Am 3. Dezember 2014 fand an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) ein Expertengespräch zum Thema: „1914-2014 – Lehren aus der Geschichte?“ statt.
Unter Leitung des Vizepräsidenten der BAKS, Brigadegeneral a.D. Staigis, und des Präsidenten der Clausewitz Gesellschaft, Generalleutnant a.D. Kurt Herrmann, versammelten sich hierzu hochrangige Vertreter aus den akademischen Bereichen Politik-, Geschichts- und Sozialwissenschaften, aus diversen Bundesministerien, zivilen Instituten und Militär zum interdisziplinären Gedankenaustausch.
Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand dabei eine fundierte Betrachtung politisch-strategischer Faktoren und Aspekte, welche zum 1. Weltkrieg führten, um daraus mögliche Erkenntnisse und Lehren für das Jahr 2014 ableiten zu können. Unter verschiedenen Perspektiven wurden insbesondere die Parallelität bzw. Divergenz der jeweiligen Konstellationen hinterfragt und relevante Konsequenzen hinsichtlich aktueller Entwicklungen in zwei ausgewählten Krisenregionen exemplarisch erörtert.
Der erste Teil der Veranstaltung beschäftigte sich mit dem Thema: „Grundlegende Erkenntnisse und Lehren aus den Vorgängen um das Jahr 1914“. Die Impulsvorträge hielten Professor Dr. Herfried Münkler, Humboldt Universität zu Berlin, und der Historiker Dr. Jörg Friedrich. Die Moderation der Diskussion hatte Dr. Stephan Speicher von der Süddeutschen Zeitung übernommen.
Münkler und Friedrich nahmen zunächst spezifische Zweck-Ziel-Analysen bezüglich der Haltung und Standpunkte wesentlicher Akteure des 1. Weltkriegs vor und beurteilten die Erkenntnisse in einem kondensierten Gesamtrahmen. Als eine Hauptursache für die Eskalationsspirale, die zum Krieg führte und sich auch im Verlauf des Krieges unheilvoll und mit wachsender Dynamik weiter drehte, wurde hierbei u.a. das fehlende Vertrauen der damals politisch und militärisch Verantwortlichen zueinander identifiziert. Zudem sei der Wirkung von Informationen bzw. Nachrichten sowie der damals angewendeten Propaganda eine enorme Bedeutung zugekommen. Trotz durchaus vorhandener Kommunikationsmöglichkeiten beförderten nach Ansicht der Experten sowohl das fehlende Vertrauen sowie gezielte Desinformationen der wesentlichen Funktionsträger falsche Beurteilungen der Lage, was insbesondere dazu führte, dass unterschiedliche Perzeptionen und unklare Horizonte oder Zielvorstellungen die Urteilsfähigkeit -auch in Bezug auf die Dauer und Intensität eines möglichen Kriegs – massiv beeinträchtigten. Bei sinn- und verantwortungsvoller Nutzung der gebotenen Kommunikationswege hätten weitgehend alle vor dem Krieg bestehenden Konflikte auch ohne Anwendung militärischer Gewalt gelöst werden können.
Die zweite Diskussionsrunde wurde mit Kurzvorträgen zu den Themen „Analogien am Beispiel des strategischen Aufstiegs der Volksrepublik China“ und „Die Russland-Ukraine- Krise“ eingeleitet. Diese Impulsvorträge hielten Dr. Michael Paul und Frau Dr. Margarete Klein von der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin. Diese Vortrags- und Diskussionsrunde moderierte Brigadegeneral a.D. Armin Staigis.
Bei den Vorträgen und in den Diskussionsbeiträgen spielten tatsächliche oder vermeintliche Einkreisungsängste eine bedeutende Rolle. Bezüglich China wurde erkennbar, dass vorhandene chinesische Befürchtungen sehr stark auf den historischen Erfahrungen aus dem Krieg von 1894 mit Japan beruhen. China habe damals nicht nur eine verheerende maritime Niederlage erlitten, sondern danach auch über Jahrzehnte eine schmerzliche Phase nationaler Demütigung durch die asiatischen Nachbarstaaten erdulden müssen. Die Verhältnisse hätten sich jedoch heute nahezu umgekehrt und Chinas Nachbarn fühlten sich jetzt durch aggressiv vertretene territoriale Ansprüche, unterstrichen z.B. durch die Errichtung einer Luftverteidigungszone im Ostchinesischen Meer im Zusammenhang mit dem andauernden sino-japanischen Inselstreit, bedroht. Vor 1914 habe die damals dynamisch aufwachsende deutsche Wirtschaft, aber auch die seit 1890 zunehmenden imperialistischen Ambitionen Deutschlands den Ängsten der politischen Entscheidungsträger anderer Länder Nahrung gegeben. Ähnlich verhielte es sich heute mit der chinesischen Wirtschaftsmacht und dem außenpolitischen Erscheinungsbild der großen Volksrepublik. Damals habe sich das Kaiserreich einen „Platz an der Sonne“ sichern wollen. Heute wolle sich China den „Traum“ einer großartigen Wiedergeburt der chinesischen Nation erfüllen.
Anders als seinerzeit Berlin beispielsweise gegenüber London habe Peking jedoch absehbar keine Eile, die USA als globalen Hegemon abzulösen und deren Verpflichtungen als Hüter der „Global Commons“ zu übernehmen. China verfolge allerdings relativ stetig und beharrlich nationale Interessen. Darum müsse den asiatischen Nachbarn und den pazifischen Anrainern umso mehr daran gelegen sein, ihre Interessen selbst klar und unmissverständlich zu kommunizieren und krisenresistente Kommunikations- sowie Konfliktlösungsmechanismen und auch dafür entsprechende Strukturen zu etablieren.
Im weiteren Verlauf der Diskussion wurde erkennbar, dass sich Ähnlichkeiten der o.a. Entwicklung auch hinsichtlich Russland und des Verhältnisses zu seinen Nachbarn erkennen lassen. Hierbei kam natürlich ebenfalls die Osterweiterung von NATO und EU zur Sprache. Es wurde insbesondere erwähnt, dass die russische Politik aufgrund des Näherrückens des Westens an die eigenen Landesgrenzen die Gefahr einer Einkreisung formuliere und in der Osterweiterung offensichtlich auch die Gefahr des Verlusts von russischem Einfluss auf die im selbstdefinierten Interessenbereich liegenden Staaten verortet. Hinzu komme eine seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zunehmende offene Abgrenzung Russlands vom westlichen Demokratie- und Völkerrechtsmodell. Es sei zu beobachten, dass die russische Politik eine unipolare Ordnung in seinem Umfeld unter russischer Dominanz anstrebe, wo Moskau die Spielregeln definiere und in die innen- sowie außenpolitische Souveränität dieser Länder eingreifen könne.
Im Gegensatz zu China drohe von Russland jedoch inzwischen eine ernstere Gefahr für den Frieden in Europa, wenngleich heute andere Rahmenbedingungen als 1914 bestünden. Die Gefahr einer schnellen Eskalation könne deshalb aktuell als geringer eingeschätzt werden. Alle Konfliktparteien seien sich vermutlich der aus einer Eskalation der Lage erwachsenden Gefahren bewusst. Zudem fehle bei allen Akteuren das Interesse an einer ernsthaften großen Konfrontation, was letztlich auch die verdeckte Vorgehensweise Russlands mit seiner Unterstützung einer hybriden Kriegsführung in der Ostukraine erklären dürfte. Darüber hinaus hätten sowohl die EU als auch die NATO deutlich gemacht, dass sie im Russland-Ukraine-Konflikt nicht militärisch intervenieren würden, um eine militärische Konfrontation mit Russland und letztlich eine unkontrollierbare Eskalation zu vermeiden. Zwar würden Maßnahmen einer militärischen Rückversicherung der NATO gegenüber allen Mitgliedsstaaten des Bündnisses ergriffen, doch finde seitens der Allianz keine Kündigung der NATO-Russland-Grundakte und keine völlige Abkehr vom Prinzip der militärischen Zurückhaltung statt. Ferner existierten heutzutage internationale Strukturen und Institutionen für Krisen- und Konfliktmanagement, die 1914 keinen Vergleich gefunden hätten. Außerdem bestünden heute keine Vertrags- oder Bünde-Strukturen wie 1914, die im Fall einer Krise nahezu unausweichlich einen Automatismus der Eskalation auslösen würden.
Im Ergebnis der Veranstaltung konnte festgehalten werden, dass auch heute politische Fehleinschätzungen, ungehinderter Nationalismus und revisionistisches Machtkalkül in einer polarisierenden, von Misstrauen und Feindseligkeit geprägten Atmosphäre wieder Situationen herbeiführen könnten, in der ein symbolisch aufgeladenes Ereignis genüge, um latente Rivalität in offene Konfrontation umschlagen zu lassen und eine militärische Eskalation auszulösen. Ein direkter Vergleich der Situation von 1914 und der aktuellen Lage sei dennoch nicht zulässig. Man müsse sich vor groben Verallgemeinerungen und undifferenzierten Analogieschlüssen hüten. Allerdings seien in einigen Aspekten aktueller Krisen und Konflikte ähnlich beunruhigende Entwicklungstendenzen wie vor hundert Jahren zu erkennen. Solchen Prozessen gelte es situationsgerecht entgegenzuwirken. „Ein Krieg ist nie unvermeidlich. Der fatale Glaube an seine Unvermeidbarkeit kann jedoch kriegsauslösend wirken. Die bestehenden Strukturen und Prozesse für Vertrauensbildung, Kooperation, Krisenbewältigung und Konfliktlösung gilt es weiterzuentwickeln und intensiv zu nutzen.“ fasste der Präsident der Clausewitz-Gesellschaft, Generalleutnant a.D. Kurt Herrmann, das Ergebnis der Gespräche zusammen.
Autoren: Olliver Pfennig und Kurt Herrmann
Mit freundlicher Genehmigung der Clausewitz-Gesellschaft e.V.