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Egal, ob Harris oder Trump: Fragt nicht nur, was die USA tun werden - Drei Empfehlungen für die transatlantische Sicherheitspolitik

6/2024
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Die US-Präsidentschaftswahl am 5. November 2024 gilt als Schicksalswahl. Dabei sehen die meisten Beobachter in Deutschland die mögliche Rückkehr des früheren republikanischen Amtsinhabers Donald J. Trump ins Weiße Haus als Albtraumszenario und hoffen auf einen Wahlsieg der derzeitigen demokrati-schen Vizepräsidentin Kamala Harris. Unabhängig vom Wahlausgang müssen zwei Erkenntnisse einsi-ckern. Erstens: Ohne die USA können Deutschland und Europa auf absehbare Zeit weder ihre Sicherheit noch ihr Wohlergehen verteidigen. Zweitens: Die USA schulden Deutschland und Europa nichts und wer-den deren anhaltende Schwäche nicht dauerhaft kompensieren. Berlin sollte daher entschlossen in die eigene Strategie-, Handlungs- und Verteidigungsfähigkeit investieren.

Helikopter mit US-Fahne landet vor dem Weißen Haus

Wer auch immer nach der US-Präsidentschaftswahl 2024 im Weißen Haus landet: Deutschland und die EU sollten die künftige US-Regierung aktiv mit Vorschlägen zur transatlantischen Sicherheitspolitik begrüßen.
Foto: CC BY-NC 2.0/Sonderman

Globale Ordnungskonkurrenz als Rahmen des transatlantischen Verhältnisses

Der strukturelle Rahmen der Weltpolitik muss als Ausgangspunkt genommen werden, um die transatlantischen Beziehungen zu vermessen. Sicherheitspolitisch ist die NATO das Rückgrat der europäischen Verteidigungsarchitektur und garantiert seit 75 Jahren die territoriale Unversehrtheit ihrer mittlerweile 32 Mitglieder. Wirtschaftlich ist der transatlantische Raum aufs Engste verflochten. Politisch-ideell bilden die Staaten Europas und Nordamerikas mit ihrem Bekenntnis zu Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Marktwirtschaft und individueller Freiheit den Kern des Westens. Das übersetzte sich jahrzehntelang in ein gemeinsames Bemühen um eine von Institutionen und Regeln getragene internationale Ordnung. Der Erfolg dieser liberalen Weltordnung, von der Deutschland bis heute profitiert, hing immer von der Führungsmacht USA ab.

Diese Ordnung ist unter Druck. Seit rund 15 Jahren manifestiert sich ein gewaltsamer Revisionismus durch autoritäre Staaten wie Russland, China und den Iran. Sie eint die Gegnerschaft zu den USA und die Sehnsucht nach einer post-westlichen Neugestaltung der Weltpolitik. Aus dem Blickwinkel der Regime in Moskau, Peking und Teheran ist das schlüssig, schließlich stehen die USA ihren Herrschaftsmodellen, Großmachtambitionen und ideologischen Zielen im Weg. Weil sich für sie seit den 2000er Jahren Gelegenheiten aufgetan haben, finden wir uns heute in einer langfristigen und auch mit Gewalt ausgetragenen Macht-, System- und Ordnungskonkurrenz wieder. Russland führt seit 2014 und seit 2022 in eskalierter Form einen Krieg gegen die Ukraine und kämpft hybrid mit Desinformation, Cyberangriffen und nuklearen Drohungen gegen den Westen. Iran treibt sein Atomprogramm voran, destabilisiert durch terroristische Proxies wie die Hamas im Gazastreifen, die Hisbollah im Libanon oder die Huthi-Rebellen im Jemen den Mittleren Osten und befeuert die Israel derzeit aufgezwungenen Kriege. Im Indo-Pazifik tobt noch kein heißer Krieg, aber Chinas maritime Expansionspolitik und seine militärischen Drohungen gegenüber Taiwan lassen keinen Zweifel, dass eine Eskalation möglich ist. Statt Konflikte zu mäßigen, sind selbst die Vereinten Nationen längst zur Arena des machtpolitischen Wettbewerbs geworden. Neben Russland, China und dem Iran, die ihr (regionales) Hegemoniestreben eint, treten auch Staaten wie die Vereinigten Arabischen Emirate und Indien oder Koalitionen wie die BRICS mit wachsendem Selbstbewusstsein auf der Weltbühne auf.

Das ist das globale Umfeld, in dem Deutschland und Europa navigieren müssen. Sie sind dafür nicht gerüstet. Trotz aller Institutionen und Verträge bleibt die internationale Politik, wie es die Theorieschule des (Neo)Realismus formuliert, geprägt vom Ringen um Macht und Sicherheit in einem anarchischen Umfeld, das Staaten zur Selbsthilfe zwingt. In Europa schwand nach dem Ende des Kalten Krieges das Bewusstsein dafür. Obwohl mittlerweile der Bedarf für eine neue Wehrhaftigkeit anerkannt wird, fehlen die nötigen Fähigkeiten. Laut dem neorealistischen Vordenker Kenneth Waltz lässt sich die Macht von Staaten mit einem Set von Faktoren bestimmen: Geographie, Bevölkerung und Demographie, Wirtschaftsleistung, Verfügbarkeit sowie Abhängigkeit von Ressourcen, Technologie und Innovationsfähigkeit, militärische Stärke, politische Stabilität und strategische Kompetenz. Bei der Analyse dieser Kategorien wird deutlich, dass die USA machtpolitisch weiterhin sehr gut aufgestellt sind. Allein die Innenpolitik könnte die amerikanische Weltmachtrolle derzeit desavouieren. Europa leidet dagegen unter innenpolitischer und zwischenstaatlicher Spaltung und einer relativen Verschlechterung bei allen Machtressourcen. Weder in der eigenen Nachbarschaft noch in anderen vitalen Regionen wie dem Mittleren Osten, Asien oder Afrika gehört Europa zu den Gestaltungsmächten, sondern wird zunehmend mit Fakten konfrontiert, die andere geschaffen haben. Natürlich können auch die USA trotz ihrer hervorgehobenen Stellung ihre Interessen nicht immer durchsetzen oder den Status quo erhalten. Nichtsdestotrotz sind sie als Sicherheitsgarant und politisch (relativ) gleichgesinnter Macht- und Einflussmaximierer heute für Europa so wichtig wie zu Zeiten des Kalten Kriegs. Das gilt auch im Falle einer Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus.

Status quo am Ende der Präsidentschaft von Joe Biden: Stabilität oder Fragilität?

Stärkt die Rückkehr der Ordnungskonkurrenz nun das transatlantische Band, gewissermaßen – wie zu Zeiten des Kalten Kriegs – als einende weltpolitische Klammer? Trotz der europäisch-amerikanischen Werte- und Interessenparallelen lautete die Antwort bis vor wenigen Jahren eindeutig nein. Die USA sind im Gegensatz zur EU und zu europäischen Staaten eine Weltmacht und handeln entsprechend. Unter Präsident Barack Obama wollten sie sich ab 2011 als Reaktion auf den Aufstieg Chinas verstärkt dem asiatisch-pazifischen Raum zuwenden. In den europäischen Hauptstädten wurde das nicht als strategische Notwendigkeit gesehen; China galt als ökonomische Chance. Nach der russischen Annexion der Krim 2014 stand die Obama-Administration dennoch verlässlich an der Seite Europas, ohne die grundsätzliche Neuorientierung in Frage zu stellen. Doch trotz der seit zehn Jahren offenkundigen Abschreckungs- und Verteidigungserfordernisse ist Europa nach wie vor als Sicherheitsimporteur von den USA abhängig.

Nicht die eigene Ohnmacht oder geopolitische Trends, sondern die amerikanische Politik verstand man in Europa immer wieder als das zentrale Problem. Das zeigte sich eindrücklich während der Trump-Administration, als Washington – mal wider die Rhetorik des Präsidenten, mal getrieben durch ihn, mal konterkariert durch ihn – einen härteren Umgang mit China, Russland und dem Iran forcierte. In Deutschland und Europa machte es die Abneigung gegen Trump leicht, mitunter gegen Washington einen weitgehend selbstreferenziellen Kurs gegenüber Moskau, Peking und Teheran zu verfolgen, der den Wert von Dialog und Verständigung über- und Bedrohungen unterschätzte. Zugleich wurde die transatlantische Partnerschaft hinterfragt. Angela Merkel warnte 2017 sinngemäß, dass man sich auf die USA nicht mehr vollends verlassen könne. Der französische Präsident Emmanuel Macron charakterisierte 2019 die NATO als „hirntot“. Die EU wollte in die eigene „strategische Autonomie“ investieren. Derweil wurde Trump in Mittel- und Osteuropa deutlich positiver beurteilt als in Westeuropa. Dass die Antwort auf „America First“ ein beherztes „Europe United“ sein müsse, wie es der damalige deutsche Außenminister Heiko Maas formulierte, war insofern eher ein Appell als eine Strategie, weil es an Fähigkeiten und Einigkeit mangelte.

Während schon Joe Bidens Amtsantritt 2021 die Stimmung verbesserte, sorgte Russlands Vollinvasion in der Ukraine vom Februar 2022 für eine Revitalisierung der transatlantischen Partnerschaft. Die Relevanz der NATO und amerikanischer Garantien für die europäische Sicherheit ist heute völlig unstrittig. Auf Russlands Angriff reagierte Europa zunächst geeint und im Schulterschluss mit den USA bei der Unterstützung der Ukraine. Selbst im Umgang mit China gab es eine Annäherung, da die Biden-Administration wie die EU der Idee einer Gleichzeitigkeit von Konflikt, Wettbewerb und Kooperation folgte, während in Europa das Bewusstsein für die von Peking ausgehenden Gefahren gewachsen war. Der Überfall der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 und Irans ideologiegetriebene Gewaltbilanz im Mittleren Osten rückten auch die Regierung in Teheran in ein neues Licht. Vor wenigen Jahren hatten die Europäer sie noch vor US-Sanktionen schützen wollen, um das von Trump aufgekündigte Atomabkommen zu retten und das Mullah-Regime mit wirtschaftlichen Anreizen zu politischen Reformen zu bewegen. Heute stehen Europa und die USA einander angesichts internationaler Zwänge näher als noch vor wenigen Jahren. In Deutschland hat das auch mit dem Scheitern außenpolitischer Illusionen zu tun.

Trotzdem ist die transatlantische Partnerschaft fragiler, als es derzeit den Anschein haben mag. Erstens fungierten die USA unter Biden erneut als wohlwollende Kavallerie: Die USA garantieren die europäische Sicherheit in der NATO und tragen überproportionale Lasten bei der Unterstützung der Ukraine, ohne die Kyjiw vermutlich längst verloren wäre. Zugleich ist die Biden-Administration dabei so zurückhaltend und um multilaterale Abstimmung bemüht, wie es zu den Befindlichkeiten der europäischen Verbündeten passt. Als Standard missverstanden werden darf das nicht. Kritiker attestieren Biden, Konflikte zwar umsichtig zu managen, aber durch den Mangel an Entschlossenheit Russland, China und dem Iran Gewinne zu ermöglichen. Sollten die USA künftig einen tafferen beziehungsweise eigenständigeren Kurs verfolgen, dürfte es mit der transatlantischen Einigkeit schnell vorbei sein. Zweitens ermöglicht weiterhin nur amerikanische Führung – materiell wie intellektuell – die Einhegung revisionistischer Mächte. Die Staaten Europas sind alleine nicht einmal zur Abschreckung Russlands oder zur Selbstverteidigung in der Lage. Im Umgang mit der Ukraine folgen sie Washingtons Linie. In Asien oder gar im Mittleren Osten haben sie weder gemeinsame Zielvorstellungen noch Gestaltungsmacht. Insofern dürften künftige US-Administrationen bei einer Bedrohung vitaler Interessen wenig Anlass haben, ihr Handeln von europäischen Wünschen abhängig zu machen. Stattdessen könnten sie Unterstützung einfordern oder flexibel mit Gleichgesinnten arbeiten und Europa dabei spalten. Drittens gibt es innenpolitische Unwägbarkeiten auf beiden Seiten des Atlantiks. In den USA stellt nicht nur Trump den Wert der liberalen Weltordnung und die Unterstützung für die Ukraine in Frage. In Europa reüssierten zuletzt Parteien des rechten und linken Randes, die ihre Russlandnähe und ihr Anti-Amerikanismus eint.

Kamala Harris versus Donald Trump: Erwartungen für die US-Politik

Womit müsste Europa rechnen, falls Kamala Harris am 5. November das Rennen macht? Harris gilt als Kandidatin der Kontinuität, die den Kurs der Biden-Administration fortsetzen dürfte. Sie hat als Vizepräsidentin immer wieder den Wert von Allianzen, Diplomatie, Multilateralismus, Verlässlichkeit und Prinzipientreue betont und diese als zentrale außenpolitische Stärken der USA charakterisiert. Zur Unterstützung der Ukraine und der Notwendigkeit, mit demokratischen Partnern gemeinsam stark gegenüber Russland aufzutreten, bekennt sie sich regelmäßig. Für Europa sind solche Signale der Beständigkeit beruhigend. Allerdings ist Kamala Harris außenpolitisch letztlich ein unbeschriebenes Blatt. Personalentscheidungen für die einschlägigen Ressorts und die Posten im Nationalen Sicherheitsrat dürften für den Kurs einer Harris-Administration entscheidend sein. Im Laufe ihrer politischen Karriere folgte Harris, die als Senatorin aus Kalifornien und Kandidatin um die Präsidentschaftskandidatur der Demokratischen Partei 2020 deutlich links der Mitte stand, keinen starren Positionen. Insofern könnte sie außenpolitisch empfänglicher auf gesellschaftliche oder innerparteiliche Stimmungen reagieren als jemand mit fest ausgerichtetem Kompass. Eine persönliche Affinität zu europäischen Angelegenheiten, wie sie Joe Biden besitzt, hat Harris nicht. Doch wie bei Biden dürfte die Innenpolitik den Spielraum in der Außenpolitik beschränken. Eine protektionistische Wirtschaftspolitik ist heute etwa nicht nur bei Trumps Republikanern, sondern auch in der Demokratischen Partei mehrheitsfähig.

Wie sähe die US-Außenpolitik bei einem Wahlsieg von Donald Trump aus? Seine Präsidentschaft von 2017 bis 2021 bietet Anhaltspunkte. Sie war charakterisiert von Unvorhersehbarkeit, zahlreichen Personalwechseln und einer Diskrepanz zwischen dem, was der Präsident sagte, und dem, was seine Administration tat. Trump zeigte eine persönliche Affinität zum chinesischen Präsidenten Xi Jinping und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, während er europäische Alliierte, die NATO, die EU und Deutschland regelmäßig als Gegner schalt. Faktisch war aber die NATO- und Russlandpolitik für die europäischen Verbündeten von großer Verlässlichkeit geprägt. Die USA verstärkten sogar ihr Engagement. Heute wird befürchtet, dass Trump sich bei einer weiteren Amtszeit von vorneherein mit Loyalisten umgeben würde, was entscheidende Auswirkungen auf den Kurs von Trump 2.0 und das Maß an Verwerfungen hätte. Die außenpolitischen Leitplanken des Kongresses hingegen und das in der Republikanischen Partei nach wie vor verankerte Credo „Frieden durch Stärke“ blieben aber in jedem Fall bestehen. Gegenüber China ist wegen des parteiübergreifenden Konsenses ein Kurs der Härte gesetzt. Aus der NATO könnte Trump nicht einfach austreten. Mit überparteilicher Zustimmung wurde Ende 2023 im National Defense Authorization Act 2024 festgeschrieben, dass der Präsident nicht befugt sei, den Washingtoner Vertrag auszusetzen, zu beenden, aufzukündigen oder den Rückzug der USA zu erklären. Dafür bräuchte es eine Zweidrittelmehrheit im Senat oder einen Kongressbeschluss. Die Glaubwürdigkeit des Bündnisses könnte Trump jedoch allein durch seine Rhetorik beschädigen. Erwartbarer als die konkreten Ziele dürften die Methoden der Außenpolitik sein: Trump bezweifelt den Nutzen internationaler Institutionen, folgt Instinkten statt Konventionen und hält Unberechenbarkeit für eine Stärke. Gegner wie Alliierte hätten wohl erneut mit transaktionalen Forderungen und Alleingängen zu rechnen. Als isolationistische Agenda sollte das nicht missverstanden werden. Im Mittleren Osten dürfte eine Trump-Administration beispielsweise enger an der Seite Israels stehen und vehementer gegen den Iran Partei ergreifen, statt wie Biden zur Mäßigung aufzurufen.

Aus europäischer Sicht wäre eine Trump-Präsidentschaft ein Stresstest. Die Unterstützung für die Ukraine könnte unter Trump zur Disposition stehen. Ein von ihm in Aussicht gestellter schneller „Deal“ wäre, wenn er die Souveränität der Ukraine preisgeben und Russland stärken würde, eine Katastrophe für die Ukraine und ein schwerer strategischer Fehler mit weitreichenden Folgen für Europa und die Welt. Manche Republikaner, die Bidens Zurückhaltung gegenüber Russland kritisieren, trauen Trump jedoch zu, letztlich vielleicht sogar der Ukraine den Rücken zu stärken und bisherige Beschränkungen beim Einsatz von Waffensystemen zu lockern, und sei es nur aus persönlicher Eitelkeit, bei Frust über den Kreml nicht als Verlierer dastehen zu wollen. Für Europa besitzt jedes Szenario immenses Spaltpotenzial, zumal eine Trump-Administration vermutlich kaum in die transatlantische Konsensfindung investieren würde. Schonungslos ausgesprochen werden muss aber auch: Trotz vollmundiger Bekenntnisse ist die tatsächlich geleistete Unterstützung durch Europa und die Biden-Administration derzeit nicht annähernd ausreichend, um Kyjiw in eine Position der Stärke gegenüber Russland zu versetzen. Das ist ein hausgemachtes Versagen und hat nichts mit Donald Trump zu tun.

Perspektiven und Handlungsoptionen

Welche Perspektiven gibt es für die transatlantischen Beziehungen nach der Präsidentschaftswahl in den USA? Was kann und sollte Deutschland tun?

Erstens braucht es eine ehrliche Bestandsaufnahme: Die transatlantische Partnerschaft ist für Deutschland und Europa unverzichtbar, und die Anbindung an die USA ist wegen der Rückkehr eines globalen Macht-, System- und Ordnungskonflikts mit akuten Gewaltrisiken umso entscheidender. Auch wenn weder die Interessen der USA noch ihre Strategiepräferenzen immer deckungsgleich mit den europäischen sind, gibt es keinen anderen Partner, der Deutschland und Europa politisch näherstünde. Umgekehrt bleibt Europa für die USA wichtig, weil auch sie aktuelle weltpolitische Umbrüche nicht alleine bewältigen können. Insofern würde selbst eine weitere „America First“-Präsidentschaft von Donald Trump nicht automatisch eine Abkehr von Europa bedeuten. Deutschland sollte alles versuchen, proaktiv die Schnittmengen in den Interessen und transatlantische Kooperationsmöglichkeiten auszuloten. Da die USA China als weltpolitische Priorität betrachten, müssen Deutschland und Europa noch stärker als bisher global denken. Das liegt ohnehin im eigenen Interesse, weil Peking ebenso wie der Iran und Nordkorea Russlands Ukrainekrieg massiv unterstützt und auch darüber hinaus europäische Interessen verletzt.

Zweitens muss Deutschland Ambiguitätstoleranz entwickeln. Ein Wahlsieg von Kamala Harris würde hierzulande mit Erleichterung aufgenommen. Allerdings schaffen China, Russland, Iran, Nordkorea und andere rund um dem Globus Tatsachen. Das würde das Handeln einer Harris-Administration ebenso leiten wie das einer Trump-Administration. Harris betont den Wert von Allianzen, aber diese müssen liefern, und letztlich folgen alle US-Administrationen dem Credo „zusammen, wenn möglich – allein, wenn nötig“. Insofern könnte sich auch eine Harris-Administration als äußerst unbequem erweisen. Im Umgang mit Trump besteht eines der größten Risiken darin, dass Deutschland und andere europäische Staaten einer reflexhaften Politik der Ablehnung verfallen könnten, statt sachorientiert nach Interessensparallelen zu suchen. Berlin wäre gut beraten, auf Trumps transaktionalen Politikstil einzugehen und etwa bei Verteidigungsausgaben, Rüstungsinvestitionen und Eigenbeiträgen zur gemeinsamen Russland-, Ukraine- und NATO-Politik mit Angeboten in die Offensive zu gehen, um Einfluss zu gewinnen. Zugleich sollte die deutsche Politik der Öffentlichkeit die Bedeutung der transatlantischen Partnerschaft realistisch vermitteln, anstatt mit Kritik an Trump innenpolitisch punkten zu wollen. Unabhängig vom Wahlausgang dürfte die Gleichzeitigkeit von Kooperation und Konflikt das transatlantische Verhältnis künftig noch stärker als zuvor prägen, und eben das gilt es auszuhalten und zu gestalten.

Drittens sollten Deutschland und seine europäischen Partner alles daransetzen, ihre Strategie-, Handlungs- und Verteidigungsfähigkeit schnell zu verbessern, den europäischen Pfeiler der NATO zu stärken und für die USA zum Partner auf Augenhöhe zu werden. Es ist Europas Glück, dass die USA die Sicherheit des Kontinents seit Jahrzehnten als ihr Interesse begreifen. Selbstverständlich ist es nicht. Russland ist eine akute Bedrohung, und eine Niederlage der Ukraine hätte schwerwiegende Konsequenzen für die Sicherheit Deutschlands und Europas. Dem entgegenzuwirken und die USA durch eine für beide Seiten gewinnbringende Partnerschaft in Europa zu halten, muss daher als Priorität verstanden werden. Nach aktuellem Stand scheitert in Deutschland aber sogar die von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufene sicherheitspolitische „Zeitenwende“, und zwar trotz eines Landkriegs und offensichtlicher Bedrohungsszenarien mitten in Europa. Für die dauerhafte Erfüllung des NATO-Zwei-Prozent-Ziels gibt es keinen plausiblen Finanzierungspfad, obwohl es längst nicht mehr Ziel-, sondern Ausgangspunkt für einen glaubwürdigen Fähigkeitsaufwuchs ist. Deutschland gefährdet damit sich selbst, seine Partner und das transatlantische Bündnis. Mehr Eigeninitiative und Ernsthaftigkeit sind nötig. Wünschenswert ist in jedem Fall, die neue US-Administration mit Vorschlägen zu begrüßen, was Deutschland und Europa zu tun gedenken, statt zu fragen, was die neue US-Administration für Europa tun wird.

Prof. Dr. Gerlinde Groitl forscht und lehrt zu internationaler Politik und den transatlantischen Beziehungen an der Universität Regensburg. Derzeit vertritt sie die Professur für Governance in Mehrebenensystemen an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Die Autorin gibt ihre persönliche Meinung wieder.

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