Ende eines Sonderwegs
Sonntag, 27. Februar, Plenarsaal des Bundestages, drei Tage nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine. Der Bundeskanzler öffnet in seiner Regierungserklärung ein Füllhorn weitreichender Festlegungen und Maßnahmen: Einschneidende Wirtschaftssanktionen gegen Russland unter Einschluss von Nord Stream 2; Unterstützung der Ukraine in ihrem Abwehrkampf mit panzerbrechenden Waffen und Flugabwehrraketen; das Versprechen, in den nächsten Jahren mindestens 2% des BIP für Verteidigung auszugeben, ergänzt um ein Sondervermögen von 100 Mrd. Euro für Investitionen in unsere Verteidigungsfähigkeit. Das Parlament applaudiert und mit ihm die große Mehrheit der Deutschen. Eine „Zeitenwende“, so der Kanzler, vollzogen binnen Stunden.
Wenige Tage nach dieser Rede schreibt die Vorsitzende der Partei Die Linke, Susanne Hennig-Wellsow, an ihre Partei gewandt: „Ein Krieg, der uns politische Nachdenklichkeit und persönliche Selbstkritik abverlangt.“ - Kein Zweifel, der unprovozierte, brutale Angriff Russlands auf die Ukraine hat etwas ausgelöst in den Köpfen, und beileibe nicht nur in linken. Ein befreites Gefühl selbst bei jenen, die Bedenken im Einzelnen verspüren. Ein Knoten - zerplatzt. Zu groß war über die Jahre die Spannung geworden zwischen den Geschehnissen in Georgien, auf der Krim, in Russland selbst und der deutschen Politik; zu deutlich der Widerspruch zwischen dem immer raueren Umgang der uns umgebenden Staatenwelt und der biedermeierlichen Beschaulichkeit unserer sicherheitspolitischen Kultur.
Diesen kognitiven Sonderweg müssen wir jetzt hinter uns lassen. Es geht um die Bereitschaft zur Anpassung unserer sicherheitspolitischen Wahrnehmung im Lichte von Erfahrung, deutlicher gesagt: um einen überlebenswichtigen Lernprozess. So etwas erfordert Zeit und gesellschaftliche Begleitung, denn in einer Demokratie braucht Sicherheitspolitik, wie alle Politik, Mehrheiten. Erst dann gewinnt die notwendige Zeitenwende über den Tag hinaus Bestand.
Die Bundesregierung hat wie im Koalitionsvertrag angekündigt die Arbeit an der Nationalen Sicherheitsstrategie aufgenommen. Es wird die erste der Bundesrepublik Deutschland sein. Definition von Interessen, Anerkenntnis militärischer Macht als wichtiger Ordnungsfaktor in der internationalen Arena und entscheidende Stütze von Diplomatie - mit diesen andernorts selbstverständlichen Konzepten und Argumentationsmustern müssen auch wir unbefangen umzugehen lernen. Wir brauchen sie als Rüstzeug zur Orientierung in der Welt, wie sie nun einmal ist. Wir brauchen sie zur Verständigung über reale Bedrohungen mit unseren wichtigsten internationalen Partnern in der EU und in der NATO. Unsere „Kultur der militärischen Zurückhaltung“ ist über viele Jahre zu einer Gewohnheit sicherheitspolitischen Trittbrettfahrens verkommen - und das ist unseren Partnern nicht verborgen geblieben. Das kollektive, staatliche In-Deckung-Gehen hinter unserer Geschichte ist passé, auch wenn wir uns unverändert zur Verantwortung für eben diese Geschichte bekennen. Die Bundeswehr ist Teil der Normalität, so wie die Feuerwehr es ist, obwohl und gerade weil wir uns weder Feuer noch Krieg im eigenen Haus wünschen.
Nichts wäre jedoch damit gewonnen, nun in eine gegenteilige Voreingenommenheit zu verfallen. Es bleibt dabei: Internationale Konflikte sind nicht mit militärischen Mitteln allein zu lösen; unverändert hat Sicherheit, allemal menschliche Sicherheit, neben den Machtverhältnissen auch viele andere Dimensionen. Wir streben nicht nach einer Militarisierung von Politik. Und natürlich gibt es ein Russland nach Putin, mit dem wir uns in Europa arrangieren müssen.
Zu einem neuen Realismus der Wahrnehmung gehört ein Realismus der Tat. Wir müssen uns mit der Tatsache anfreunden, von anderen als Partner in Leadership oder als europäische Führungsmacht wahrgenommen zu werden - auch wenn manchem hierzulande dieser Begriff nur schwer über die Lippen kommt. Deutschland wird in dieser dienenden Funktion gebraucht, auf uns ruhen Erwartungen und, ja, die Welt begegnet unserem Land mit Vertrauen.
Politisch führen bedeutet, nicht alles auf die USA, Europa oder andere schieben; klare Ziele erarbeiten und diese verständlich kommunizieren; in einer Krise trotz Unsicherheit frühzeitig verantwortungsbereit auftreten; eigene Interessen im Namen des Ganzen auch mal hintan stellen; mit Kritik aufmerksam, aber gelassen umgehen. Deutschlands Engagement ist zentrale Voraussetzung für Europas sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit - und nur so wird ein Schuh daraus. Ein gestaltender Auftritt nach außen muss nach innen erklärt und gesellschaftlich gestützt werden. Wir können das, aber bereit dazu sind wir noch nicht wirklich. Oder doch? In den Reden von Bundeskanzler Scholz und Außenministerin Baerbock schwingt ein neuer Ton, eine neue Klarheit.
Botschafter Ekkehard Brose ist Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Er war unter anderem viele Jahre in Moskau und bei der NATO eingesetzt sowie Botschafter im Irak. Er gibt hier seine persönliche Meinung wieder.
Dieser Namensartikel des BAKS-Präsidenten ist in der Wirtschaftswoche, der Ausgabe vom 18.3.2022 auf Seite 10, erschienen.