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Um-Ordnung im Südkaukasus: Die geopolitische Dimension des Krieges um Berg-Karabach 2020

9/2021
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Der Krieg um Berg-Karabach im Herbst 2020 hat den 26 Jahre bestehenden Status quo im Südkaukasus entscheidend verändert. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wurde aus dem Konfliktmanagement um Berg-Karabach von Russland und der Türkei faktisch ausgeschlossen. Russland hingegen stationierte nach dem in Moskau ausgehandelten Waffenstillstand vom 9. November 2020 bis zu 2.000 Soldaten als „Friedenstruppen“ im Konfliktgebiet. Der Ausgang des Krieges zeigt deutlich, dass der Westen aus der geostrategisch wichtigen Region verdrängt wird. Was kann und will die Europäische Union dieser Entwicklung entgegensetzen?

Eine durch Beschuss beschädigte Fassade in Stepanakert in der Region Berg-Karabach 2015.
Foto: Adam Jones/Flickr/CC BY 2.0

Der Krieg um Berg-Karabach zwischen Armenien und Aserbaidschan vom 27. September bis 9. November 2020 endete mit der Niederlage Armeniens. Ursächlich für den Krieg waren verschiedene Faktoren. So blieb die Lage seit dem ersten Berg-Karabach-Krieg (1991-1994), der mit der Niederlage Aserbaidschans endete, zum Verdruss Bakus unverändert. Hinzu kam die Enttäuschung über die internationale Vermittlung, die am Bedeutungsverlust der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) krankte. Zur Eskalation des Konflikts trug außerdem wesentlich die Rüstungsspirale zwischen Armenien und Aserbaidschan bei. Beide Länder gehören laut dem Global Militarization Index des Bonn International Center for Conversion seit Jahren zu den am höchsten militarisierten Staaten weltweit.

Der entscheidende Faktor für den Kriegsausbruch war aber die Veränderung der geopolitischen Konstellation im Südkaukasus. Die Passivität der USA und der EU verschob die geopolitische Balance zum Nachteil des Westens und zum Vorteil Russlands und der Türkei. Diese beiden Mächte füllten das entstandene Machtvakuum. Drei Folgen des Krieges sind besonders hervorzuheben: Erstens konnte Aserbaidschan seine territoriale Integrität zum großen Teil wiederherstellen. Zweitens setzte Russland seinen Plan der Stationierung russischer Soldaten in Berg-Karabach um. Und drittens baute die Türkei durch ihre Rolle als Game Changer auf der Seite Aserbaidschans ihren Einfluss im Südkaukasus aus.

Warum ist der Südkaukasus wichtig für die EU?

Während sich die meisten am Südkaukasus interessierten Akteure an dem Konfliktmanagement des Berg-Karabach-Krieges zu beteiligen versuchten, bevorzugte die EU die Rolle einer Beobachterin. Dabei besitzt der Südkaukasus als Grenzgebiet zwischen Europa, Russland, der Türkei und dem Iran für sie durchaus eine wichtige geostrategische Bedeutung. Die Instabilität im durch Konflikte geprägten Südkaukasus ist aufgrund der geographischen Nähe eine Bedrohung für die europäische Sicherheitsordnung. Regionale Konflikte bergen stets das Potenzial, sich in einen Krieg zu verwandeln. Darüber hinaus ist die Stabilität in der Region relevant im Hinblick auf internationale Kriminalität, Drogenhandel, illegale Migration und Terrorismus. In wirtschaftlicher Hinsicht bildet der Südkaukasus den Korridor für Energieressourcen aus den kaspischen und zentralasiatischen Räumen, die zur Energiediversifizierung der EU beitragen. Die Östliche Partnerschaft (ÖP), die neben Belarus, der Ukraine und Moldau alle drei südkaukasischen Staaten umfasst, ist seit 2009 das wichtigste multilaterale Format Brüssels gegenüber seiner östlichen Nachbarschaft. Durch die Veränderung des Status quo im Südkaukasus wird die Gegenwarts- und Zukunftstauglichkeit der ÖP herausgefordert. Bereits 2013 musste Armenien unter russischem Druck auf das Assoziierungsabkommen mit der EU verzichten. Georgien, als einziges Land im Südkaukasus mit der Ambition auf die EU-Mitgliedschaft (Antragstellung geplant für 2024), ist dem ständigen Druck Moskaus ausgesetzt.

Im Vorfeld des ÖP-Gipfels im Dezember 2021 steht die EU in erster Linie vor zwei Herausforderungen: Erstens besteht Modifizierungsbedarf der ÖP, die nicht mehr der neuen geopolitischen Realität und der Dynamik innerhalb der Partnerschaft entspricht. Zweitens wird die EU zunehmend als geopolitischer Akteur agieren müssen, um nicht aus der Region verdrängt zu werden und sich als eine attraktive Alternative zu ihren autoritären Rivalen profilieren zu können.

Eine Karte der Region Berg-Karabach und der sie umgebenden Staaten.

ABBILDUNG. Die Region im Überblick und Gebietsveränderungen um Berg-Karabach Ende 2020.
Quelle: Deutsche Welle; Copyright: BAKS/Bunk

Konsequenzen für die regionale Sicherheit

Die Veränderung des Status quo im Südkaukasus ist eng mit den Veränderungen im Schwarzmeerbecken verbunden. Seit der Annexion der Krim strebt Russland durch seine Schwarzmeerflotte Dominanz im Schwarzen Meer an und fordert nicht nur die Türkei, sondern auch die NATO insgesamt und die EU heraus. Über die eigene Küstenlinie hinaus kontrolliert Russland inzwischen völkerrechtswidrig einen erheblichen Teil der ukrainischen (Krim-Halbinsel) und der georgischen (abchasischen) Küste. Das Schwarze Meer bildet einen der wichtigsten Ausgangspunkte für das Engagement des Kremls im Nahen Osten und im Mittelmeerraum. Zur neuen Realität nach dem Berg-Karabach-Krieg gehört auch, dass Russland nun in allen Anrainerstaaten im Schwarzmeerbecken, die nicht der NATO angehören, sowie im Südkaukasus militärisch präsent ist. Die veränderte Situation nach dem Berg-Karabach-Krieg ist auch die Ursache für die aktuellen Spannungen zwischen dem benachbarten Iran und Aserbaidschan: Teheran beobachtet die Intensivierung der militärischen Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Baku auf der einen und zwischen Israel und Aserbaidschan auf der anderen Seite mit großer Sorge.

Im Zusammenspiel mit Russlands verstärkter Kooperation mit autoritären Staaten in der Region zielt die Stärkung der russischen Präsenz im Südkaukasus und im Schwarzmeerraum darauf ab, den Einfluss freiheitlicher Kräfte in dieser Region zu schwächen. Deshalb werben die Türkei, Russland und der Iran aktuell für ein neues regionales Format „3+3“ (Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Türkei, Iran, Russland). Die durch den Berg-Karabach-Krieg entstandene neue geopolitische Lage bietet somit vor allem den Herausforderern des Westens bessere Rahmenbedingungen und gefährdet gleichzeitig die sicherheits-, transformations- und energiepolitischen Interessen westlicher Demokratien im Schwarzmeerraum und im Südkaukasus.

Konsequenzen für die europäische Sicherheit

Die Regionalisierung des Berg-Karabach-Konflikts macht den Konflikt für die EU unberechenbarer als zuvor und begrenzt ihre Handlungsmöglichkeiten. Der Ausgang des Berg-Karabach-Krieges zeigte auf, dass die EU im Südkaukasus kein geopolitischer Akteur ist. Frankreich, das als einziger EU-Staat zu den Co-Vorsitzenden der OSZE-Minsk-Gruppe gehört, nutzte den Berg-Karabach-Krieg vor allem für seine nationale Agenda mit Blick auf die Türkei. Dass aktuell in fünf von sechs Ländern der ÖP (Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Ukraine und Moldau) russische Soldaten stationiert sind, wird sich negativ auf die Demokratisierung und Stabilisierung dieser Länder auswirken.
Die Veränderung des regionalen Kontexts durch den Berg-Karabach-Krieg stellt eine Bedrohung für die EU als transformative Kraft dar. Trotz der Vermittlung durch die EU konnte die innenpolitische Krise in Georgien, die seit Herbst 2020 andauert, nicht endgültig gelöst werden. Zudem scheint die georgische Regierung die Politisierung des Justizwesens beziehungsweise den eigenen Machterhalt den erforderlichen Reformen und damit dem europäischen Integrationsprozess vorzuziehen. Ende August verzichtete Georgien auf die Makrofinanzhilfe der EU, die an die Umsetzung von Reformen zur Verbesserung der Unabhängigkeit und Transparenz des Justizwesens geknüpft war. Entwicklungen wie diese in dem einstigen Vorreiterland der ÖP schwächen die Position der EU in der Region zusätzlich.

Empfehlungen für die EU

Der Krieg um Berg-Karabach ist zwar vorbei, nicht aber der ihm zugrundeliegende Konflikt. Die Waffenstillstandsvereinbarung vom 9. November 2020 stärkt den russischen Einfluss in der Region. Berg-Karabach ist jetzt faktisch ein russisches Protektorat. Noch Ende März 2021 wurde Russisch zur zweiten Amtssprache in Berg-Karabach erklärt. Die veränderte Lage nach dem Berg-Karabach-Krieg verlangt Antworten von der EU. Sie darf die regionalen Konflikte innerhalb der ÖP nicht länger ignorieren, weil diese einerseits die wichtigsten sicherheitspolitischen Herausforderungen der ÖP-Länder darstellen und für sie andererseits eine offene Flanke zur Einwirkung durch Russland bilden.

Deutschland, das traditionell gute Beziehungen zu den südkaukasischen und allgemein zu den ÖP-Staaten pflegt, könnte sich als Impulsgeber innerhalb der EU positionieren, um gemeinsame europäische Antworten auf die Um-Ordnung im Südkaukasus und grundsätzlich auf die Herausforderungen der ÖP zu finden. Zugleich muss man anerkennen, dass die EU in ihren Einflussmöglichkeiten begrenzt ist. Ihre stärksten Hebel sind die Lockmittel der Anbindung an beziehungsweise der Integration in den Europäischen Binnenmarkt mit seinen Freizügigkeiten sowie die Bereiche Energie, Justiz, Zoll, Bildung und weitere. Allerdings ist der politische Appetit innerhalb der EU auf die Ausweitung dieser Vorteile auf die Staaten der ÖP derzeit gering. Es gibt jedoch auch Ideen von niedrigerer Schwellenhöhe. So könnte die EU die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit den ÖP-Staaten schrittweise intensivieren. Das gilt nicht nur für die Ebene der Streitkräfte, sondern auch die der Nachrichtendienste und der Bekämpfung hybrider Gefahren. Auch das Format der ÖP selbst könnte differenziert werden, etwa in Form von „EU+3“ (assoziierte ÖP-Länder). Dies würde es erlauben, die Beratungen und diplomatischen Initiativen stärker auf die jeweiligen Partnerländer zuzuschneiden.

Mit Blick auf den Berg-Karabach-Konflikt könnte die EU folgende Schritte unternehmen:

  • das Mandat des EU-Sonderbeauftragten für den Südkaukasus ausweiten, um seine Aufnahme entweder als Co-Vorsitzender oder als Beobachter in die Minsk-Gruppe der OSZE zu ermöglichen,
  • den Umfang finanzieller Ressourcen für die regionalen zivilgesellschaftlichen Friedensinitiativen erhöhen,
  • in Zusammenarbeit mit dem Persönlichen Beauftragten des OSZE-Vorsitzenden (am Standort Tbilisi) ein Forum zur friedlichen Regelung des Berg-Karabach-Konflikts einrichten. In diesem Forum könnten alle Fragen sowie Mechanismen zur Deeskalation und Versöhnung besprochen und ausgearbeitet werden. Als möglichen Standort eines solchen Forums bietet sich Georgien an, da Georgien bereits Anfang Juli an dem Prozess der Freilassung armenischer Kriegsgefangener und der Übergabe von Minenkarten mitbeteiligt war. Ebenfalls wird Georgien von beiden Konfliktparteien als ein neutraler Ort akzeptiert.

Neben der EU-Ebene ergeben sich auch für Deutschland selbst einige Handlungsempfehlungen. Schließlich ist es im Interesse Deutschlands, das gewaltsame Eingreifen Russlands in die inneren Angelegenheiten der ÖP-Staaten zu verhindern, weil der Kreml dadurch auch auf die Schwächung der EU und der NATO durch die Destabilisierung ihrer Partnerstaaten abzielt.

  • Deutschland könnte sich gemeinsam mit den Konfliktparteien im trilateralen und multilateralen Format für die Freilassung von armenischen Kriegsgefangenen sowie gleichzeitig für die Bereitstellung von Minenkarten und weiteren Informationen über die Verlegung von Minen einsetzen.
  • Deutschland könnte sich, wie im Fall der Ukraine, bei der Räumung von Minen in der Konfliktzone engagieren und sich auf diplomatischer Ebene bemühen, Aserbaidschan und Armenien zum Beitritt der Antipersonenminen-Verbotskonvention (Ottawa-Konvention) zu bewegen.
  • Aufgrund bereits vorhandener internationaler Erfahrung und traditionell guter Beziehungen zu Armenien und Aserbaidschan könnte Deutschland eine aktive Rolle im Demarkationsprozess spielen, der eine Gefahr für die erneute Eskalation enthält.
  • Nachdem ein gemeinsames Verständnis und gemeinsame Ziele identifiziert werden, könnte sich Deutschland in Zusammenarbeit mit dem Nachbarland Polen (das im Jahr 2022 den OSZE-Vorsitz übernimmt) für eine Friedenskonferenz zum Berg-Karabach-Konflikt einsetzen. Die Friedenskonferenz (welche ursprünglich Anfang der 1990er Jahre geplant war) könnte erstens einen Neuanfang zur Kompromissfindung, zweitens die Ausarbeitung neuer Grundprinzipien (zum Beispiel der Aktualisierung der „Madrider Grundprinzipien“) und drittens die Schaffung von internationalen Vereinbarungen für den Zeitraum ab November 2025 ermöglichen (Zeitpunkt, an dem die die Fortführung der russischen „Friedensmission“ beendet werden kann).

Dr. Mikheil Sarjveladze ist Gastwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin mit einem Forschungsstipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.

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