Aktuelles

Bericht: Früher, entschiedener, substanzieller

Mittwoch, 26. August 2015

Außenminister Fabius, Steinmeier, Hammond und Zarif mit Federica Mogherini

Foto: EEAS/flickr/CC BY-NC-ND 2.0

Früher, entschiedener, substanzieller

Anlässlich der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 hat Bundespräsident Gauck die Frage nach Deutschlands Rolle und Verantwortung in der Außen- und Sicherheitspolitik gestellt und sogleich beantwortet: „Die Bundesrepublik sollte sich als guter Partner früher, entschiedener und substanzieller einbringen.“ Als hätte er es vorausgesehen: Im Jahr 2014 geriet „die Welt aus den Fugen“, ein abgewandeltes Shakespeare-Wort, aufgenommen durch Außenminister Steinmeier. Und manche Experten sehen im Russland-Ukraine-Konflikt, dem IS-Terror, der Ebola-Epidemie und den Flüchtlingsströmen über das Mittelmeer erst die Ouvertüre zu noch dramatischeren Ereignissen.

Was bedeuten diese Entwicklungen für die Rolle und Verantwortung Deutschlands, dem in der Präambel des Grundgesetzes aufgegeben ist, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen“? Ich will mich dieser Frage aus einer grundsätzlichen Perspektive nähern und einige wesentliche Konstanten deutscher Außen- und Sicherheitspolitik beschreiben, die es gilt, auf zukünftige Erfordernisse auszurichten.

Den Motor wieder anwerfen

Die deutsch-französische Zusammenarbeit war der „Motor des Europäischen Einigungswerks“. Lief dieser Motor, entwickelte sich Europa, die Europäische Union, weiter. Es ist höchste Zeit, diesen Motor wieder anzuwerfen, um die Europäische Union in dieser „Welt aus den Fugen“ zukunfts- und damit handlungsfähig zu machen. Zweifellos ist in den Brüsseler Krisennächten während der Finanz-, Staatsschulden und Währungskrise viel geleistet worden. Die Geschlossenheit der EU in dem fortbestehenden Russland-Ukraine-Konflikt, erreicht durch die enge Zusammenarbeit zwischen Präsident Hollande und Bundeskanzlerin Merkel, hat das Kalkül Präsident Putins, einen Keil zwischen die westlichen Partner zu treiben, bisher nicht aufgehen lassen. Gleichzeitig erlangen nationalistische Tendenzen in den EU-Staaten selbst großen Zuspruch, und in Großbritannien drohen politische Kräfte mit dem Austritt aus der Union. Aber nur frei und vereint wird die EU in einer sich weiter globalisierenden und digitalisierenden Welt ihre Interessen wahren und zu Stabilität und Sicherheit beitragen können. Dabei muss die Kraft aus der Mitte kommen. Es ist die Verantwortung Frankreichs und Deutschlands, diesen Prozess zu befördern, den „Motor wieder anzuwerfen“, nicht nur in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, sondern ganz besonders in der Außen- und Sicherheitspolitik, mit politischer Klugheit durch Einbindung der anderen EU-Partner. Und vielleicht ist dann auch Großbritannien bereit, gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik seinen Pragmatismus und seine Ressourcen einzubringen.

Schleichende Veränderung zum Schlechteren

Zu vertrauensvollen transatlantischen Beziehungen sehe ich weder für Europa noch für die Vereinigten Staaten – und ich schließe Kanada mit ein – weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft eine Alternative. Betrachtet man diese Beziehungen vornehmlich, aber nicht nur aus einer deutschen Perspektive, so stellt man einen schleichenden Veränderungsprozess, leider nicht zum Besseren, fest. Hierzu nur einige Beispiele aus den letzten zehn Jahren: das Zerwürfnis über den Irakkrieg, die offene Konfrontation zu Libyen, aber auch in der Fiskalpolitik, der große Flurschaden durch die NSA-Affäre und die – wenn auch mehr „gefühlte“ denn vollzogene – Abwendung der USA von Europa und Hinwendung zu Asien. Die Einflusssphärenpolitik Putins mittels militärischer Gewaltanwendung hat Europa und die USA wohl wieder enger zusammenrücken lassen, aber Missverständnisse und auch Misstrauen sind geblieben.

Vielleicht muss man wieder mehr miteinander denn übereinander reden, besonders die jüngere Politikergeneration und viele Bereiche der Zivilgesellschaften. Wir teilen, trotz mancher Differenzen, denselben Wertekanon, und unsere Interessen sind gerade in einer globalen Perspektive weitgehend übereinstimmend. Amerikaner und Europäer sollten sich daher die Frage stellen, mit welchen anderen Staaten oder Staatengruppierungen sie auf diesem Globus eine gemeinsame wertegebundene und interessengeleitete Politik verfolgen könnten und wollten. Keinem dürften wohl verlässliche Alternativen einfallen. Daher ist es in einer sich polyzentrisch entwickelnden Welt so wichtig, dass Gesprächsbereitschaft und damit Vertrauen und Verlässlichkeit in den transatlantischen Beziehungen, insbesondere auch innerhalb der NATO, gestärkt werden. Und Deutschland sollte alles in seiner Kraft Stehende tun, um hier konstruktive Beiträge zu leisten.

Russland bleibt Teil Europas

Vor dem Hintergrund des Russland-Ukraine-Konflikts und der gravierenden Völkerrechtsverletzungen Russlands mag es fremd klingen, sich für eine fortgesetzte Zusammenarbeit mit Russland und die Wiederherstellung einer europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung einzusetzen. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass der Westen in den kältesten Zeiten des Kalten Krieges mit Moskau gesprochen und verhandelt hat, bis hin zur Überwindung der Teilung Europas, die jetzt wieder droht. Russland ist und bleibt ein gewichtiger Teil Europas. Fortschritte werden gerade mit einem Präsidenten Putin Zeit, Geduld und Beharrlichkeit brauchen. Im Westen müssen wir uns darum bemühen, das russische Vorgehen besser zu verstehen – nicht zu verwechseln mit einem Verständnis für das russische Vorgehen! – und uns kritisch fragen, ob wir in den vergangenen 15 Jahren die Signale aus Moskau ausreichend wahrgenommen und unsere Politik angemessen darauf ausgerichtet haben.

Auf der Grundlage dieser Analyse, unserer politischen, ökonomischen und auch militärischen Stärke und europäischer und transatlantischer Geschlossenheit gilt es, durchaus aktiv auf Russland zuzugehen. Man gewinnt den Eindruck, dass Amerikaner und Europäer eher auf den nächsten Schritt Putins warten, als selbst initiativ zu werden. Letztlich muss Russland klarwerden, dass neue Trennungslinien, eine eingefrorene politische und ökonomische Kooperation mit dem Westen und die Verschwendung von verbleibenden Ressourcen für die Aufrüstung der Streitkräfte bei großen globalen Herausforderungen, denen sich auch Russland wird stellen müssen, keine Zukunftsperspektive sind. Deutschland mit seinen besonderen Beziehungen zu Russland, fest verankert in der EU und im westlichen Bündnis, könnte hier zum „Brückenbauer“ werden, besonders unter Nutzung der OSZE-Präsidentschaft 2016.

Ein gefährliches schwarzes Loch

Außen- und Sicherheitspolitik vollzieht sich heute im globalen Maßstab. Deshalb ist es besorgniserregend, wenn sich in diesen Politikfeldern die Vereinten Nationen als wenig handlungsfähig erweisen. Jahrelange Reformbemühungen haben bisher zu keinem zukunftsweisenden Ergebnis geführt. Der Sicherheitsrat bildet weitgehend die politischen Gegebenheiten von 1945 ab und ist insbesondere durch das russische und das chinesische Veto in der äußerst wichtigen Frage der Konfliktregelung des syrischen Bürgerkrieges seit Jahren gelähmt. Dabei können nur die VN die ordnungspolitische Lücke in einer globalisierten Welt füllen, allein schon aufgrund ihres Gewaltlegitimierungsmonopols jenseits des Selbstverteidigungsrechts der Staaten. Deutschland als der drittgrößte Beitragszahler der VN, die EU, aber auch die USA sollten ein großes politisches Interesse daran haben, die VN zu stärken – durch Überwindung ihrer Meinungsverschiedenheiten zur Rolle und Verantwortung der VN und durch eine abgestimmte Politik gegenüber anderen wichtigen Staaten in dieser fortbestehenden „Weltunordnung“ wie beispielsweise Russland, China, Brasilien, Indien, Japan und Südafrika. Letztlich werden nur Reformen die Handlungsfähigkeit der VN wieder herstellen – oder die ordnungspolitische Lücke wird zu einem gefährlichen schwarzen Loch.

Die vier Prinzipien der Außen- und Sicherheitspolitik

Ergänzend zu diesen Konstanten, deren konsequente Verfolgung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Überwindung der Teilung Europas und Deutschlands geführt hat, sollte deutsche Außen- und Sicherheitspolitik einigen wichtigen Prinzipien folgen. Als Erstes will ich den Imperativ des Multilateralismus nennen. Kein Staat, weder Deutschland in Europa noch die USA als einzig verbliebene Weltmacht, kann heute politisch allein agieren. Staaten haben weitgehend ihre Autonomie verloren. Ausmaß und Inhalt der Souveränität von Staaten in internationalen Angelegenheiten bedürfen der Überprüfung. Das Ende der westfälischen Ordnung von 1648 zeichnet sich deutlich ab. Lösungen bedürfen multilateraler Ansätze in Zeiten der Globalisierung. In diesem Sinne könnte eine sich weiterentwickelnde und handlungsfähige EU das Beispiel für die Zukunft setzen. Daran gilt es für Deutschland aktiv mitzuwirken, gerade weil Multilateralismus Teil unserer Staatsraison ist und bleiben sollte.

Mit dem zweiten Prinzip fordere ich dazu auf, Nullsummenansätze durch „Win-win“-Situationen zu ersetzen. Es ist gleichzeitig ein Appell zu Empathie für den anderen, mit Henry Kissingers Worten „watching the world through the eyes of the others“. Dabei sollte dieses Prinzip nicht nur in der Ökonomie gelten, sondern ganz besonders im politischen Verkehr von Staaten. Nicht alle politischen Führer werden dies akzeptieren wollen, aber diese Politiker werden bald erkennen müssen, dass sie die Verlierer der Globalisierung sind.

Die westlichen Staaten, einschließlich Deutschlands, müssen künftig vermeiden, in der Verfolgung ihrer außen- und sicherheitspolitischen Ziele doppelte Standards gelten zu lassen. Dieses dritte Prinzip verlangt nach einer wertebezogenen Politik, einer unzweideutigen Verfolgung der Werte, für die wir einstehen. Selbstverständlich gibt es Konflikte zwischen Werten und Interessen, besonders wenn man es mit autoritären Regimen, Extremisten oder gar mit Terroristen zu tun hat. Aber seien wir uns dennoch bewusst, dass jede Abweichung von unseren Werten auf uns negativ zurückschlägt! Beispiele dafür liefert die jüngste Vergangenheit genug. Will der Westen seine Glaubwürdigkeit bewahren und stärken, muss er sich in der Außen- und Sicherheitspolitik zu seinen Werten bekennen und diesen Werten verlässlich nachkommen.

Das vierte Prinzip: Jedes außen- und sicherheitspolitische Vorgehen verlangt nach einem umfassenden vernetzten Ansatz. Separate diplomatische, ökonomische, soziale oder gar militärische Vorgehensweisen werden kein Problem lösen, weder zur Krisenprävention, zur Krisenbewältigung noch zur Friedenskonsolidierung. Auf der Basis klarer und erreichbarer politischer Ziele bedarf es der konsequenten Vernetzung der verschiedenen Instrumente durch intensiven Informationsaustausch, enge Koordination und Kooperation bis hin zum integrierten Handeln im nationalen und internationalen Rahmen.

Ich bin der Auffassung, dass die westliche Welt, die USA, Kanada, die EU und damit auch Deutschland den Veränderungen und Herausforderungen der Globalisierung mittels einer multilateralen Außen- und Sicherheitspolitik unter Beachtung der aufgezeigten Prinzipien gerecht werden kann. Es geht um die Verhinderung einer erneuten Trennlinie in Europa, eine abgestimmte Politik gegenüber neuen Gestaltungsmächten in einer zunehmend polyzentrischen Welt, ein gemeinsames Vorgehen bei schwachen und versagenden Staaten und der dort damit einhergehenden Privatisierung und Individualisierung von Gewalt, die diplomatische Verhinderung der drohenden Proliferation von Nuklearwaffen – der vielleicht gefährlichsten Entwicklung in den nächsten Jahren – sowie um gemeinsam getragene Lösungen zu den Auswirkungen des Klimawandels, der demografischen Veränderungen und der Internetrevolution.

Deutschland trägt dabei heute und zukünftig eine große Verantwortung, größer denn je in seiner jüngsten Geschichte und weit mehr als durch militärische Einsätze. Unser Land trägt in Europa Führungsverantwortung in der Verfolgung gemeinsamer Ziele mit anderen, für uns selbst und für andere in den VN, der OSZE, der NATO und der EU. „Früher, entschiedener und substanzieller als guter Partner.“

Autor: Armin Staigis