Mehr Europa in der Sicherheitspolitik – das ist Konsens. Dass es dafür mehr Beiträge aus Deutschland braucht, wie diese erreicht werden können, und warum strategisches Denken auch eine Generationenfrage ist, diskutierte das Deutsche Forum Sicherheitspolitik 2019.
„Monsieur Klartext“ wird Jean Asselborn oft genannt, und dem wurde Luxemburgs Außenminister rasch gerecht. Seine Antwort auf die Leitfrage des Deutschen Forums Sicherheitspolitik (DFS) 2019, welches in Kooperation mit dem Freundeskreis der Bundesakademie für Sicherheitspolitik stattfindet, was angesichts einer neuen Weltordnung aus Deutschland, was aus Europa wird, fiel eindeutig aus: „Wenn wir Europäer uns von unseren Werten verabschieden, verliert die Europäische Union ihre Seele, ihre Anziehungskraft und ihre Glaubwürdigkeit.“
Der dienstälteste Außenminister Europas sieht „Prinzipien und Werte in Frage gestellt durch Autokraten“. Gerade aus Sicht eines kleinen Staates wie Luxemburg wisse er, wie wichtig eine regelbasierte internationale Ordnung ist, um dem vermeintlichen Recht des Stärkeren entgegenzuwirken, sagte Asselborn. Europa sei umso mehr auf internationale Institutionen angewiesen, „doch diese geraten jetzt unter Beschuss“.
Syrien, Türkei und EU: Ist das Weltpolitikfähigkeit?
Deshalb komme es jetzt darauf an, dass die EU „ihr auswärtiges Handeln intensiviert und besser koordiniert“, so Asselborn weiter. Auch die Rolle des Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik solle gestärkt werden, um die EU auf internationalem Parkett „sichtbarer und hörbarer zu machen“. Er empfahl, sich vom Standing Michel Barniers inspirieren zu lassen, der die EU als Chefunterhändlers in den Brexit-Verhandlungen vertritt. Asselborns Ausblick auf das DFS führte ihn schließlich nach Nordsyrien. Der im Oktober dort erfolgte militärische Vorstoß der Türkei sei ein „Sinnbild für die Missachtung internationaler Ordnung“ und fordere damit ebenso Europa heraus. Die Europäische Union diskutiere daraufhin über Diplomatie und Sanktionen. Das sei ein Mehrwert – aber „ist das Weltpolitikfähigkeit? Ich lasse die Frage gerne offen.“
Auch Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet stellte in seiner Rede zum DFS akuten deutsch-europäischen Handlungsbedarf in der Sicherheitspolitik fest. Aus seiner eigenen Erfahrung als Bundestags- und Europaabgeordneter heraus erinnerte Laschet an die Entstehung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU in den Neunzigerjahren. Sie fuße letztlich auf Europas bitteren Erfahrungen mit Krieg, Kriegsverbrechen und Vertreibung im zerfallenden Jugoslawien und der Unfähigkeit, diesen gleichsam vor der eigenen Haustür entgegenzutreten. „Erst die Entscheidung der Amerikaner hat diesen Balkankrieg beendet“, so Laschet. Heute blieben die USA wichtigster Partner in der NATO, aber „Europa wird sich selbst weiterentwickeln müssen“, um mit dem sich drastisch wandelnden Umfeld außen- und sicherheitspolitisch Schritt zu halten.
Europäische Lösungen brauchen einen deutschen Beitrag
Laschet griff ein Statement des polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski von 2011 auf, dass dieser „deutsche Macht weniger fürchte als deutsche Untätigkeit“. Heute laufe Deutschland Gefahr, im „Feld der Untätigkeit, und selbst wenn man wollte, der Unfähigkeit zu sein“, sagte Laschet. Dabei sei ein substantieller Beitrag der Bundesrepublik als wirtschaftsstarkes und bevölkerungsreiches Land inmitten der EU besonders gefragt: „Europäische Lösungen kann man nur dann einlösen, wenn man selbst bereit ist, seinen Beitrag zu leisten“. Laschet sprach sich in diesem Zusammenhang für das Zwei-Prozent-Ziel der NATO aus, denn „keinen Beitrag zur Verteidigung leisten und gleichzeitig für Europa eintreten“, das komme für ihn nicht in Frage.
Damit waren zentrale Fragen des DFS 2019 benannt. Im Mittelpunkt der Konferenz stehe wie jedes Jahr die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands, sagte der neue BAKS-Präsident Ekkehard Brose zum Auftakt. Die Antwort der deutschen Politik auf die internationalen Krisen liege derzeit in einem Wort: Europa, so der Botschafter. Für die Bundesrepublik gelte „mitgestalten, nicht allein gestalten“, das sei auch klar. Doch „gibt es eine Strategie?“, fragte Brose. Die BAKS wolle mit dem DFS auch ein Impulsgeber für die Debatte darüber sein.
Warum ist seit dem Münchner Konsens so wenig passiert?
Das griff die Journalistin Christiane Hoffmann in ihrer Moderation der anschließenden Podiumsdiskussion dankend auf. Die Spiegel-Journalistin verwies auf den sogenannten Münchner Konsens von 2014, als sich Bundespräsident Gauck und Außenminister Steinmeier auf der Münchner Sicherheitskonferenz nahezu gleichlautend für ein „früheres, entschiedeneres und substanzielleres“ Engagement Deutschlands in der Sicherheitspolitik ausgesprochen hatten. „Warum ist seitdem sowenig passiert in einer Frage, die wir alle als existenziell anerkennen?“, fragte Hoffmann ihr Podium.
Das wollte der SPD-Bundestagsabgeordnete Dr. Fritz Felgentreu nicht gelten lassen und verwies darauf, dass Deutschland seitdem seinen Verteidigungshaushalt um 40 Prozent gesteigert habe. Nick Pickard, der Stellvertreter des britischen Ständigen Vertreters bei der NATO, sah durchaus, dass Deutschland sich engagiere, wollte sich in die innerdeutsche Debatte darüber jedoch nicht einmischen. Der Innenstaatssekretär Dr. Markus Kerber sagte, dass sich Deutschland aus historischen Gründen nachvollziehbarerweise schwerer als andere Demokratien tue, „nüchtern eigene Interessen zu definieren“. Gleichwohl halte er „diese Diskussion in Deutschland für gewinnbar“.
Strategie als Generationenproblem
Die Frage nach Strategie und Interessenformulierung trieb auch das zweite Podium des Tages um, welches sich mit der deutschen Verteidigungspolitik befasste. Eine für die Diskussion zentrale Einschätzung lieferte Dr. Ulrike Franke vom European Council on Foreign Relations. Sie verwies auf die politische Sozialisierung der jüngeren Generationen nach Ende des Kalten Krieges: „Uns wurde beigebracht, das Erlangte zu bewahren“, und die Neunzigerjahre seien bei allen Umwälzungen von der Kontinuität Europas geprägt gewesen. In der Folge hätten viele Jüngere Franke zufolge „nicht gelernt, strategisch zu denken“ – die Europäische Union sei somit nie interessenbedingt sondern immer nur emotional begründet worden. Prof. Dr. Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr München wählte mit Blick auf das Podiumsthema Verteidigungspolitik weitaus schärfere Worte: „Verteidigung richtig zu denken – das hat seit 1990 in Deutschland nicht mehr stattgefunden.“
Die FDP-Bundestagsabgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann knüpfte wiederum an die Generationenfrage an. Sie glaube, „dass die meisten jungen Menschen sehr europäisch denken“ und keineswegs die Augen vor sicherheitspolitischen Herausforderungen verschlössen. Entgegen der Erwartung werde Strack-Zimmermann in Schulen häufig zuerst darauf und nicht auf klimapolitische Fragen angesprochen. Die Abgeordnete plädierte für eine schonungslose Diskussion: „Wir sollten den Menschen etwas zumuten.“
Es braucht Klarheit – nicht Einfachheit
„Der Biedermeier, in dem wir uns solange eingerichtet haben, wird brüchig“, spitzte es Prof. Dr. Matthias Herdegen (r.) in einer abschließenden Foresight Session zu. Foto: BAKS/Sommerfeld
Ein Teil solcher Zumutung besteht in der Komplexität und der Ambivalenz internationaler Politik – Aspekte, die laut Strack Zimmermann in den Medien leider zu kurz kämen. Sie bekomme oft Feedback, dass seien „so komplexe Themen, dass nicht mal das öffentlich-rechtliche Fernsehen in der Lage ist, sie komprimiert in eine Sendung zu bringen.“ Unter dem Strich zeigten die Diskussionen beim DFS 2019 aber, dass trotz der Komplexität des heutigen außen- und sicherheitspolitischen Umfeldes allen Beteiligten zwischen Bevölkerung, Medien und Politik klar ist, dass gravierende Wandlungsprozesse eingesetzt haben.
„Der Biedermeier, in dem wir uns solange eingerichtet haben, wird brüchig“, spitzte es Prof. Dr. Matthias Herdegen in einer abschließenden Foresight Session zu. Der Jurist von der Universität Bonn sprach hierbei sogar US-Präsident Trump eine ungewollt therapeutische Wirkung zu, „weil seine prinzipienlose Politik Schwächen in unserem strategischen Denken offenbart hat, die schon länger existent waren“. Brigadegeneral a.D. Armin Staigis, dem als Vorsitzender des Freundeskreises der BAKS die Schlussworte des DFS gebührten, griff die vorangegangenen Debatten über Generationen, Komplexität und Zumutung als Anstoß zur Selbstreflexion auf: „Versteht man uns da draußen überhaupt noch?“ Für sein Fazit zitierte er den israelischen Historiker und Autor Yuval Noah Harari: „Nicht Einfachheit, sondern Klarheit – darum sollten wir uns bemühen.“
Das Deutsche Forum Sicherheitspolitik
Das 2013 gegründete Deutsche Forum Sicherheitspolitik bringt einmal im Jahr ausgewählte Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Politik, Behörden und Gesellschaft zur Diskussion aktueller Kernfragen der vernetzten Sicherheitspolitik in Berlin zusammen. Das DFS wird durch den Freundeskreis der Bundesakademie für Sicherheitspolitik e.V. unterstützt. Mehr Informationen zum Deutschen Forum Sicherheitspolitik finden Sie hier.
Autor: Sebastian Nieke