Der Abwehrkampf der Ukraine gegen den Angriff Russlands bringt eine neue Gedankenwelt nach Deutschland zurück: Begriffe und Konzepte wie „Krieg“, „Wehrhaftigkeit“ und „Kampfbereitschaft“ hatte sich die deutsche Gesellschaft entwöhnt; sie galten als antiquiert und überwunden. Im Selbstverständnis von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr entfaltet diese Gedankenwelt besondere emotionale Präsenz: Sie haben sich in ihrem Diensteid verpflichtet, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.
Deutschland zieht derzeit Schlussfolgerungen für die eigene Verteidigung und die seiner Verbündeten. Dabei ist früh deutlich geworden, dass neben den finanziellen und materiellen Anstrengungen auch ein mentaler Kraftakt erforderlich ist, um sich auf die Welt einzustellen, wie sie sich seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine darstellt – gemeinschaftlich, institutionell und individuell. Für ein solches Umdenken warb auch Außenministerin Annalena Baerbock, als sie im März 2022 die Erarbeitung einer Nationalen Sicherheitsstrategie ankündigte und von der „Wehrhaftigkeit im Bündnis“ sprach: „Für mich beschreibt Wehrhaftigkeit sowohl die Fähigkeit, als auch den Willen, sich zu verteidigen. Und ich bin mir bewusst, dass das für viele Menschen in Deutschland […] lange ein Wort war, was man nicht einfach so in den Mund genommen hat. Aber ich bin überzeugt, unsere Wehrhaftigkeit entscheidet unsere Sicherheit.“1 Bundeskanzler Olaf Scholz äußerte sich bei der Bundeswehrtagung am 16. September 2022 ähnlich: „Wir sind gerade dabei, das Fundament zu legen für eine neue Bundeswehr, und wir alle wissen: Fakten entfalten normative Kraft. Aber wir wissen auch, dass noch etwas Entscheidendes hinzukommen muss: Ein verändertes Denken – und zwar auf allen Ebenen in der Bundeswehr, gepaart mit Zutrauen und Risikobereitschaft.“2
Die afghanisierte Bundeswehr
Bereits das Weißbuch 2016 hat die Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) wieder als zentrale Aufgabe der Bundeswehr benannt und auf Augenhöhe mit den Auslandseinsätzen im Rahmen des internationalen Krisenmanagements gestellt. Die Mehrzahl der heutigen Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ist allerdings in den Auslandseinsätzen sozialisiert worden, etwa in Afghanistan, in Mali, auf dem Balkan oder am Horn von Afrika. Den Entsendungen an die NATO-Ostflanke, wie bei enhanced Forward Presence (eFP) in Litauen seit 2015, wurde dagegen bislang im informellen ‚Einsatzranking‘ der Truppe kein hoher Stellenwert zugeschrieben. Obwohl die Präsenz der Bundeswehr für die osteuropäischen Verbündeten einen realen Beitrag zur Verteidigung ihrer Heimat darstellt, wurde die Missionsteilnahme von den deutschen Soldatinnen und Soldaten zumeist als wenig prestigeträchtig wahrgenommen. Gleichzeitig wurde die vor Ort bestehende und sich insbesondere im Cyber- und Informationsraum ergebende Bedrohungslage mehrheitlich ausgeblendet. Diesen Mangel an Würdigung in der Truppe greift auch die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages Eva Högl auf. Dem aktuellen Jahresbericht der Wehrbeauftragten zufolge beklagten „viele Soldatinnen und Soldaten, dass sie den Einsatz dort – im Gegensatz zu den Einsätzen in Mali oder Afghanistan – als ‚Einsatz zweiter Klasse‘ empfänden. […] Während viele Mali und Afghanistan als Kampfeinsätze bewerteten, habe der Einsatz in Litauen mitunter den Ruf eines Übungsplatzaufenthalts“.3 Diese Wahrnehmung ist jedoch trügerisch. Sie läuft Gefahr, die in einem Ernstfall der LV/BV zu erwartenden Leiden, Entbehrungen und Härten zu unterschätzen und das dafür nötige geistige wie auch handwerkliche Rüstzeug nur wenig relevant erscheinen zu lassen. Das sich in der Ukraine offenbarende Kriegsbild zeigt jedoch eine Realität, an welche die Gefechtserfahrungen der Bundeswehr in Afghanistan – unbenommen der persönlichen Leistungen der Soldaten und Soldatinnen – nicht annähernd heranreichen.
Die aus den Auslandseinsätzen gewonnenen militärischen Lehren sind insgesamt nur bedingt auf das Kriegsbild der LV/BV übertragbar. Gerade in den vergangenen Einsätzen trat die Fähigkeit zur Anwendung militärischer Gewalt oft hinter ein parallel zu bewältigendes Aufgabenspektrum zurück. „Soldaten der Bundeswehr schützen, kämpfen, vermitteln und helfen“ definierte der damalige Generalinspekteur Volker Wieker im Jahr 2012 das betreffende Rollenbild.4 Entsprechend wurden die deutschen Streitkräfte in der Vergangenheit in ihrer Struktur, Ausstattung und Ausbildung an den Stabilisierungsmissionen ausgerichtet – häufig zu Lasten der Befähigung zur LV/BV. Auch boten selbst im bislang prägendsten Auslandseinsatz am Hindukusch die gut gesicherten Feldlager eine relative Sicherheit und eine Vielzahl von Annehmlichkeiten. Hierzu gehörten regelmäßige Mahlzeiten, Betreuungseinrichtungen sowie Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme in die Heimat, während nur bis zu einem Viertel der eingesetzten Bundeswehrkräfte die schützenden Lagermauern regelmäßig verließen. Die eigene Einsatzteilnahme war dabei für die meisten Soldatinnen und Soldaten mit einer Einsatzdauer von zumeist vier bis sechs Monaten zeitlich präzise planbar. Zudem sind trotz der Prägung der Bundeswehr durch die Auslandseinsätze die daraus bis heute nachhallenden, häufig durch das Heer geprägten Einsatzgeschichten keine kollektiven Truppenerfahrungen, die für alle Teile der Armee gleichermaßen wirkmächtig oder traditionsstiftend wären.
Das geistige Rüstzeug für die Truppe
Im Gegensatz zu den Erfahrungen der Auslandseinsätze müssten nahezu alle Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in einem LV/BV-Ernstfall damit rechnen, auf unabsehbare Zeit unter spartanischen Bedingungen im Feld zu leben. Auch hinter den Frontlinien wären sie einer ständigen Bedrohung und Kriegsschrecken ausgesetzt. Gleichzeitig stünden sie unter der permanenten Belastung, keinen gesicherten Kenntnisstand zur Situation ihrer Angehörigen zu haben. Viele dieser Faktoren würden bereits in einem Spannungsszenario ohne Ausbruch von Kampfhandlungen zum Tragen kommen. Ein Wandel im Mindset ist demnach unabdingbar, wenn Soldatinnen und Soldaten aller Teilstreitkräfte und Organisationsbereiche der Bundeswehr geistig für die Verteidigung gegen einen Gegner auf militärischer Augenhöhe gerüstet sein sollen. Ein wichtiger erster Schritt dorthin ist die Erinnerung an einen konstitutiven Grundsatz der Streitkräfte: Ausnahmslos alle Soldatinnen und Soldaten müssen in letzter Konsequenz stets zum Kampf sowie zum Durchstehen außerordentlicher Entbehrungen befähigt und willens sein. Dies gilt unabhängig von den jeweiligen spezifischen Aufgaben und ist ein Maßstab, der auch in den Auslandseinsätzen seine Gültigkeit bewahrt hat.
Die Befähigung, dieser essentiellen Grundanforderung gerecht werden zu können, erfordert nicht nur eine entsprechende Ausbildung und Ausstattung, sondern überdies die Herausbildung und dauerhafte Verankerung einer robusten und resilienten Mentalität. Die psychische Bereitschaft zum Kampf und der Wille zum tapferen Dienst sind Mentalparameter, welche maßgeblich zur Einsatztauglichkeit einer Armee beitragen. Dies zeigt sich aktuell eindrücklich im Verteidigungskampf der ukrainischen Streitkräfte.
Die Schaffung eines solchen Mindsets LV/BV in der Bundeswehr erfordert ein kontinuierliches Engagement auf mehreren Ebenen. Seitens der politischen und militärischen Führung bedarf es Klarheit in der Kommunikation, um einen Typus demokratisch-wertegebundener Soldatinnen und Soldaten in der Rolle entschlossener Verteidigerinnen und Verteidiger zu vermitteln. Demgegenüber ist in den letzten Jahrzehnten das Bild eines ‚Unternehmens Bundeswehr‘ hervorgetreten; die Befassung mit dem potenziellen Kämpfen, Töten und Sterben der eigenen Mitmenschen in Uniform blieb dabei aus. Eben diese zentralen Aspekte des Soldat-Seins sollten jedoch in aller Ehrlichkeit in die gesellschaftliche Wahrnehmung sowie in die Mitte des soldatischen Selbstverständnisses gehoben werden. In diesem Zuge würde auch ein im eigenen, komfortablen Selbstverständnis eingerichteter ‚Arbeitnehmer Soldat‘ an die möglichen Konsequenzen seiner Berufswahl erinnert.
Auch abseits existentieller Fragen von Leben und Tod erfordert ein Mindset LV/BV, im drastischen Widerspruch zu dem als durchbürokratisiert und häufig überreguliert wahrgenommenen Dienstalltag in den deutschen Streitkräften von allen Militärangehörigen eine ganz persönliche Kaltstartfähigkeit – im Zweifel allen privaten Herausforderungen zum Trotz. Hierzu braucht es zum einen entsprechende Vorbereitungen, Unterstützungsleistungen sowie eine klare Informations- und Erwartungspolitik. Zum anderen sind die Soldatinnen und Soldaten auch dahingehend fachlich und mental vorzubereiten.
Im Schwerpunkt muss das notwendige Mindset in der sozialen und kameradschaftlichen Nahwelt der Truppe vermittelt werden. Diese Verantwortung liegt insbesondere bei den militärischen Führungskräften aller Ebenen. Die Mittel der Wahl sollten dabei sein: eine realitätsnahe Ausbildung und eine stringente Wertevermittlung für ausnahmslos alle Militärangehörigen. Es geht darum, Freiheit, Demokratie und Menschenrechte zu verteidigen – also auch zu begreifen, dass diese Werte der Verteidigung bedürfen und ihrer würdig sind. Dazu passt auch, dass die politische und militärische Führung gezielt Bilder kampfbereiter Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten setzt.
Aktiv gestaltete Truppenkultur als Fundament
Ein sich an LV/BV ausrichtendes Soldatenbild könnte der Truppe die Möglichkeit geben, in den Missionen zur Unterstützung der osteuropäischen Verbündeten den afghanischen Wüstenstaub einer vielfach als gescheitert empfundenen Mission abzuschütteln. Dabei qualifizieren sich gerade die einsatzgleichen Verpflichtungen zur Bündnisverteidigung auf längere Sicht und parallel zu anderen Auslandseinsätzen als potenzielle Traditions-, Sinn- und Motivationsquellen für das Selbst- und Fremdbild deutscher Soldatinnen und Soldaten. Bundeswehrangehörige aller Dienstgradgruppen sollten die anerkannten Missionen der NATO in Osteuropa deshalb in ihren jeweiligen Wirkungsbereichen durch Anerkennung als richtige Einsätze aufwerten. Auf diesem Wege könnten sie in die unterschiedlichen Truppenkulturen einfließen und dort traditionsbildend weitergegeben werden. In Anfängen bildet sich dies bereits heute bei der multinationalen NATO-Battlegroup in Litauen ab, die wie in einem Brennglas die klare Fokussierung auf die Bündnisverteidigung, eine glaubhafte Abschreckung sowie eine gelebte Multinationalität aufzeigt. Die Tatsache, dass aktuell bereits das 12. Bundeswehrkontingent die sechsmonatige Rotation in Litauen angetreten hat, kann eine solche Tradierung begünstigen. Selbiges gilt beispielsweise für die regelmäßige Übernahme der Luftraumsicherung in den baltischen Staaten durch die Luftwaffe und für die verstärkte Präsenz der Marine in der Ostsee.
Werden diese Chancen für die bundeswehreigene Traditionsbildung nicht ergriffen, kann dies zu einem militärkulturellen Sinn- und Traditionsvakuum führen. Während des Afghanistaneinsatzes wurde ein solches Vakuum oft beklagt und durch die Einsatzsoldatinnen und -soldaten teils selbst mit einer häufig wildwüchsigen und subkulturellen Einsatzkultur gefüllt.5 Dem sollte bei den laufenden Missionen enhanced Forward Presence (eFP) und enhanced Vigilance Activities (eVA) unbedingt vorgebeugt werden. Dies gilt insbesondere, da die von einzelnen Soldaten bereits in Afghanistan bemühten Anknüpfungspunkte zu den dunkelsten Kapiteln deutscher Militärgeschichte mit den Einsatzräumen in Osteuropa regional und geschichtlich näher gerückt sind. Gerade in der aktuellen Lage können es sich die deutschen Streitkräfte nicht leisten, wie in den vergangenen Jahren mit Skandalen um verfassungsfeindliche Gesinnungen und entwürdigende Entgleisungen die Schlagzeilen zu füllen und damit obendrein noch Desinformationskampagnen des Gegners Futter zu liefern. Dem steht im Mindset LV/BV das Bild von Soldatinnen und Soldaten als wehrhafte Verteidiger des Grundgesetzes, der Freiheit und Demokratie, entgegen.
Da Auslandseinsätze im Rahmen des Krisenmanagements absehbar ein wichtiger Auftrag der Bundeswehr bleiben, besteht eine weitere Herausforderung darin, die Vielschichtigkeit soldatischen Handelns in internationalen Stabilisierungsmissionen nicht aus dem Blick geraten zu lassen. Ebenso darf die militärkulturelle Fokussierung auf die Landes- und Bündnisverteidigung unter Bundeswehrangehörigen keinesfalls zu einem apolitischen, rein funktionalen Selbstverständnis als Kämpferinnen und Kämpfer führen. Demgegenüber bietet sich das Narrativ der geschlossenen Verteidigungslinien eines in Werten gebundenen Europas an – ein Narrativ, welches durch die multinationale und gelebte Einsatzkameradschaft in den gegenwärtigen Missionen an den östlichen Bündnisgrenzen aktiv mitgetragen wird. Zudem lässt die Idee der Verteidigung des freiheitlich-demokratischen Europas auch bei jüngeren, verstärkt pan-europäisch ausgerichteten Generationen eine höhere Motivationskraft erwarten.
Die Schlussfolgerung muss folglich lauten: Mit Beginn der „Zeitenwende“ sind auch die für das soldatische Mindset notwendigen Truppenkulturen sowie eine sich auf absehbare Zeit herausbildende Einsatzkultur der Landes- und Bündnisverteidigung von Beginn an aktiv zu gestalten. Dabei können in einem positiven Sinne durchaus auch spezifische und sich in gewissem Rahmen innerhalb der Streitkräfte abgrenzende Kulturen und Bräuche einzelner Truppengattungen zugestanden werden. Gemeinsame Elemente des soldatischen Selbstverständnisses müssen dabei Überzeugung, Robustheit und die Bereitschaft zur multinationalen Kooperation sein, um so einen Beitrag zum Einsatz- und Kampfwert der gesamten Bundeswehr zu leisten.
Philipp Fritz ist Major der Reserve mit Einsatzerfahrung und seit 2017 an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin beordert. Als Doktorand an der Goethe-Universität Frankfurt am Main widmet er sich der Ausarbeitung einer eigenständigen Militärethnologie. Major Dominik Steckel nimmt am Lehrgang Generalstabs-/Admiralstabsdienst National 2022 teil. Er hat an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg Geschichte studiert, war in Afghanistan eingesetzt und bis 2021 Kompaniechef im Jägerbataillon 91. Beide Autoren waren bis Februar 2022 Angehörige der NATO Battlegroup in Litauen. Die Autoren geben ihre persönliche Meinung wieder.
[1] Baerbock, Annalena (2022): „Die Sicherheit der Freiheit unseres Lebens“, Rede bei der Auftaktveranstaltung zur Entwicklung einer Nationalen Sicherheitsstrategie, Berlin: Auswärtiges Amt.
[2] Scholz, Olaf (2022): Rede von Bundeskanzler Scholz bei der Bundeswehrtagung am 16. September 2022, Berlin: Die Bundesregierung.
[3] Die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages (2022): Unterrichtung durch die Wehrbeauftragte. Jahresbericht 2021 (63. Bericht), Berlin: Deutscher Bundestag, Drucksache 20/900, S. 97.
[4] Der Generalinspekteur der Bundeswehr (2012): Soldat sein heute. Leitgedanken zur Neuausrichtung der Bundeswehr. Berlin: Bundesministerium der Verteidigung, S. 6
[5] Fritz, Philipp (2017): Einsatzkultur als Traditionsquelle: Wie mit den Auslandseinsätzen eine neue militärische Kultur in die Bundeswehr kam, Arbeitspapier Sicherheitspolitik Nr. 26/2017, Berlin: Bundesakademie für Sicherheitspolitik.
Alle Ausgaben der Arbeitspapiere Sicherheitspolitik sind verfügbar auf:
www.baks.bund.de/de/service/arbeitspapiere-sicherheitspolitik