Die „Dämonisierung“ Putins und Russlands
Für Putin- und Russland-Versteher liegt ein wesentlicher Grund für die angeblich fehlgeleitete Politik des Westens in der „Dämonisierung“ des russischen Präsidenten. In der westlichen Berichterstattung herrsche eine „infantile“ und „hysterische Putin-Phobie“, „geradezu eine Obsession mit ‘Putin’, der zunehmend zu einer Art omnipotentem Bösewicht wird“. Putin werde „als böser Despot“ und jemand dargestellt, der „lügt und den Westen hasst“. Dabei setzen die Kritiker Putin und Russland gleich. Die Medien machten sich eines „hochtrabenden und unreflektierten Russland-Bashings“ schuldig. „Russland wird verleumdet, beleidigt und beschuldigt“. Jeden Tag sei „der Aufbau eines Feinbilds Russland neu zu beobachten“. Problematisch an derartigen Bewertungen ist die Gleichsetzung von Putin und Russland und dadurch die Übernahme der Sichtweise des Kremls, dass die Interessen eines engen Kreises von aktiven und ehemaligen Geheimdienstlern sowie persönlichen Vertrauten Putins an der Staatsspitze identisch mit denen des Landes seien. Das ermöglicht es, Kritik an Putin, an seiner Politik und an dem von ihm etablierten autoritären Regierungssystem als „anti-russisch“, „russlandfeindlich“ und „Russophobie“ zu brandmarken.[1]
Zudem stellt sich die Frage, ob es sich bei der „Dämonisierung“ Putins und Russlands um Auswüchse pathologischer Russophobie handelt oder ob es nicht objektive Beweisstücke für eine in zunehmendem Maße repressive Innenpolitik mit gefährlicher Instrumentalisierung national-patriotischer und anti-westlicher Rhetorik und aggressiver Außenpolitik gibt. Was ist zum Beispiel mit staatlich organisierten, geförderten oder vertuschten Morden und Entführungen, Desinformations- und Destabilisierungsbemühungen in westlichen Ländern, der aktiven Unterstützung von separatistischen Kräften in Nachbarländern, Gewaltanwendung über international anerkannte Grenzen hinweg, den groben Verstößen gegen das Völkerrecht und massiven Menschenrechtsverletzungen? All dies sind keine Auswüchse russophober Phantasie, sondern unbestreitbare Tatsachen.
Zurückweisung der „ausgestreckten Hand“ Putins
Dem Westen wird unterstellt, dass er die von den Präsidenten Boris Jelzin und später Putin ausgestreckte Hand für engere Zusammenarbeit nicht nur schnöde zurückgewiesen, sondern Anstrengungen unternommen hätte, das Land zu klein zu halten und es zu isolieren. Davon kann nicht die Rede sein. Die NATO nahm sich vor, wie Klaus Naumann, Vorsitzender des NATO-Militärausschusses 1996-1999 in einer detaillierten Rückschau schreibt, „alles zu vermeiden, was Russland als Verletzung oder Demütigung verstehen könnte“. Praktisch mündete diese Rücksichtnahme in eine Selbstverpflichtung, dass Deutschland keine NATO-Truppen und keine Atomwaffen auf ostdeutschem Gebiet stationieren würde. Die Bundeswehr wurde deutlich verkleinert und Russlands heimkehrende Soldaten wurden großzügig unterstützt. In der 1997 unterzeichneten NATO-Russland-Grundakte wurde der NATO-Russland-Rat etabliert. Russland bekam Sitz und Zutritt im NATO-Hauptquartier, richtete dort einen militärischen und diplomatischen Stab ein und wurde zu allen relevanten sicherheitspolitischen Entscheidungen konsultiert.
Auf der Basis des mit Moskau vereinbarten Partnerschafts- und Kooperationsabkommen bot die EU 1999 Russland eine „strategische Partnerschaft“ an. Danach wollte sie die Zusammenarbeit mit Russland im Rahmen von 2003 vereinbarten „Gemeinsamen Räumen“ (Wirtschaft, Äußere Sicherheit, Freiheit-Sicherheit-Recht sowie Forschung und Bildung) weiter voranbringen. Und in Erweiterung zu der vom damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier konzipierten und vereinbarten deutsch-russischen Modernisierungspartnerschaft brachte die EU 2010 eine Modernisierungspartnerschaft mit Russland auf den Weg. Jährlich wurden EU-Russland-Gipfeltreffen abgehalten. Der wirtschaftliche Austausch intensivierte sich und erreichte 2013 ein Rekordvolumen 356 Milliarden Euro. Die intensivsten Beziehungen zu Moskau baute Deutschland auf. Analog zu den Treffen zwischen der EU und Russland fanden jährlich deutsch-Regierungskonsultationen statt. Parallel dazu traf sich die deutsch-russische Strategische Arbeitsgruppe für Wirtschaft und Finanzen, wo führende Vertreter der beiden Länder gemeinsame Projekte auf die Schiene setzten. Im Rekordjahr 2013 erreichte der bilaterale Handel ein Volumen von 80 Milliarden Euro, und der Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft konnte auf 6.400 deutsche Firmen verweisen, die im Russlandgeschäft aktiv waren. Städtepartnerschaften wurden gegründet, gemeinsame Forschungsprojekte durchgeführt, ein reger Kulturaustausch gefördert und Jugendaustausch aufgebaut.
Tatsache ist also, dass der Westen Russland die Hand zu enger Kooperation ausgestreckt hat – und weiterhin ausstreckt. Warum also, ist zu fragen, wird sie vom Kreml zurückgewiesen? Ein wesentlicher Grund liegt in den Wahrnehmungen der russischen Machtelite. Diesen zufolge untergräbt enge Kooperation mit dem Westen das eigene Herrschaftssystem. Die von Dmitri Medwedew in den ersten Jahren seiner Amtszeit von 2008 bis 2012 wiederholt angemahnte Modernisierung des Landes hatte aus Sicht der Moskauer Machtelite gefährliche Erwartungen in der Bevölkerung genährt. Der in Jugoslawien, der Ukraine und Georgien verbreitete Virus liberaler und demokratischer „Farbrevolutionen“ drohte ihr zufolge auf Russland überzuschwappen. Dieser vermeintlichen Gefahr musste nach Überzeugung des Kremls im Lande selbst und in den Nachbarstaaten energisch Einhalt geboten werden. Das Ziel sozio-ökonomischer Modernisierung mit Hilfe des Westens wurde durch anti-westliche, national-patriotische Mobilisierung ersetzt.
Mit Russland werde nicht „auf Augenhöhe“ geredet
In einem weiteren Vorwurf, den die Apologeten der Politik Putins erheben, wird dem Westen vorgeworfen, Russland „gedemütigt“, „herablassend behandelt“, „nicht ernst genommen“ und sich geweigert zu haben, mit ihm „gleichberechtigt“ und „auf Augenhöhe“ zu verhandeln. Dies sei für die russische Führung sehr „schmerzhaft“ gewesen. Wenn Putin darauf empfindlich reagiert habe, könne man dies als die Haltung „eines enttäuschten Liebhabers“ verstehen, der „seine Konsequenzen aus der Zurückweisung“ gezogen hätte.
Problematisch an dieser Sicht ist, dass sich der Anspruch des Kremls, „auf Augenhöhe“ behandelt zu werden, nicht auf die Beziehungen zu europäischen Mittelmächten bezieht, sondern auf das Verhältnis Russlands zu den USA. Dies erklärt den empörten Aufschrei der von einem Phantomschmerz über den Verlust der Weltmachtrolle geplagten Moskauer Machtelite, als Präsident Obama es wagte, Russland nicht als Weltmacht, sondern lediglich als „Regionalmacht“ zu bezeichnen. Der Aufschrei ist heute sogar lauter als der, den die Sowjetführung unter Leonid Breschnew ausstieß, als Bundeskanzler Helmut Schmidt die Sowjetunion als ein „Obervolta mit Atomwaffen“ bezeichnete. Dabei ist diese Sicht doch nichts anderes als eine berechtigte Warnung, Russlands Machtbasis und seine Möglichkeiten nicht zu überschätzen.
Tatsächlich liegt in dem Anspruch Putin-Russlands, als Weltmacht „auf Augenhöhe“ mit den USA behandelt zu werden, der Urknall und Sündenfall der russischen Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Die russischen Machtinhaber haben die Vision der Vertreter des „Neuen Politischen Denkens“ in der Ära Gorbatschow und den ersten Jahren der Jelzin-Ära verlassen, der zufolge das Land seine imperialen Ambitionen aufgeben, eine Mittelmacht werden und auf der Basis europäischer Werte handeln sollte. Stattdessen sind sie zum traditionellen Denken in geopolitischen Kategorien zurückgekehrt.
Die NATO-Osterweiterung – ein „Wortbruch“
Für diejenigen, die Verständnis für die Politik Putins zeigen, spielt die NATO-Osterweiterung eine zentrale Rolle. Sie schreiben diesem Schritt der NATO eine moralische Dimension zu. Der Westen hätte gegen feste Zusicherungen aus den Verhandlungen zur deutschen Einheit verstoßen, dass sich die westliche Allianz nicht über die Grenzen der ehemaligen DDR hinaus nach Osten ausdehnen würde. Faktum ist wiederum, dass die Osterweiterung der NATO über die Grenzen der ehemaligen DDR hinaus kein Thema von Gesprächen oder Verhandlungen mit Moskau war. Letzten Endes hat das auch Gorbatschow, der es wissen muss, zugegeben. Dafür, dass das Thema nicht behandelt wurde, gibt es gewichtige Gründe. Westliche Staats- und Regierungschefs und Außenminister standen 1989/90 keineswegs unter dem Eindruck, dass sich der Warschauer Pakt in kurzer Zeit auflösen würde. Auch Gorbatschow ging nicht davon aus. Er teilte die Überlegungen seines Generalstabschefs, Marschall Sergej Achromejew, dass der Pakt reformiert werden könnte und dass, wenn der ideologische Kitt, der das Bündnis zusammengehalten hatte, beseitigt würde, es die „staatlichen Interessen“ seiner Mitglieder am Leben halten würden. Aber auch wenn es anders gewesen wäre, hätte sich der Westen nicht einfach über das in der KSZE-Grundakte festgelegte Recht der freien Bündniswahl für ihre Unterzeichnerstaaten hinwegsetzen können.
Die militärische „Einkreisung“ Russlands
Integraler Bestandteil der Osterweiterung der westlichen Allianz sei die militärische Einkreisung Russlands. NATO-Stoßtruppen, auch deutsche, und militärische Infrastruktur seien an die russischen Grenzen verlegt worden, und in Polen und Rumänien seien Raketenbasen errichtet worden. Dies hätte eine „Eskalationsspirale“ in Gang gesetzt, die „brandgefährlich“ sei. Die Idee, dass die USA und die NATO Streitkräfte in Osteuropa für Offensivoperationen gegen Russland aufbaue, kann nur als absurd bezeichnet werden. Die Stationierungen sind lediglich symbolischer Art, wofür es mehrere Gründe gibt. Erstens haben nicht einmal die Vereinigten Staaten, geschweige denn ihre europäischen Verbündeten, ausreichende militärische und finanzielle Ressourcen, um große militärische Einheiten in Osteuropa zu stationieren. Zweitens fehlen den Regierungen der NATO-Länder dazu auch der Wille und die innenpolitischen Voraussetzungen.
Die tatsächliche Situation ist gänzlich anderer Art. Nicht die NATO, sondern Russland hat militärische Kräfte in Europa aufgebaut, die für umfangreiche Offensivoperationen geeignet sind – eine Tatsache, welche die russischen Streitkräfte in mehreren Großmanövern unter Beweis gestellt haben und die Putin, wenn auch mit einiger Übertreibung, mit den Worten unterstrichen hat: „Wenn ich wollte, könnten russische Truppen in zwei Tagen nicht nur in Kiew, sondern auch in Riga, Vilnius, Tallinn, Warschau oder Bukarest sein“.
„Wieder Krieg in Europa?“
Für die „Versteher“ der Politik des Kremls befindet sich die Welt aufgrund einer moralisch verwerflichen und politisch verfehlten Russland-Politik des Westens „am Abgrund“. Die westliche Politik habe die Gefahr heraufbeschworen, dass der „neu ausgebrochene Ost-West-Konflikt“ außer Kontrolle gerät und dann ein „dritter und letzter Weltkrieg“ stattfinden würde. Insbesondere hätten die militärischen Stationierungen der NATO in Ostmitteleuropa eine höchstgefährliche Situation mit akuten Eskalationsrisiken heraufbeschworen.
Auch dieser Diskurs hat wenig bis nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Wie beschrieben, verfügt die NATO über keine auch nur annähernd ausreichenden militärischen Fähigkeiten für offensive Operationen im östlichen Europa und zeigt auch keine Bereitschaft, solche Fähigkeiten zu erwerben. Das im Westen teils erhoffte, teils erwartete „Ende der Geschichte“ nach dem Ende des Kalten Krieges hat zu Kürzungen der Militärhaushalte und der militärischen Hardware sowie der materiellen Schwächung der Kampfkraft insbesondere der europäischen NATO-Mitglieder geführt - eine Tatsache, die in den Zusammenhang mit dem Schwinden von Kampfmoral und Kampfbereitschaft gestellt werden muss. Der Verlust von nur wenigen Panzern und Flugzeugen würde heute als eine Katastrophe betrachtet, die früher mit dem Verlust eines Schlachtschiffs oder einer Panzerdivision einhergegangen ist. Aus offensichtlichen Gründen übertreibt der Kreml die Eskalationsrisiken. Glaubte er seiner eigenen Propaganda, hätte er in Georgien, der Ukraine und in Syrien niemals Gewalt angewandt.
Was tun? „Zur Ost- und Entspannungspolitik der 1970er Jahre zurückkehren!“
Putin- und Russland-Versteher haben konkrete Ratschläge für die westliche Politik. Dazu gehört „Helsinki 2“, die als notwendig erachtete „Anknüpfung an die Lehren aus der Entspannungspolitik“, die heute wie damals erfordere, den „Status quo anzuerkennen“ und einen „umfassenden Kooperationsansatz“ zu verfolgen. So wünschenswert es auch wäre, eine umfassende Entspannung im Verhältnis zu Russland zu erreichen, so unrealistisch ist es doch, die Bahr-Brandt-Ostpolitik als Orientierungshilfe anzusehen. Die derzeitigen Bedingungen sind ganz anders als die der 1970er Jahre. Die deutsche Wiedervereinigung als zentrales Ziel des damaligen Ansatzes ist erreicht, was Deutschland im Prinzip einen größeren Handlungsspielraum erlaubt, aber Trump ist nicht George H. W. Bush und Putin kein Status-quo Politiker. Russland heute ist eine revisionistische Macht. Zudem muss man aus den Fehlern Egon Bahrs lernen. Denn so grundlegend seine Weitsicht in der Anfangsphase der Entspannungspolitik war, so problematisch war die Politik der SPD Ende der 19070er Jahre und vor allem zu Beginn der 1980er Jahre. Die sozialdemokratische Entspannungspolitik ignorierte die Emanzipationsbestrebungen und Bürgerrechtsbewegungen in Ostmitteleuropa, insbesondere in Polen. Sie beschäftigte sich praktisch nur noch mit den kommunistischen Machthabern. Die Bürgerrechtsbewegungen wurden nicht als Kristallisationskerne postkommunistischer gesellschaftlicher und politischer Strukturen behandelt, sondern eher als Störenfriede und als Risikofaktoren − ein fataler Fehlansatz, der sich heute im Umgang mit Russland nicht wiederholen sollte. Eine entsprechende Gefahr gibt es allerdings. Sie ist in einem weiteren, dem folgenden Ratschlag für eine neue Russland-Politik zu finden:
Was tun? „Werteimperialismus aufgeben!“
Die westliche Russland-Politik müsste „entideologisiert“ werden. Der Westen sollte aufhören, sich im Umgang mit Russland „einseitig auf Werte zu fokussieren“, ständig eine „Moralkeule“ zu schwingen und mit Begriffen wie „Demokratie“ und „Menschenrechten herumzuwedeln“. Es sei falsch, auf der Durchsetzung liberaler Werte zu beharren und Russland allein an diesem für ihn unerquicklichen und potentiell unerreichbaren Maßstab zu messen. Letzten Endes sei zu bedenken, dass „Sicherheit unteilbar“ ist. Sicherheit müsse „für alle Staaten gleichermaßen gelten, also auch für jene, deren Wertvorstellungen nicht den unseren entsprechen.“
Was aber sollte im Verhältnis zu Russland den Rahmen liberaldemokratischer Grundwerte ersetzen? Ein „pragmatischer“ Ansatz sollte verfolgt werden, der sich auf „beiderseitige Interessen“ konzentriere. Dabei müsste der Westen eine Haltung aufgeben, „die von Russland vorgebrachten Interessen von vornherein als illegitim“ zu betrachten und bereit sein, „echte Kompromisse“ zu schließen. Das Ringen um Einflusszonen sollte durch „Abgrenzung“ beendet und der „Status quo“ sowie „das russische Beharren auf sicherheitspolitische Mitsprache in seiner Interessensphäre akzeptiert und in die Gestaltung der Ost- und Erweiterungspolitik der westlichen Organisationen einbezogen“ werden.
Mit derartigen Ratschlägen wird der revisionistische Impuls des Kremls, den postsowjetischen Raum als russische Einflusssphäre wiederherzustellen, praktisch legitimiert. Damit kehren die Befürworter eines angeblich „pragmatischen“ und „interessengeleiteten“ Ansatzes normativ in die Welt vor 1989 zurück, zum Kalten Krieg und zur „friedliche Koexistenz“ sowjetischer Lesart, einschließlich der Breschnew-Doktrin begrenzter Souveränität von Satellitenstaaten. Dies wird auch in ihren Vorstellungen und daraus abgeleiteten Ratschlägen für die Politik gegenüber der Ukraine deutlich.
Was tun? „Die Ukraine zur Mäßigung mahnen!“
Befürworter einer anderen Russland-Politik gehen in ihren Darstellungen davon aus, dass es sich bei der Maidan-Revolution „juristisch um einen Staatsstreich“ gehandelt hätte, um einen „Putsch“, gekennzeichnet von gewaltsamen Protest-, Blockade- und Besetzungsaktionen der Maidan-Akteure und schweren und schwersten Straftaten unter Mitbeteiligung von extrem rechtsgerichteten, nationalistischen und faschistischer Organisationen sowie ausländischer Regierungen, insbesondere der USA. In der Ukraine werde man „im Alltag als Ausländer ständig bedroht“ und man könne sich frei nur „bewaffnet bewegen“. Putin hätte ganz recht, wenn feststelle, alle ukrainischen Präsidenten seien „Lumpen“. Dies treffe auch auf die Kandidaten für die Präsidentschaftswahl im April 2019 zu.
Das negative Bild innerukrainischer Verhältnisse wird durch eine verständnisvolle Diagnose der russischen Motive und Maßnahmen ergänzt. Zu bedenken sei, dass die Krim „ureigenes russisches Land“ sei. Diese „Tatsache“ und die Bedeutung der Halbinsel für Russland, emotional, militärisch und geostrategisch, hätte der Westen „nicht richtig eingeschätzt“. Um seine Sicherheit zu wahren und zu verhindern, dass Sewastopol zu einer NATO-Basis wird, habe sich Russland gezwungen gesehen, einzugreifen. Was Putin getan hat, sei keine widerrechtliche Landnahme, sondern „Notwehr unter Zeitdruck.“
Immer wieder erschallt auch bei weiteren eklatanten russischen Völkerrechtsverletzungen der Ruf von Putin-Verstehern an beide Seiten, sich zu „mäßigen“ und eine „Eskalation“ zu vermeiden. Damit werden Aggressor und Opfer der Aggression gleichgestellt. Politisch problematisch ist auch, wer mit den „beiden Seiten“ gemeint ist. Das ist beispielsweise von Bedeutung, wenn es um die bisher noch in keinem Punkt erfolgte Ausführung der Bestimmungen des Minsker Abkommens vom Februar 2015 geht. Den Putin- und Russland-Verstehern zufolge handelt es sich dabei auf der einen Seite um die ukrainische Regierung und auf der anderen um die Machthaber in den „Volksrepubliken“ Doneck und Lugansk. Diese werden nicht als Gewaltunternehmer in russischem Staatsauftrag, sondern als eigenständige Akteure betrachtet – eine Sicht, die durch den Gedanken abgerundet wird, dass es mit der Kontrolle Moskaus über die Separatisten in diesem „internen ukrainischen Konflikt“ ohnehin nicht weit her sei. „Sogar die Amerikaner“ hätten mehr Einwirkungsmöglichkeiten als die Russen.
Eine wirklichkeitsgetreuere Darstellung würde davon ausgehen, dass Putin die hybride Kriegsführung und die stete militärische Drohkulisse an der ukrainischen Grenze als Hebel nutzt, um eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine auszuschließen und einer erfolgreichen Umsetzung des EU-Ukraine Assoziierungsabkommens Hindernisse in den Weg zu legen. Denn im Nullsummendenken der Moskauer Machtelite wäre eine prosperierende, an europäischen Werten orientierte Ukraine, die mit dem großen Nachbarn freundschaftlich verbunden wäre, kein „Gewinn“, sondern eine Bedrohung der inneren Sicherheit Russlands.
Fazit
Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus den Apologien der Politik des Kremls ziehen? Solide abgesicherte Forschungsergebnisse wissenschaftlicher Institute, Berichte der Auslandskorrespondenten seriöser Zeitungen und Zeitschriften und Erfahrungen der in Moskau tätigen politischen Stiftungen werden einfach vom Tisch gewischt. Die Traktate sind von einer nahezu unglaublichen Unkenntnis tatsächlicher Verhältnisse gekennzeichnet und von populistischen Slogans sowie pauschalen Urteilen und Vorurteilen übersät. Die anti-westlichen Narrative des Kremls, egal wie unplausibel, werden praktisch übernommen und zum Teil sogar dann noch weiter gepflegt, wenn die russische Führung sie schon abgeschwächt oder aufgegeben hat. Durchweg findet das Prinzip in dubio pre reo auf das Verhalten der Kremls Anwendung, auch in solchen Fällen in den es gar nicht um eine rechtliche, sondern um eine politische Bewertung geht.
Die Apologetik russischer Politik erscheint auch im Gewand von schiefen Vergleichen und Gleichsetzungen („auch die Amerikaner …“), falschen oder nicht anwendbaren historischen Zuordnungen („die Ukraine hat nie Eigenstaatlichkeit besessen, „die Krim war schon immer russisch“ …) und leeren Worthülsen („Wir brauchen Frieden und Freundschaft mit Russland“, „Dialog statt Eskalation“, „Sicherheit in Europa ist nicht ohne, geschweige denn gegen Russland denkbar“), die für sich genommen keinerlei Auskunft darüber geben, was in der praktischen Politik, einschließlich der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik unternommen werden soll.
Zudem paart sich die Apologetik des Kremls mit scharfer Kritik an der westlichen Russlandpolitik und führt zu gefährlichen Ratschlägen − zu von Anmaßungen geprägten „Aufrufen“ zu Besinnung und Umkehr in der westlichen Russlandpolitik. Sie ist letzten Endes deswegen gefährlich, weil sie einer Politik des Appeasements das Wort redet, eines Ansatzes, der darauf abzielt mittels „Verständnisses“ für russische Interessen, oder das, was der Kreml dafür ausgibt, und „Kompromissen“, russisches Wohlverhalten zu erwirken.
Hannes Adomeit ist Senior Fellow am Institut für Sicherheitspolitik der Universität Kiel (ISPK).
[1] Dieses Arbeitspapier ist die Kurzfassung eines Artikels, der in Sirius – Zeitschrift für Strategische Analysen 3/2019 erschienen ist. Dort werden die Thesen der Putin- und Russland-Versteher ausführlicher dargelegt und mit Zitaten genau belegt.