intervention bevorsteht, wenden sich diese an Assad. Dass dieser an einem Kompromiss mit den Kurden nicht abgeneigt ist, zeigt nicht zuletzt die Übergabe der bislang kurdisch besetzten Stadt Manbidsch an syrische Regierungstruppen. Ob es solch einen Kompromiss wirklich geben wird und wie dieser aussehen könnte, bleibt vorerst abzuwarten. Der Islamische Staat ist weitgehend besiegt, leistet aber in einigen wenigen Enklaven entlang des Euphrat erbitterten Widerstand, so zum Beispiel in as-Suwayda und Hajin. Nichtsdestotrotz bleibt das Bedrohungspotential durch den Islamischen Staat aufgrund seines Rückzuges in den Untergrund weiterhin hoch, was die wieder zunehmenden Anschlagsserien im Nachbarland Irak bezeugen.

Wann Frieden einkehrt und welcher Art dieser sein wird, ist nicht genau abzusehen. Weder ein Ende der militärischen Auseinandersetzungen noch eine Versöhnung zwischen den diversen Fraktionen erscheinen derzeit in Aussicht. Was sich jedoch klar abzeichnet, ist, dass die syrischen Regierungstruppen und ihre Verbündeten aufgrund ihrer starken Stellung in den meisten Teilen des Landes die Nachkriegsordnung maßgeblich bestimmen werden. Doch dieser Sieg hat einen hohen Preis. Ungeachtet des millionenfachen menschlichen Leids, haben allein die Schäden an der Infrastruktur und die Zerstörung der Städte, Dörfer und staatlichen Strukturen das Land um Jahrzehnte zurückgeworfen. Eine Kommission der UN schätzte im August 2018 den bisherigen Sachschaden des Krieges auf 388 Milliarden US-Dollar. Demgegenüber steht ein Vorkriegs-Bruttoinlandsprodukt von fast 60 Milliarden US-Dollar. Nicht eingerechnet sind der Verlust an Menschenleben und verlorengegangenen Knowhows. Allein die Räumung der Trümmer aus den Straßen des bis zu 70 Prozent zerstörten Aleppos dürfte bis zu sechs Jahre dauern.[1]

Hieran wird deutlich, dass Damaskus den Wiederaufbau nicht aus eigener Kraft wird leisten können. Dies zeigen auch die schlecht anlaufenden Bau- und Reparaturvorhaben in Homs und Aleppo, wo zumeist nur symbolische und militärische Bauvorhaben vorangetrieben werden. Der öffentliche Sektor ist unterfinanziert, und Gehälter werden bis heute zu spät, nur in Teilen oder gar nicht ausgezahlt. Wie soll ohne Planungsämter, geregelte Vergabeverfahren und funktionierende Aufsichten ein solches Jahrhundertprojekt durchzuführen sein? Hinzu kommt der Mangel an grundlegenden humanitären und logistischen Ressourcen, der durch die Sanktionen gegen das Regime noch verschärft wird. 

Der Wiederaufbau wird bereits organisiert

Abhilfe soll unter anderem die jährlich stattfindende Wirtschaftsmesse in Damaskus leisten. Hier sollen Kontakte geknüpft, Bauvorhaben geplant und Kapital beschafft werden. Wurde diese die letzten Jahre noch von Investoren größtenteils gemieden, so schwärmten im September 2018 besonders aus Russland und dem Iran die größten Delegationen von Wirtschaftsvertretern heran. Auch Chinesen und Inder wollen bei der wirtschaftlichen Neuaufteilung des Landes nicht außen vor bleiben und stellen immer neue Projekte und Investitionsvorhaben in Aussicht. Während China im Rahmen seiner Belt-and-Road-Initiative vor allem auf neue Infrastrukturprojekte zwischen Libanon und dem syrischen Binnenland setzt, bemüht sich Indien insbesondere um den syrischen Industriesektor. So wird mit indischen Mitteln derzeit ein neues Wärmekraftwerk mit einem Wert von 240 Millionen US-Dollar südlich von Damaskus errichtet, und nahe Hama baut das indische Unternehmen Apollo International zusammen mit einem syrischen Partner eine neue Recycling-Anlage. Darüber hinaus sind bei den asiatischen Playern neben Öl-Konzessionen vor allem die Schürfrechte für die Ausbeutung der Phosphatbestände im Landesinneren begehrt.

Während Moskau als wichtigster militärischer Partner von Damaskus auf die Offshore-Gebiete vor der syrischen Küste hofft, werden das Landesinnere und die großen Siedlungszentren im Besonderen durch den anderen militärischen Partner mit neuen Projekten dominiert – den Iran. Die Sanktionen sowohl gegen Syrien als auch gegen Iran können letzteren nicht davon abhalten, massiv am Wiederaufbau zu partizipieren. Besonders die Restaurierung des Energiesektors wird seit Ende 2017 insbesondere durch iranische Konsortien vorangetrieben, die gleich für fünf syrische Großstädte Zuschläge zum Wiederaufbau erhalten haben. Neben dem Energiesektor soll das zweite große iranische Standbein im Land das Mobilfunknetz werden, welches von der iranischen Firma MCI Hamrahe Avval von Grund auf modernisiert werden soll. Sowohl MCI als auch die meisten der iranischen aktiven Firmen in Syrien sind sogenannte Bonyads, also Großunternehmen, die mehrheitlich den iranischen Revolutionsgarden (Pasdaran) gehören. Zusätzlich unterhalten die Iraner zahlreiche Militärbasen und bauen diese stetig aus, beispielsweise nahe der Grenze zu Israel in der Provinz Daraa. Teheran will damit nicht nur seinen Wirtschaftskorridor nach Libanon ausbauen, sondern auch das Drohpotential gegenüber Israel verstärken, wodurch sich der Iran auch neuen politischen Verhandlungsspielraum gegenüber den regionalen und internationalen Kontrahenten verschafft.

Europa hat ein Interesse, sich zu engagieren

Wie die IS-inspirierten Terroranschläge und die Migrationsbewegungen der letzten Jahre gezeigt haben, hat die EU ein vitales Interesse daran, dass Syrien nicht nur wiederaufgebaut wird, sondern auch daran, dass eine stabile Nachkriegsordnung gefunden wird. Derzeit profitiert das syrische Regime noch vom Krieg. Solange in Syrien gekämpft wird, kann es sich vor dem Hintergrund des Kampfes gegen den Islamischen Staat und den Al-Qaida nahen Hay‘at Tahrir al-Sham in Idlib als kleineres Übel für westliche Staaten gerieren. Sobald aber Frieden herrscht, muss Assad liefern. Besonders die neuaufkeimende Mittelschicht wird sich nicht ewig mit Stromausfällen und kaputter Infrastruktur abfinden. Doch für die nötigen Großprojekte fehlt dem Regime das Geld.

Die jungen Männer, die Verwandte im Krieg verloren haben, werden die ersten sein, die sich radikalisieren oder ins Ausland begeben, wenn sie keinen Platz im Nachkriegssyrien finden. Die Oppositionellen, die keine Perspektive auf eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft haben, werden bis zuletzt den Kampf im Untergrund weiterführen. Schon jetzt stehen Menschen unter Generalverdacht, wenn sie nur aus bekannten Gebieten der Opposition kommen. Die Besitzurkunden und Aufenthaltstitel der im Ausland lebenden Syrer verfallen, weil sie sie nicht verlängern können. Jordanien, Libanon und die Türkei werden kaum in der Lage sein, die Millionen Flüchtlinge in ihre Gesellschaft zu integrieren und wenn, dann nur zum Preis neuer sozialer Spannungen. Darüber hinaus ist eine ganze Generation syrischer Kinder in den letzten sieben Jahren zu wenig oder gar nicht zur Schule gegangen. Assad fehlen die Mittel und auch der Wille, all diesen Problemen zu begegnen und den Menschen eine Perspektive zu geben. Läuft alles weiter wie bisher, wird es zu keinem dauerhaften Frieden kommen. Eine europäische Beteiligung am Wiederaufbau ist daher nicht nur wünschenswert, sondern eine realpolitische Notwendigkeit. Keines der Probleme, die zum Krieg geführt haben, wurde gelöst. Der Alltag vieler Syrer ist von Mangel, Unterdrückung und Denunziation geprägt. Ohne Druck der internationalen Gemeinschaft wird sich nichts daran ändern.

Probleme und Ansatzpunkte für ein europäisches Engagement

Doch noch ist dies Wunschdenken und dem Wiederaufbau stehen tatsächlich moralische und praktische Hürden im Weg. Zunächst ist es schwer zu vermitteln, warum man nach Jahren des politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kampfes auf einmal zum Gegenteil übergehen und einen skrupellosen Regenten mit Milliardengeschenken überhäufen sollte. Selbst wenn dieses moralische Dilemma überwunden werden kann, stünden europäischen oder gar internationalen Finanzhilfen rein praktisch noch Sanktionen im Weg. Diese ohne Zugeständnisse von Seiten Assads aufzuheben wäre fahrlässig, doch auf solche Zugeständnisse wartet die internationale Gemeinschaft immerhin seit sieben Jahren. Gleichsam ist es unwahrscheinlich, dass die US-Regierung sich von ihrer harten Position verabschieden wird. Zu sehr ist man in Washington auf Konfrontation gepolt und zu wenig ist man bereit, Assad, Russland oder gar dem Iran in irgendeiner Weise entgegenzukommen. Doch hier sollte Europa zur Not allein vorangehen, denn Europa leidet deutlich mehr als die USA unter den Spillover-Effekten dieses Krieges. Jedoch ist dies nur in begrenztem Maße möglich, denn unilaterale US-Sanktionen betreffen auch Unternehmen, die in den USA Geschäfte machen oder den Dollar im globalen Zahlungsverkehr nutzen.

Letztlich hängt eine erfolgreiche europäische Initiative für den Wiederaufbau Syriens auch von Zugeständnissen an Teheran und Moskau ab, die den wesentlichen Einfluss auf die syrischen Regierungskreise haben. Beide Mächte werden das mühsam erkämpfte Feld nicht wieder preisgeben wollen, indem westliche Akteure die Konkurrenz auf den ökonomischen Raum ausweiten. Vor allem Teheran wird vielen europäischen Ambitionen entschiedenen entgegentreten, solange der Iran selber von schweren Sanktionsmaßnahmen betroffen ist. Zugänglicher wäre hierbei allerdings Moskau. Russlands Präsident Putin hat bereits auf mehreren Treffen ein europäisches Engagement zum Wiederaufbau Syriens gefordert, da Russland selber nicht im Stande ist, die wesentlichen Mittel zur Verfügung zu stellen und zugleich kaum noch Kräfte im Land binden will.

Doch Russland ist bekanntlich kein einfacher Partner, wenn man tatsächlich neue internationale Mittel für Syrien bereitstellen will, da nicht nur die Frage nach dem sicheren und nachhaltigen Verbleib der Hilfsgelder zusammen mit Moskau geklärt werden müsste, sondern auch die Vermittlung zwischen den einzelnen sicherheitspolitischen Interessen ausgerechnet mit jenem Land organisiert werden müsste, dem man in Europa oftmals zurecht kritisch gegenübersteht. Sollte der angekündigte Rückzug der US-Truppen tatsächlich stattfinden, würde dies eine Verständigung zwischen den Gegnern und Unterstützern des Assad-Regimes erleichtern, waren es doch die USA, die auf eine Zukunft ohne Assad beharrten. Auch die sich abzeichnende Rehabilitierung Assads in der Arabischen Liga eröffnet einige Chancen. Ein gangbarer Weg könnte ein von der UN gestützter Investitionsrat sein. Dieser könnte gesammelte Hilfsgelder verwalten und ein faires Vergabeverfahren organisieren. Doch auch hier hängt ein möglicher Erfolg davon ab, ob sich die Staatengemeinschaft – zumindest übergangsweise – mit einem Verbleib Assads an der Macht arrangieren kann.

Fazit

Die Frage nach Hilfen für den Wiederaufbau Syriens ist für die europäischen Akteure insbesondere eine Frage nach dem größeren Übel. Auf der einen Seite steht dabei der moralische Anspruch, das Leid und die Instabilität in einem Land zu beenden, welches von Berlin aus genausoweit entfernt ist, wie die Touristenhochburgen in Südspanien. Auf der anderen Seite stehen die Bedenken, mit Akteuren zusammenzuarbeiten, welche im Verdacht stehen, mehrfach Chemiewaffen gegen Zivilisten eingesetzt zu haben. Schlussendlich werden sich aber realpolitische Argumente durchsetzen müssen, da der derzeitige Zustand vor dem Hintergrund der neuen Blockbildung in der Region nicht mehr beibehalten werden kann und auch die deutschen und europäischen Interessen zwangsläufig in einer sukzessiven Befriedung Syriens münden. Dass dies nicht ohne gegenseitige Zugeständnisse aus Paris, Berlin und Moskau passieren kann, steht außer Frage. Es bedarf daher neuer Vorstöße auf diplomatischer Bühne, um den Druck zwischen den Parteien herauszunehmen, auch wenn dies bedeuten würde, dass man unliebsame Zugeständnisse machen müsste.

Stefan Lukas ist Doktorand am Historischen Institut der Universität Greifswald zum Themengebiet der Neuesten Geschichte und Sicherheitspolitik der Staaten des Nahen und Mittleren Ostens sowie Redakteur beim ADLAS-Magazin für Außen- und Sicherheitspolitik. Marius Paradies hat Geschichts- und Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin studiert. Er befasst sich mit der Wirtschaft sowie der Außen- und Sicherheitspolitik des Nahen und Mittleren Ostens. Die Autoren geben ihre persönliche Meinung wieder.


[1] Wagner, Patrick (2017): Wiederaufbau Syrien, Die Einsätze, in: Zenith (4), S. 54-59.

 

Arbeitspapier Thema: 
Innerstaatliche Konflikte
Region: 
MENA
Syrien
Schlagworte: 
Syrien
Innerstaatliche Konflikte
Wiederaufbau