Deutschland und Europa sehen sich einer gravierenden Verschlechterung ihres Sicherheitsumfeldes ausgesetzt. Durch Russlands Angriff auf die Ukraine ist Krieg in Mitteleuropa wieder eine Realität. Neben unverhohlenen militärischen Drohungen versucht Russland, durch Methoden hybrider Kriegsführung wie Cyberangriffe, Sabotage und Desinformationskampagnen unterhalb der Schwelle zum offenen bewaffneten Konflikt die Stabilität westlicher Demokratien und ihre politische Willensbildung zur Unterstützung der Ukraine zu untergraben. Geopolitisch stellen Russland wie China in ihrem Bestreben zur globalen wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen, militärischen und geheimdienstlichen Gegenmachtbildung auf absehbare Zeit eine schwerwiegende Herausforderung für die Sicherheit und Prosperität Europas dar.
Der globale Süden als wichtige Zielgruppe dieser Gegenmachtbildung geht zunehmend auf politische Distanz – mit potentiell schwerwiegenden Konsequenzen für die Versorgungssicherheit mit strategischen Rohstoffen und der Stabilität vitaler Lieferketten. Ressourcen- und machtpolitische Auseinandersetzungen werden sich weltweit weiter entwickeln, überlagert und verstärkt auch durch Folgen des Klimawandels. Massive Migrationsbewegungen, aber auch Versorgungsengpässe bei strategischen Gütern könnten die Folge sein. Migration in Verbindung mit Community-Bildung bis hin zur Etablierung faktischer Parallelgesellschaften kann dazu führen, dass auch Ereignisse außerhalb Europas die Entstehung, Dynamik und Ausrichtung gesellschaftlicher Verwerfungen, Konflikte und Radikalismen bis hin zu kollektiver oder auch terroristischer Gewalt befördern.
Nachrichtendienstliche Aufklärung als erste Verteidigungslinie
Vorausschauendes, zielgerichtetes und situationsangemessenes Handeln setzt rechtzeitiges qualifiziertes Wissen über langfristig absehbare, aber auch kurzfristig bevorstehende oder aktuelle Herausforderungen und Gefährdungsmomente voraus. Zentrale Aufgabe der Nachrichtendienste ist es, mit strategic beziehungsweise tactical intelligence maßgeblich zu diesem handlungsbefähigenden Wissen beizutragen. Sie sind damit die erste Verteidigungslinie für Sicherheit, Freiheit und Selbstbestimmung Deutschlands im engen Verbund mit der NATO und der Europäischen Union. Die rechtzeitige Antizipation, Identifikation und Qualifizierung von relevanten außen- und sicherheitspolitischen Entwicklungen und Gefahrenmomenten bis hinein in den Bereich der inneren Sicherheit, Stabilität und Souveränität politischer Willensbildung sind Grundvoraussetzungen für die Befähigung, rechtzeitig angemessene Vorbereitungen zu ihrer Abwehr, im Idealfall auch zu ihrer Überwindung treffen zu können. Ein zeitgerecht zur Verfügung stehender adäquater Informationsstand – besser noch Informationsüberlegenheit – schützt im Ernstfall Menschenleben.
Intelligence muss daher handlungsbefähigend sein und damit konkret, faktenorientiert, sachkompetent und perspektivisch. Sie muss dann jedoch auch zu den erforderlichen Entscheidungsprozessen führen können, mit denen im Hinblick auf erkannte Konflikt- und Gefährdungslagen geeignete präventive und reaktive Optionen geschaffen werden. Ohne das Zusammenwirken von Lagefeststellung, Lagebeurteilung und operativer Entscheidung kann schwerwiegenden politischen oder militärischen Überraschungen wie im Fall des Zusammenbruchs in Afghanistan im August 2021, des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 oder auch des beispiellosen Terrorangriffs der Hamas auf Israel im Oktober 2023 kaum wirksam vorgebeugt werden. In all diesen drei Fällen stand im Vorfeld strategic und tactical intelligence zur Verfügung, wurde jedoch nicht in ausreichendem Maße in vorausschauendes Regierungshandeln umgesetzt. Die essentielle Fähigkeit zur politischen, aber auch militärischen Selbstbehauptung basiert auf Informationsüberlegenheit und dem Willen, diese auch zu nutzen. Informationsüberlegenheit ist folglich das Ziel nachrichtendienstlicher Arbeit im Innern wie nach außen.
Strategic intelligence muss zur Verfügung gestellt werden, um rechtzeitig adäquate Vorsorge in den potentiell betroffenen Bereichen gegen bereits im Vorfeld erkannte Risiken treffen zu können. Tactical intelligence muss kurzfristig entstehende politische, wirtschaftliche, militärische, subversive und terroristische Gefährdungsmomente identifizieren und qualifizieren, denen es unverzüglich zu begegnen gilt. Die zuständigen operativ relevanten Bereiche in Politik, Streitkräften und Sicherheitsbehörden müssen auf dieser Grundlage eine bestehende oder potentielle Bedrohung erkennen, die konkreten Befähigungen eines möglichen Kontrahenten und seine Absichten verstehen und sich rechtzeitig auf diese einstellen können.
Angesichts ermittelter Bedrohungslagen und perzipierter strategischer Risiken muss die Bundesregierung – wo immer möglich und zielführend in enger Abstimmung mit den Verbündeten in EU und NATO – definieren, wozu sie politisch und militärisch zur Sicherheitsgewährleistung und Bewahrung von Prosperität und Lebensperspektiven fähig sein muss. Es gilt zu klären, welche Herausforderungen und Gefahren sie folglich mit welchen Mitteln aufzuklären und zu bewältigen gedenkt. Hieraus ergibt sich dann das Aufklärungsspektrum für die Nachrichtendienste. Dieser Prozess wird umso dringlicher werden, sollte Europa ohne ein adäquates Engagement der USA in seiner Sicherheitsgewährleistung zunehmend auf sich gestellt sein.
Ohne die umfassenden, global wirksamen nachrichtendienstlichen Kapazitäten der westlichen Führungsmacht würden wesentliche Beiträge zum strategischen Lagebild in bedrohungsrelevanten Kernbereichen, aber auch zu konkreten Gefährdungshinweisen etwa auf bevorstehende Terroranschläge, Sabotagehandlungen und Subversion, entfallen. Bemühungen, diesen Verlust zu kompensieren, würden dramatische Konsequenzen in finanzieller und technisch-operativer Hinsicht haben und auch die bisherigen rechtlichen Grundlagen nachrichtendienstlicher Befähigungen und Befugnisse in Frage stellen. Diese sind bei den amerikanischen Diensten, und nicht nur diesen, deutlich ergebnisorientierter ausgelegt und ermöglichen die Aufklärungsergebnisse, auf die sich deutsche Sicherheitsbehörden immer wieder verlassen müssen.
Maßnahmen zur zukunftsorientierten Befähigung der Dienste
Mehr denn je müssen folglich die Dienste in die Lage versetzt werden, unter Einsatz der modernsten Mittel unserer Zeit mit den neuen Herausforderungen Schritt zu halten. Hier gelten die gleichen qualitativen Maßstäbe wie für die Bundeswehr. Die Befähigungen von morgen müssen heute erkannt, konzipiert und zukunftsorientiert im erforderlichen Umfang bereitgestellt werden. Konzeptionen und Pläne müssen heute mit Blick auf 2030, 2040 und 2050 definiert, ausgeplant und für ihre Implementierung verlässlich mit den erforderlichen Haushaltsmitteln hinterlegt werden.
Strategischer Faktor Personal
Nachrichtendienste sind Behörden. Gleichwohl ist die Mehrheit ihrer Angehörigen nicht zum Vollzug von Verwaltungsvorschriften berufen, sondern zur Beschaffung und Auswertung von bislang unbekannten Informationen, deren Inhalt und Bedeutung sie kompetent erfassen und bewerten müssen, um sie qualifiziert in handlungsorientierte Entscheidungsprozesse einbringen zu können. Nachrichtendienste sind Teil eines kognitiven Wertschöpfungsprozesses zur Unterstützung staatlichen Handelns. Ein hohes Maß an Sach- und Fachkenntnis ist damit das unabdingbare Fundament, auf dem die Leistungsfähigkeit eines Nachrichtendienstes und letztlich seine Output-Legitimation beruhen. Umfassend auftragsgemäß bereitgehaltene fachliche und methodische Exzellenz muss hier das Maß aller Dinge sein. Diese gilt es daher, mit allen Mitteln sicherzustellen. Ausbildung, auch vollumfängliche akademische Qualifizierung und Weiterbildung, müssen gewährleistet werden, und dies in allen fachlichen wie methodischen Kernkompetenzen von Beschaffung und Auswertung, nicht nur im technischen Bereich.
Dem aufgrund demographischer Rahmenbedingungen absehbaren massiven, wenn nicht gar bedrohlichen Mangel an derart qualifizierten Arbeitskräften gilt es bereits heute perspektivisch durch neue Verfahren der Personalgewinnung, Qualifizierung, Entwicklung und Führung Rechnung zu tragen. Zu Recht ist dieser Prozess von berufener Stelle im Bundeskanzleramt als „Mega-Herausforderung“ bezeichnet worden. Außergewöhnliche Situationen erfordern dann jedoch auch außergewöhnliche Maßnahmen: Besoldungs- und Laufbahnstrukturen müssen hier ebenso geöffnet wie finanzielle Mittel langfristig bereitgestellt werden, um unter widrigen Umständen Spitzenkräfte gewinnen oder diese dienstintern entsprechend entwickeln und fördern zu können.
Akzeptanz und Ansehen von Sicherheitsbehörden in Politik und Gesellschaft sind Voraussetzung für ihre Handlungsfähigkeit, und dies auch im Bereich der Personalgewinnung. Hierbei ist ein eigenes Employer Branding der Dienste selbst unabdingbar, jedoch ohne entsprechende Unterstützung durch eine strategisch angelegte, kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung nicht ausreichend. Entscheidend am Markt ist kommunizierte Zufriedenheit des Kunden, also der Bundesregierung. Wer die Bundeswehr lobt, kann auch die Dienste loben, insbesondere, wenn sie im Hintergrund zum Erfolg von Regierungshandeln beigetragen haben. Status und Ansehen der Dienste fußen vor allem auf konsistenten, generellen wie anlassbezogenen, Aussagen der Bundesregierung zu ihrer Bedeutung im politischen Entscheidungsprozess wie in der Sicherheitsarchitektur Deutschlands.
Technische Kompetenz
Mehr denn je hängt eine faktenorientierte und zeitgerechte Lagefeststellung von technischen Aufklärungsmitteln ab. Diese stehen aufgrund der rasanten Entwicklung Künstlicher Intelligenz wiederum mitten in einem Umbruch, der zu völlig neuen Leistungsparametern führt, die ihrerseits über Erfolg und Misserfolg, Relevanz und Irrelevanz nachrichtendienstlicher Aufklärung entscheiden werden. Mit höchster Priorität müssen hier die Befähigungen zum Aufbau und Einsatz von KI und perspektivisch auch von Quantum-Computing in allen Beschaffungs-, Analyse- und Kommunikationsprozessen entwickelt werden. Dies gilt für die Dienste selbst, allerdings auch für deren Vernetzung untereinander wie mit den Lage- und Entscheidungsstrukturen der Bundesregierung. Viele technische Verfahren sind hier noch nicht ausgereift. Umso wichtiger ist es jedoch, sich nicht der Illusion hinzugeben, man habe noch viel Zeit. Allein die Vorbereitung bestehender Strukturen auf die absehbaren Quantensprünge in Leistungsfähigkeit und insbesondere Komplexität und Schnelligkeit von Prozessen erfordert bereits heute erhebliche Anstrengungen.
Darüber hinaus gilt es, im Bundesnachrichtendienst eine leistungsstarke strategische IMINT-Kapazität mit eigenen Satelliten, einem umfassenden Sensor-Mix (IMINT, MASINT, TECHINT) und KI-unterstützten real-time-Analyseprozessen aufzubauen. Mit dem Projekt des elektro-optischen Aufklärungssatelliten GEORG wird hier bereits in diese Schlüsselkompetenz investiert, die durch Satelliten mit anderer Sensorik wie dem durch die Bundeswehr ausgebrachten satellitengestützten RADAR-System SARah zu ergänzen ist. Entscheidend ist die rasche Einführung der bereits weit fortgeschrittenen Systeme und ihre Inbetriebnahme bis 2025; ebenso aber auch die heute schon begonnene Weiterentwicklung der Nachfolgegeneration auf gesicherter Finanzierungsgrundlage. Die technischen Beschaffungs- und Analyseoptionen in OSINT, SIGINT, COMINT und Computer Network Operations („Hacking“) müssen mit den neuesten Standards und Entwicklungen der Verbündeten, einschließlich der neuen Dimensionen von KI und Quantum-Computing, angepasst werden. Dies setzt allein schon das Erfordernis der operativen Komplementarität voraus. Nur in einem derartigen Aufklärungs- und Analyseverbund können die Herausforderungen der Zukunft bewältigt werden.
In vergleichbarer Weise muss dem Aufbau einer gesicherten, leistungsstarken und insbesondere auch redundanten Vernetzung der Lagezentren in Bundesministerien, Bundesbehörden, Landesbehörden und international eine hohe Priorität in Planung, Budgetierung und Umsetzung eingeräumt werden. Ohne verzugslose Kommunikation werden Informations- und Entscheidungsprozesse der Zukunft den Anforderungen dynamischer Lagen nicht mehr gerecht werden können. Kommunikative Flaschenhälse und blinde Flecken aufgrund unzureichender Ausstattung müssen vermieden werden. Verschlüsselung muss hier bereits im Hinblick auf Quantum-Computing ausgelegt werden.
Rechtliche Mandatierung und Kontrollmechanismen
Den mit der Zeitenwende verbundenen existenziellen Herausforderungen für die innere und äußere Sicherheit, bis hin zur erneut relevanten Frage der Handlungs- und Leistungsfähigkeit im Spannungs-und Verteidigungsfall, gilt es auch in den rechtlichen Befugnissen der Dienste angemessen Rechnung zu tragen. Befähigungen nützen nichts, wenn ihr operativ erforderlicher Einsatz an rechtlichen und administrativen Voraussetzungen und Bedingungen scheitert. Die deutschen Nachrichtendienste bräuchten „deutlich mehr operative Beinfreiheit“, sagte BND-Präsident Kahl bei der jüngsten öffentlichen Anhörung vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium. Die geplante Sicherheitsgesetzgebung dürfe am Ende die Wahrheitsfindung nicht erschweren. BAMAD-Präsidentin Rosenberg sagte zum selben Anlass, sie erhoffe sich von der Novellierung „eine Realitätsanpassung, die uns die Möglichkeiten und Fähigkeiten einräumt, unseren gesetzlichen Auftrag bestmöglich erledigen zu können“. Agilität, Reaktionsfähigkeit und vorausschauendes Handeln müssen durch eine geeignete Ausgestaltung von rechtlicher Mandatierung und Kontrolle gewährleistet werden. Zur Vorbeugung eines irrtümlichen oder missbräuchlichen Einsatzes gilt es, wo nötig Verlaufskontrollen zu stärken, mit denen jede eingeleitete Maßnahme bereits im frühen Stadium wieder beendet und im Ergebnis unzulässig erhobene Daten gelöscht werden können. Entsprechende Verfahren stehen bereits zur Verfügung und müssen nötigenfalls weiter ertüchtigt werden. Mehrstufige, gegebenenfalls komplex zu begründende Vorabkontrollen bieten dagegen zwar a priori Rechtssicherheit, nicht jedoch das operativ erforderliche Maß an Agilität und Wirksamkeit. Vorabkontrolle kann und darf nicht in operativer Vermeidungshaltung enden oder notwendige und angestrebte Ergebnisse durch Zeitablauf a priori zunichtemachen.
Kontrollmechanismen binden erhebliche personelle Ressourcen durch die Abgabe von Experten an die zuständigen Instanzen und die zusätzliche Bindung von Personal in den Diensten bei der Unterstützung der Maßnahmen. Dieser unvermeidliche zusätzliche Bedarf muss zwingend bei der Konzeption und Planung von Kontrollgremien ermittelt und vorausschauend gedeckt werden. Andernfalls führt Kontrolle zur Schwächung, wenn nicht Lähmung der betroffenen operativen Bereiche. Die bisher seit 2021 eingeführten mehrstufigen Genehmigungsvorbehalte werden hier unter den genannten Aspekten ebenso auf den legislativen und administrativen Prüfstand zu stellen sein wie die 2023 erlassenen strikten Bedingungen für die Übermittlung personenbezogener Daten, die gemeinsame Datenhaltung zwischen Behörden, die Vorratsdatenspeicherung von Kommunikationsdaten und die Zulässigkeitsbestimmungen für den Einsatz von Quellen-Telekommunikationsüberwachung.
Nachrichtendienste im ressortübergreifenden Entscheidungsprozess
Angesichts der Komplexität der Risiken, Herausforderungen und Bedrohungen fordert die Nationale Sicherheitsstrategie die Gewährleistung integrierter Sicherheit. Dies erfordert wiederum eine wirksame Integration der Nachrichtendienste und ihrer Beiträge in einem ressortübergreifenden Prozess von Lagefeststellung und Lagebeurteilung, der Komplexität reduziert und zu handlungsbefähigenden Ergebnissen führt. Nur so können die spezifischen Ergebnisse nachrichtendienstlicher Beschaffung und Analyse ihre geforderte Wirkung im Entscheidungsprozess entfalten.
Lagefeststellung und -beurteilung erfolgt bisher vor dem Hintergrund eines ausgeprägten föderalen Systems und des Ressortprinzips der Bundesregierung überwiegend in eigenständiger Kompetenzwahrnehmung von Bundes- und Landesressorts sowie der zuständigen Behörden. Damit sind sie a priori disparat. Die jeweiligen Ergebnisse werden dann in der Regel erst auf der politischen Entscheidungsebene als „Hausmeinung“ in einen vornehmlich (partei-)politisch-operativen Diskussions- und Abstimmungsprozess eingeführt.
Gesamtlagefeststellung und Lagebeurteilung sind jedoch sachlogisch eine ressortübergreifende Aufgabe, die einen gemeinsamen fachlichen – und nicht politischen – Ansatz unter Nutzung der unterschiedlichen Ressourcen und Kompetenzen, und hier insbesondere auch der Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern, erfordert: Sachlich und fachlich zu etablierendes adäquates Lageverständnis darf nicht Verhandlungssache zwischen partei- und hauspolitisch geprägten Ressorts sein. Der Streit um die besten Lösungen darf nicht bereits auf der vorgelagerten Ebene der kognitiven Erfassung und Bewertung komplexer Realität beginnen. Haus- und Parteiinteressen haben nötigenfalls ihren Platz im Ringen um politische Handlungsansätze und Alternativen – diese sollten aber auf der Grundlage zuvor fakten- und problemorientiert ermittelter Sachverhalte basieren.
Entscheidungen zu komplexen sicherheitspolitischen Herausforderungen können nicht in einem ressortübergreifenden ad-hoc-Rahmen getroffen werden. Grundvoraussetzung für die von der Nationalen Sicherheitsstrategie geforderte integrierte zeit- und sachgerechte Handlungs- und Reaktionsfähigkeit ist vielmehr eine vorausschauende, gegebenenfalls aber auch taktisch reaktionsstarke systematische und fundierte Befassung mit Herausforderungen für die innere und äußere Sicherheit. Politische Entscheidungsgremien müssen zuverlässig auf einen etablierten und leistungsstarken Unterbau zurückgreifen können, der die beratungs- und entscheidungsbegründenden Unterlagen zu erstellen und in geeigneter Form zeitgerecht vorzulegen hat. Angesichts der im Zeitalter des „Global Village“ und des Cyber-Raums exponentiell gewachsenen Dynamik und Wirkmacht auch geographisch peripherer Lageentwicklungen sind an die Präsenz, Stabilität und Leistungsfähigkeit derartiger Strukturen besondere Anforderungen zu stellen. Ein ressortübergreifendes, im Bundeskanzleramt angesiedeltes gemeinsames Lage- und Analysezentrum der Bundesregierung wäre hierfür in besonderem Maße geeignet. Mit seiner Zuarbeit könnten integrierte Entscheidungsvorlagen eines Bundessicherheitsrates als Kabinettsausschuss für erforderliche Regierungsentscheidungen geleistet werden.
Fazit
Integrierte Sicherheit im Sinne der Nationalen Sicherheitsstrategie impliziert notwendig integrierte Lagefeststellung, Lagebeurteilung und Entscheidungsstrukturen. Moderne, leistungsfähige und bedrohungsadäquat mandatierte Nachrichtendienste sind eine wesentliche Grundlage für erfolgreiche Selbstbehauptung, Daseinsvorsorge und Gefahrenabwehr. Mit ihrer Aufklärung im Vorfeld von aktuellen Handlungszwängen und deren weiterer Begleitung in dynamischen Lageentwicklungen stellen sie die erste Verteidigungslinie für Selbstbestimmung, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Prosperität und Zukunftssicherheit dar. Ihrer Funktionsfähigkeit kommt mithin eine hohe Bedeutung zu, der es in Ausstattung und rechtlicher Mandatierung angemessen Rechnung zu tragen gilt.
Dr. Gerhard Conrad, Direktor im BND a.D. und Director EU INTCEN a.D., ist Intelligence Advisor der Munich Security Conference (MSC) und Vorstandsmitglied des Gesprächskreises Nachrichtendienste in Deutschland (GKND e.V. / www.gknd.org).
Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.
Alle Ausgaben der Arbeitspapiere Sicherheitspolitik sind verfügbar auf:
www.baks.bund.de/de/service/arbeitspapiere-sicherheitspolitik