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Noch nicht Krieg, aber auch nicht Frieden - Drei Impulse für die nationale Wehrhaftigkeit und Resilienz

1/2025
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Die neue Bundesregierung wird die erste sein, die sich von Beginn an auf eine vermutlich epochale Dauerkrise für die europäische Sicherheit ausrichten muss. Sie wird somit sehr früh Grundsatzentscheidungen treffen müssen. Das heutige Russland stellt dabei absehbar die größte Bedrohung für Europa dar. Die kommende Bundesregierung ist somit gut beraten, wenn sie entschlossen in Willen, Absicht und Handeln die nationale Sicherheit Deutschlands als vordringliche Aufgabe für die kommende Dekade begreift.

Auf einer Bahnstrecke steht ein Zug aus Flachwagen mit zahlreichen Militärfahrzeugen der Bundeswehr darauf.

Militärischer Bahntransport: Deutschland muss sich aufgrund seiner Funktion als strategische Drehscheibe der NATO besonders gegen Spionage, Sabotage und weitere hybride Angriffe wappnen. Foto: ©Bundeswehr/Kruth

Die „Zeitenwende“ hat in weiten Teilen der Öffentlichkeit zu einem entromantisierten und nüchternen Blick auf das gewaltsame Wesen russischer Staatspolitik geführt. Russland sieht seit Ende des Kalten Krieges seine Rolle als dominante europäische Großmacht kontinuierlich bedroht. Die politische Neuorientierung der Staaten Osteuropas aus dem postsowjetischen Raum heraus hin zum Westen und ihr Beitritt zu NATO und EU werden in Russland als ein gegen vermeintliche natürliche Einflusszonen vorgetragener Angriff, vor allem seitens der „raumfremden“ USA, gewertet. Während noch Anfang der 2000er Jahre Reformen, Modernisierung und internationale Kooperation möglich schienen, sieht sich Russland spätestens seit den Verlautbarungen Präsident Putins bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 unüberhörbar in einem Modus der legitimen Vorwärtsverteidigung nationaler Interessen. In der Lesart des Kremls sind „die USA und ihre Satelliten“ der politisch-strategische Hauptgegner. Auch wenn sich westlich-demokratische Staaten und Gesellschaften nicht im Krieg mit Russland sehen, so sieht sich die russische Staatsführung im Krieg mit ihnen – den USA, der NATO, der EU und somit auch Deutschland. Was aus westlicher Sicht abstrus erscheint, folgt jedoch der neo-imperialistischen Gewaltlogik des Kremls. Innerhalb dieser russischen Weltsicht sind mögliche Zielsetzungen, Methoden und Mittel der disruptiven Absichten des Regimes zumindest plausibel. Diese oft verschleierten Pfade gilt es zu erkennen, wenn die nationale Wehrhaftigkeit und Resilienz Deutschlands glaubhaft ausgestaltet werden sollen.

Deutschland im Zentrum hybrider Aggression - Ziele und Mittel

Der Kreml schaut mit einem ganz besonderen Blick auf die strategische Rolle Deutschlands in Europa. In seiner funktionalen Gesamtheit steht die relative Wirkmacht der Bundesrepublik mit (1) einem effektiven Verteidigungsbeitrag als konventioneller Eckpfeiler der NATO, (2) der geschlossenen Haltung der Bundesregierung zur fortwährenden Unterstützung der Ukraine, (3) der Reduktion der Energieabhängigkeit von russischem Gas und (4) der Geschlossenheit in Europa gerade mit Frankreich, Polen und Großbritannien der Erfüllung russischer neo-imperialistischen Ambitionen entgegen. Die Aufgaben sind in allen Aspekten der Sicherheitspolitik gewaltig. Dies gilt allein schon für die Verantwortung Deutschlands, als strategische Drehscheibe für schnelle Verlegungen alliierter Kräfte an die NATO-Außengrenze zu fungieren. Die 2023 veröffentlichten Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) des Bundesministeriums der Verteidigung stellen fest: „Als geografisch zentrales und wirtschaftlich leistungsfähiges Land in der Mitte Europas ist Deutschland das Rückgrat für die kollektive Verteidigung in Europa. Damit erwächst für Deutschland auch in besonderem Maße eine Bedrohung, auch militärisch.“

Aufgrund dieser funktional außerordentlichen Bedeutung für die Sicherheit Europas wird die Bundesrepublik somit auch ein vordringliches Ziel russischen Handelns sein. Und das schon weit im Vorfeld einer militärischen Auseinandersetzung, um sie als Rückgrat des europäischen Pfeilers in der NATO zu beschädigen – militärisch, aber auch politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Konkret erwächst erst aus dieser Bewertung heraus in besonderem Maße eine Bedrohung für Deutschland – zwar auch, aber bei weitem nicht nur militärisch. Bereits heute ist nahezu täglich spürbar, dass hybride Angriffe einen permanenten Belastungszustand erzeugen. Sie bezwecken, die freiheitlich-demokratische Grundordnung und die Leistungsfähigkeit von Staat, Wirtschaft und Politik dauerhaft unter Stress zu setzen, um diese letztlich als handlungsunfähig zu delegitimieren. Nicht alle dabei eingesetzten Instrumente werden als gewaltsam wahrgenommen. Der gesellschaftliche Zusammenhalt bildet das Fundament nachhaltiger Wehrhaftigkeit. Ein langfristiges Ziel Russlands ist es daher, Verschiebungen in der Grundhaltung der deutschen Bevölkerung, in ihrem Sicherheitsempfinden, ihrem Selbstvertrauen und ihren Gewissheiten – zum Beispiel zur Westbindung, einer handlungsfähigen NATO und einem schützenden Staat – zu erzeugen. Das mag mit nüchternem Blick kaum überraschen, denn die Anwendung militärischer Gewalt ist seit jeher intensivster Teil des Krieges, aber stand für diesen noch nie ausschließlich. Die Saat scheint bereits in Teilen der Gesellschaft aufzugehen. So gelingt es einigen innenpolitischen Akteuren jenseits der abstrakten Angst vor Atomdrohungen, nicht nur die geplante Stationierung weitreichender konventioneller US-Präzisionswaffen, sondern sogar die Stationierung eigener Luftverteidigungssysteme der Bundeswehr im Inland als Bedrohung der eigenen Sicherheit und Beitrag zur Eskalation umzudeuten.

Ob aus Moskau gesteuert oder Koinzidenz: Diese Wirkung auf das Sicherheitsempfinden hat auch Auswirkungen auf die nationale Resilienz und spielt so oder so der destruktiven Absicht des Kremls in die Hände. Doch besteht Gewissheit, dass die gegenwärtigen hybriden, aber noch nicht-militärischen Angriffe und Formen der Einflussnahme, so gravierend sie bereits jetzt sind, auf dem aktuellen Niveau verbleiben? Sind die Sabotageversuche an Unterwasserkabeln, die anhaltende Desinformation, tägliche Cyberangriffe, Brandsätze in Frachtmaschinen oder Drohnenflüge über Chemieparks und Truppenübungsplätzen bereits der Summenstrich des Denkbaren? Hinsichtlich des russischen Vorgehens in der Ukraine – wohl kaum. Gerade mit Blick auf die Kriegsführung Russlands in der Ukraine sticht die zunehmend bewusst entgrenzte Gewalt auch gegen zivile Ziele zum Erreichen der Kriegsziele hervor. Für das Kalkül der russischen Staats- und Militärführung ist somit anzunehmen, dass nahezu keine Hemmung zur Gewaltanwendung besteht – unterhalb, entlang und oberhalb der Schwelle eines militärischen Angriffs, perspektivisch auch auf NATO-Bündnisgebiet.

Zum Verständnis dieser Einschätzung ist zentral, dass Russland in der Ukraine zwar schwere Verluste an Menschenleben erleidet und Kriegsmaterial en masse verliert, ungeachtet dessen jedoch seine militärischen Offensivfähigkeiten kontinuierlich weiter und deutlich über das Vorkriegsniveau von 2022 ausbaut. Politik, Militärs und Nachrichtendienste warnen eindringlich vor dieser fortschreitenden Rekonstitution der russischen Angriffskriegsfähigkeit gegen die NATO, die Zeit benötigen, aber nicht ewig dauern wird. Das Jahr 2029 steht im Raum und markiert dabei zugleich auch das voraussichtliche Ende der kommenden Legislaturperiode. Nach gegebenen planerischen Maßstäben ist das morgen. Sollte Russland tatsächlich willens sein, ausgewählte NATO-Verbündete in einigen Jahren militärisch anzugreifen, dann wäre es aus russischer Sicht plausibel, bereits weit im Vorfeld des offenen Überschreitens der Kriegsschwelle insbesondere mit intensivierten hybriden Angriffen gerade auch auf Deutschland zu zielen. Ein resilience gap in der Mitte der demokratischen Gesellschaften Europas würde dann deutlich bessere Voraussetzungen für einen aussichtsreichen Angriff schaffen. Der finanzielle, materielle und personelle Ressourceneinsatz des Kremls ist dabei ebenso wie das Risiko für ihn gering. Das beste was Putin passieren kann, ist noch unterhalb der Schwelle zum militärischen Konflikt den Selbstbehauptungswillen der NATO politisch zu beschädigen und insbesondere Deutschland funktional als Eckpfeiler der konventionellen Verteidigung Europas nachhaltig zu lähmen. Auch für Russland ist der beste Krieg jener, der zumindest ohne (längeren) Kampf gewonnen wird. Gerade die Bundesrepublik erscheint hierbei trotz einigen Fortschritts in der „Zeitenwende“ als ein sehr lohnendes Ziel. Offene Flanken in Deutschlands Sicherheitsarchitektur und im Zusammenwirken seiner zivilen und militärischen Verteidigung stellen dabei günstigere Ziele dar, als kampfbereiten Brigaden und Divisionen an der NATO-Außengrenze entgegentreten zu müssen. Die Elemente einer im Eskalationsfall wahrscheinlich auf Deutschland gerichteten Gewaltkaskade sind nicht als einzeln und langsam intensivierte, sonders als überraschende, massive und multiple Angriffe unterhalb und entlang der Schwelle zum offenen Krieg zu denken.

Kritisch ist dabei insbesondere, dass Russland eine denkbare Eskalation keineswegs sequentiell den deutschen verfassungsrechtlichen Kategorien von Frieden, Zustimmungs-, Spannungs- und Verteidigungsfall unterordnen und diese „abarbeiten“, sondern sich genau dieser Logik entziehen würde. Die deutsche Sicherheitsarchitektur könnte somit bereits im Ansatz in ihren Schubladen unterlaufen werden. Es gilt, sich auf Ungewissheiten, Komplexität und Überlastungsrisiken einzustellen. Dabei helfen kann der in der Allgemeinheit (fast) vergessene Ansatz des „Kriegsbilds“,[1] welcher bereits in den frühen Jahren der Bundesrepublik bis Ende der 1980er Jahre fester Bestandteil der in der Bundeswehr, aber ebenso auch in Politik und Gesellschaft geführten Diskussionen über Verteidigung war. In der gegenwärtigen, vor allem durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine geprägten Debatte gelingt es hingegen oft nicht, den Blick von der regionalen Lagekarte, dem Zählen einzelner Geschütze und den eindrucksvollen „FPV“-Aufnahmen einzelner Kampfdrohnen zu lösen und die Frage zu stellen, was die im Ausbau befindlichen Fähigkeiten und die damit verbundenen Absichten des Kremls nüchtern betrachtet für Deutschland bedeuten – und das eben nicht nur militärisch und heute schon.

Stell Dir vor, wir sind im Krieg, und wir erkennen es nicht

Man stelle sich dazu einmal vor, dass es im Jahr 2029 über Wochen verteilt in Deutschland zu multiplen, offenbar mutwillig herbeigeführten großflächigen Waldbränden, Cyberangriffen auf das Bahn- und Energienetz, Störungen der Satellitenkommunikation und vermeintlichen „Unfällen“ mit Todesfolge von Funktionsträgern in Verwaltung und Bundeswehr sowie einzelnen Drohnenangriffen auf Chemieanlagen, einschließlich Toten und Verletzten, kommt. Man stelle sich dann vor, Russland führt im selben Zeitraum eine plötzliche Großübung von Streitkräften in Belarus durch, in direkter Grenznähe zu Litauen, verbunden mit nuklearen Drohungen. Man stelle sich weiter vor, diese Drohungen werden mit dem angeblichen Test einer nuklear bestückbaren Trägerrakete in der Ostsee knapp außerhalb der deutschen Territorialgewässer verknüpft und mit Seeaktivitäten entlang kritischer Unterwasserinfrastruktur untermauert. Undenkbar? Die Möglichkeiten dazu besitzt Russland schon jetzt; den Willen zur Gewalt, gerade auch gegen zivile Ziele, offenbart der Kreml täglich in der Ukraine. Das Ziel wäre für Russland hierbei schon erreicht, wenn sich in der Allgemeinheit bereits frühzeitig ein Gefühl der Hoffnungs- und Wehrlosigkeit bahn bricht. Denn die Auswirkungen auf die Daseinsvorsorge und die psychologische Wirkung auf die Bevölkerung wären absehbar enorm. Hätten Politik und Behörden in so einer Situation Klarheit bei Lagebildern, Rollen, eigenen Fähigkeiten und Eventualfallplanungen? Könnte Deutschland der Aufgabe als strategische Drehscheibe der NATO noch im erforderlichen Umfang nachkommen oder wären alle Ressourcen in der Schadensbewältigung gebunden? Wie schnell würden Rufe nach Amtshilfe durch die Bundeswehr laut? Würde die Bundesregierung die Situation und den Gesamtcharakter der Bedrohung von Beginn an richtig einschätzen und so Initiative zurückgewinnen? Besäße Deutschland die erforderliche Widerstands- und Anpassungsfähigkeit, um Russlands aggressives Vorgehen aushalten zu können? Letztlich, wären Staat und Gesellschaft dann jenseits politischer Erklärungen willens und bereit, jeden Quadratzentimeter des NATO-Bündnisgebiets militärisch zu verteidigen?

Deutschland könnte mangels einer kohärenten gesamtstaatlichen und gesamtgesellschaftlichen, zivilen und militärischen Vorbereitung auf diese disruptive Form der Gewalt in eine Lage gebracht werden, in der es sehr früh zwischen der Krisenbewältigung im Inland und den Beiträgen zur Bündnisverteidigung in einem nur schwerlich auflösbaren Dilemma priorisieren müsste. Dennoch muss beides funktionieren. Die Bundeswehr und ihre Fähigkeiten zum Beispiel im Sanitätsdienst oder in der ABC-Abwehr gibt es jedoch nur einmal und zwar für ihren militärischen Verteidigungsauftrag des deutschen Territoriums und der Verbündeten. Kompromisse wären mit einem erheblichen sicherheitspolitischen Schaden für die Abschreckung im Bündnis verbunden. Allein ohne klares Kriegsbild könnte es in den vorhandenen zahlreichen Lagebildern der deutschen Sicherheitsarchitektur schon zu Beginn schwerfallen, den Gesamtcharakter scheinbar zusammenhangloser oder schwer attribuierbarer Ereignisse zutreffend einzuordnen. Wären dies Einzelfälle oder der Auftakt eines konzertierten Angriffs? Ein nur stückweises Abarbeiten vermeintlich separater Krisenlagen in den dezentralen Schubladen der deutschen Sicherheitsarchitektur wäre fatal. Und eine Schwäche der Abschreckung mitten in Europa würde zu einer weiteren Eskalation gegen die NATO geradezu einladen.

Drei Impulse für die nationale Verteidigungsfähigkeit

Ziel glaubhafter Abschreckung ist es, durch Einfluss auf das Kosten-/Nutzenkalkül des Gegners einen Verteidigungskrieg zu verhindern. Die erste Stunde der Rolle Deutschlands in der Bündnisverteidigung und als strategische Drehscheibe schlägt daher bereits im verfassungsmäßigen Frieden – sie schlägt heute. Einen aggressiv-destruktiven Akteur wie Russland von der Gewaltanwendung abzuhalten, bleibt ein strategisches Problem, das nicht allein militärisch gelöst werden kann. Die Verantwortung zur Verteidigung Deutschlands trägt somit die Bundeswehr nicht allein. Denn erst auf Basis der Erosion des Selbstbehauptungs- und Wehrwillens Deutschlands als „Rückgrat der konventionellen Verteidigung Europas“ (VPR 2023) wäre eine militärische Volleskalation als kurzer, begrenzbarer und damit aussichtsreicher Krieg für den Kreml am Rande des Bündnisgebietes überhaupt sinnvoll. Zuletzt war es auch genau die Unterschätzung des Verteidigungswillens der Ukraine, die Putin 2022 zur (Voll-) Invasion ermutigte. Das oftmals kolportierte Mantra hingegen, man könne einer Nuklearmacht nichts entgegensetzen, wäre genau die falsche und fatale Schlussfolgerung, denn Nuklearwaffen sind nicht omnipotent. Aggressive Nuklearmächte können Kriege verlieren und müssen wie im Falle Russlands dieses Risiko durch glaubhafte, auch und gerade konventionelle Abschreckung sichtbar aufgezeigt bekommen. Integrierte Sicherheit muss praktizierte „Integrierte Verteidigung“, eben Gesamtverteidigung, bedeuten – in der Fähigkeit, resilient und wehrhaft zu sein.

1. Es kommt auf Schnelligkeit und Pragmatismus an!

Die Stärkung der Wehrhaftigkeit und Resilienz ist angesichts der sich entfaltenden Bedrohungslage eine besonders dringliche Kernaufgabe für die Politik. Auf der appellativen Ebene gibt es hierzu breiten Konsens, und es wurden bereits Fortschritte erzielt, auf die es konstruktiv aufzusatteln gilt. Eine kommende Bundesregierung darf sich daher nicht zuerst mit konzeptioneller Grundlagenarbeit aufhalten und sich an dieser reiben. Solche ist wichtig, beansprucht aber geraume Zeit, wie 22 Monate zur Erstellung des Weißbuchs 2016 und 18 Monate für die Nationale Sicherheitsstrategie 2023 gezeigt haben. Die politisch Verantwortlichen sollten vielmehr auf Grundlage der bereits unternommenen Schritte aufsetzen, wo nötig strategische Grundlagen durch schnelles paralleles Vorgehen nachjustieren und sich in nahezu allen Sektoren auf die konkrete, mit Ressourcen unterlegte Umsetzung konzentrieren.

Dabei gilt es, ein ganzheitliches Sicherheitsverständnis handhabbar zu machen. Ja, ohne Sicherheit ist alles nichts. Aber nicht alles ist gleichermaßen existenziell verteidigungswichtig und damit auch besonders schutzbedürftig. Den politischen Konsens zu erzeugen, um zu priorisieren und damit auch in anderen Bereichen zu de-priorisieren, wird eine politische und kommunikative Kraftprobe. Dieser muss sich die künftige Bundesregierung jedoch als erstes stellen. Hierzu muss bereits ein Koalitionsvertrag den Kompass klar vorgeben; etwaige Versäumnisse schon im Ansatz könnte auch eine Nationale Sicherheitsstrategie 2.0 später nicht heilen. Die Bundesregierung hat damit eine orientierende Wirkung nicht nur in den Bund, sondern auch gegenüber den Bundesländern zu erbringen. Den zu erwartenden institutionellen Beharrungskräften sollte durch politische Zielsteuerung und Anhebung von Kernfragen der Sicherheit auf höchster politischer Ebene in der Bundesregierung begegnet werden. Die Richtlinienkompetenz obliegt ohnehin dem Bundeskanzler; die Ressortverantwortung innerhalb der Richtlinien tragen die Minister. Aber es kommt auf den frühzeitigen Grundkonsens der Bundesregierung an. Zuvorderst dort muss sich der politische Wille einen, die nationale Verteidigungsfähigkeit in Finanzplanungen, Gesetzesinitiativen und Verwaltungshandeln gemeinsam nach vorn zu bringen und verantwortungsvoll umzusetzen.

Hinsichtlich zentralisierter aufbauorganisatorischer Lösungen, wie zum Beispiel der Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrats oder des Neuzuschnitts ganzer Ressortzuständigkeiten ist notwendiges Augenmaß anzulegen. Denn jede institutionelle Umwälzung kostet zunächst politisches Kapital und wertvolle Zeit, die praktisch nicht mehr vorhanden ist, und mit der Gefahr der Selbstbeschäftigung nur dem Kreml in die Hände spielt. Die kommende Bundesregierung ist, auch wenn es kontraintuitiv erscheint, dahingehend gut beraten, nicht mit revolutionären Neuentwürfen für die nationale Sicherheitsarchitektur zu beginnen. 2029 ist morgen. Angesichts der Dringlichkeit kommt es eher auf schnell wirkende Schritte an, anstelle erst langwierig Musterlösungen auszuhandeln. Dazu gehört auch, dass es zu den vieldiskutierten Ansätzen einer allgemeinen Dienstpflicht für Männer und Frauen im Frieden, in welcher Form auch immer, zumindest einen „Plan B“ geben muss. Denn eine dafür erforderliche Zweidrittelmehrheit im Bundestag und der Konsens mit den Bundesländern ist keine Gewissheit. Es muss also einen Fahrplan geben, der den vorhandenen Verfassungsrahmen zunächst ausschöpft und auf einfachgesetzliche Maßnahmen, zum Beispiel im Wehrpflichtgesetz, und auf ehrenamtliches Engagement zielt. Das kostet weniger politisches Kapital und spart Zeit. Der beste Neuansatz nützt nichts, wenn er zu spät kommt.

2. Es kommt auf gesamtstaatliche Operationalisierung an!

Gesamtverteidigung ist zentraler Teil Integrierter Sicherheit. Somit müssen die zivile Verteidigung und die militärische Verteidigung, die in einem unauflösbaren Verhältnis zueinanderstehen, aufeinander abgestimmt im selben Tempo auf die Bedrohungslage ausgerichtet werden. Der „Operationsplan Deutschland“ ist in aller Munde. Dieser ist – wenngleich das Engagement und die Unterstützung der zivilen Seite darin eingebettet sind – als militärischer Plan allerdings zunächst Ausdruck der militärischen Dimension der Zeitenwende. Denn erst mit Blick auf den Gesamtcharakter eines zu verhindernden Krieges begründet sich der Anspruch, dass die zivile Verteidigung notfalls auch ohne umfassende Abstützung auf die Bundeswehr in der Lage sein muss, umfassende Gefahrenlagen in eigener Zuständigkeit im Inland zu bewältigen. Dabei geht es nicht um Amtshilfe für die Streitkräfte, sondern um die ureigenste Rolle der zivilen Seite in ihrer Schutzverpflichtung für die Bevölkerung. Auch hier startet man weder im Bund, noch in den Ländern bei Null, und man kann sich zudem auf ein breites ehrenamtliches Engagement stützen. Aber reicht zum Beispiel für die Warnung die Warn-App NINA? Was ist, wenn der Mobilfunk gestört wird, oder man sein Handy nicht mehr laden kann, mangels Strom? Sind allein diese Fragen in Eventualfallplanungen und Ressourcen hinterlegt?

Hoheitliche Aufgaben, wie der Schutz und die Warnung der Bevölkerung müssen umfassendes Verwaltungshandeln auslösen. Sie müssen eingespielt sein. Würden Vorkehrungen dazu erst in der Krise aufgenommen, kämen sie viel zu spät. Dies reicht zum Beispiel vom Vorhalten einer zivilen Großgerätereserve für die Bergung von Personen und Freiräumung zerstörter Infrastruktur über zivile Fähigkeiten für ABC-Gefahrenlagen bis hin zu großvolumigen Unterbringungs- und Versorgungskapazitäten für Binnen- und Kriegsgeflüchtete. Nicht zuletzt dient das „Hochfahren“ der zivilen Verteidigung neben der Aufrechterhaltung der Regierungs- und Staatsfunktionen, der Versorgung und dem Schutz der Bevölkerung eben auch der konstituierenden zivilen Aufgabe in der Unterstützung der Bundeswehr, die es ebenso verlässlich zu erbringen gilt. Dies schafft in einer umfassenden Krisenlage Handlungsfähigkeit nach innen und entlastet die Bundeswehr für ihren Kernauftrag der Landes- und Bündnisverteidigung. Denn die betreffenden Fähigkeiten der Bundeswehr wären in einer umfassenden äußeren Krisenlage genau für diesen Auftrag gebunden. Ferner tragen auch Vorkehrungen für den Zivilschutz zur Glaubwürdigkeit der Abschreckung bei, da sie durch den Gegner leichter zu beobachten sind und zeigen, dass es Staat und Gesellschaft als Ganzes ernst meinen. Ermutigend sind die bereits vielen lokalen Engagements, gerade im Ehrenamt. Ziel sollte jedoch ein klar quantifizierbares Leistungsprofil nationaler Gesamtverteidigung auf Basis einer kriegsbildgerechten und harmonisierten Nationalen Verteidigungsplanung sein. Dieses Profil sollte auf höchster politischer Ebene eingefordert, mit den Bundesländern, Kommunen und Interessensverbänden geeint und mit gemeinsamen Übungen validiert werden.

Für die Haushaltsplanung des Gesamtstaates muss klar sein: Gesamtverteidigung gibt es nicht zum Nulltarif, weder beim Bund noch bei den Ländern und Kommunen und damit weder für den militärischen noch für den zivilen Anteil. Gesamtverteidigung bedarf monetärer wie personeller Ressourcen. Hier gilt es auch kreative Lösungen jenseits von Schubladen zu verfolgen. So könnte zum Beispiel entlang eines Mehrfachnutzenprinzips die Fähigkeit zur (behelfsmäßigen) Wiederherstellung von Brückeninfrastruktur gleichsam die Resilienz nach Hochwasserschäden stärken, die Leistungsfähigkeit wirtschaftsrelevanter Infrastruktur steigern und die gegen Deutschland gerichteten hybriden Angriffspotenziale in ihrer Wirkung begrenzen. Ein starker Staat und resiliente Bürgerinnen und Bürger gehen Hand in Hand. Auch die individuelle Eigenverantwortung muss gefördert werden. Bereits heute kann auf Basis der Stärkung von Freiwilligkeit der Resilienzaspekt deutlich ausgebaut werden. So könnten zum Beispiel im ressortübergreifenden Ansatz über den Reservistenverband, mit dem Technischen Hilfswerk und in Kooperation mit den Blaulichtorganisationen oder mit einem neuen „Bundesverband Gesamtverteidigung“ (vergleichbar mit dem 1996 aufgelösten Bundesverband Selbstschutz) breite Bevölkerungsschichten angesprochen und im Ehrenamt aktiviert und besser vernetzt werden. Die Aspekte der Eigenverantwortung und Selbstschutzkompetenz der Wirtschaft und Gesellschaft sind ohnehin ebenso wichtig wie die Stärkung von staatlichen Kernfähigkeiten militärischer und ziviler Gesamtverteidigung. Denkbar wären zum Beispiel staatlich zu unterstützende freiwillige lokale Übungen und Seminare am Wochenende, in Schulen oder Universitäten mit Trägern der Gesamtverteidigung und des Katastrophenschutzes / Bevölkerungsschutzes unter Einbindung der Bundeswehr. Hierbei könnten auch jenseits einer Dienstpflicht Interessierte angesprochen und für eine sinnstiftende Aufgabe gewonnen werden. Doch auch das wird es nicht zum Nulltarif geben.

3. Ohne die Wirtschaft geht es nicht - es kommt auf die Aktivierung aller an!

Die Gesamtverteidigung erfordert die Mitwirkung der gesamten Bevölkerung sowie der Wirtschaft. Dabei reicht es nicht aus, nur den rüstungsindustriellen Sektor zu stärken. Die Fähigkeit zur Gesamtverteidigung speist sich zweifelsohne aus der einsatzbereiten und zeitgerecht verfügbaren Fregatte, dem Kampfpanzer oder dem Luftverteidigungssystem, aber eben auch durch die gewerblich gesicherte Bereitstellung von Dienstleistungen für die Streitkräfte und die Daseinsvorsorge der Bevölkerung, wie zum Beispiel medizinische Güter oder Betriebsstoffe. Die künftige Bundesregierung sollte daher neben der gesicherten Rüstungsproduktion strategisch breiter auf die aus der Wirtschaft heraus zu erbringenden Dienstleistungen schauen und darauf, wie diese in der Krise zu aktivieren sind. Gleichsam kann die Wirtschaft auch als Sensor frühzeitig wichtige Indikatoren über hybride Angriffe liefern. Dabei gilt es, die wirtschaftlichen und gewerblichen Akteure in einem strukturierten Dialog mitzunehmen und Voraussetzungen für Datenhaltung und Melderichtlinien zu schaffen, durch ein intelligentes Schnittstellenmanagement und ohne überbordende zusätzliche Bürokratie. Auch gilt es, das Bewusstsein in der Wirtschaft zu schärfen, dass auch sie Verantwortung für die Verteidigung Deutschlands trägt. Fragen, wie etwa die der Abkömmlichstellung von Personal für die Reserve der Bundeswehr und den Zivilschutz, des effektiven Selbstschutzes gegen Drohnen, des Aufbaus materieller Reserven an Produktionslinien und entsprechender Fördermöglichkeiten sowie der Einbindung bei Übungen und im Rahmen von staatlichen Alarmmaßnahmen sind Fragen, die sich die Wirtschaft zunehmend stellt, ohne diese allein beantworten zu können. Somit muss ein strategisch breiter Blickwinkel gefasst werden, der nicht nur große Waffensysteme umfasst, sondern auch die logistische Leistungserfüllung sowie die Bereitstellung von wirtschaftlichen Ressourcen für weitere Bedarfe der Gesamtverteidigung.

Fazit

Darüber zu debattieren, wie ein aufgezwungener Verteidigungskrieg und dessen Vorstufen konkret aussehen könnten, heißt nicht, diesen führen zu wollen. Ganz im Gegenteil. Das Denken in best cases befördert hingegen nur die eigene Wehrlosigkeit. „Kriegstüchtigkeit“ kann es daher nicht ohne Diskurstüchtigkeit geben. Eine offene, kontroverse aber nüchterne Diskussion zu Fragen von Krieg und Gewalt bedient dazu eine integrale Funktion nicht nur in das Militär hinein. Sie adressiert alle – Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Verwaltung – zur Frage des Wesens eines zukünftigen Krieges und den Implikationen für die nationale Wehrhaftigkeit und Resilienz. Dies gibt Orientierung und schafft einen wertvollen Diskursraum für das, was es gemeinsam abzuwenden gilt. Eine Debatte bedient jedoch keinen Selbstzweck; ihr muss eine schnelle Umsetzung folgen. Dazu bedarf es politischen Willens und breiten Rückhalts in allen Teilen der Gesellschaft. Die Bevölkerungsumfrage 2024 des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr legt zumindest nahe, dass gerade bei jungen Menschen die breite Bereitschaft vorhanden ist, mehr für die eigene Sicherheit zu leisten. An der Aufwuchs- und Durchhaltefähigkeit der Bundeswehr führt für eine glaubwürdige Abschreckung kein Weg vorbei. Freiwilligkeit wird hier ihre Grenzen finden. Eine starke militärische Reserve ist unverzichtbar. Gleichwohl gibt es darüber hinaus vielfältige Möglichkeiten, zum Frieden in Freiheit beizutragen, egal ob in der Bundeswehr, bei der Polizei, den Katastrophenschutz- und Rettungsdiensten oder mit Beiträgen zu einer leistungsfähigen Wirtschaft, Gesundheitsversorgung und Infrastruktur. Es gilt, Deutschland und seine Bürgerinnen und Bürger gemeinsam zu schützen. Im Vordergrund steht die Frage nach der Sinnstiftung und Ausgestaltung. Eine gemeinsame Beantwortung des „Wofür“, aber auch des „Wogegen“ muss hierbei ein wesentlicher Gradmesser sein.

Philipp Lange war von 2017 bis 2019 Persönlicher Referent des Präsidenten der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS), ist Alumnus ad honorem des Arbeitskreises „Junge Sicherheitspolitiker“ der BAKS und Mitglied im Freundeskreis der BAKS e.V. Der Autor gibt seine persönliche Meinung wieder.

 

[1] Bedrohungsbasiertes Gesamtszenar abgleitet aus Kriegszielen eines Aggressors, das auch heute schon plausibel erscheint, selbst wenn eine konkrete Evidenz des Eintritts bereits aller potenziell gegen Deutschland richtbaren Gewaltelemente derzeit nicht vorliegt.

Arbeitspapier Thema: 
Bundeswehr
Deutsche Sicherheitsarchitektur
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Sicherheitsstrategie
Verteidigungspolitik
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