Arbeitspapiere

Schutz maritimer Kritischer Infrastruktur in der Ostsee: Braucht es den Schuss vor den Bug?

4/2025
Autor/in: 
Ausspähung und Sabotage in der Ostsee werfen Sicherheitsbedenken hinsichtlich des Schutzes maritimer Kritischer Infrastruktur auf. Die Anrainer reagieren darauf zunehmend energischer. Militärische Initiativen wie Baltic Sentry der NATO und die Arbeit des deutsch-multinationalen Marinestabs CTF Baltic setzen dabei auf Präsenz und ein verbessertes Lagebild. Darüber hinaus bedarf es verbesserter Abstimmung zwischen den beteiligten Akteuren. Auch notwendige Investitionen in Fähigkeiten der Marine zahlen sich hier doppelt aus: für die Landes- und Bündnisverteidigung ebenso wie zum Schutz maritimer Kritischer Infrastruktur. Nicht zuletzt: Wenn Sabotageakte sich nicht vollständig abschrecken lassen, braucht es für robuste militärische Gegenmaßnahmen politische Einigkeit und gesetzliche Klarstellung.

Fregatte mit Bohrplattform

Marineschiffe verfügen über die Fähigkeiten, im Fall eines hybriden Angriffs gegen maritime Infrastruktur verdächtige Schiffe zu stoppen, zu durchsuchen, Beweise zu sichern und Täter festzusetzen. Foto: Bundeswehr/Kistenmacher

Immer wieder sind russische Forschungsschiffe auffällig, die in Nord- und Ostsee verdächtig viel Zeit verbringen. Experten gehen davon aus, dass diese Schiffe sorgfältig maritime Kritische Infrastruktur (marKRITIS) kartieren. Dazu zählen insbesondere Windparks, Öl- und Gasbohrplattformen, zahlreiche Daten- und Stromkabel sowie Pipelines, mit denen die Ostsee relativ dicht erschlossen ist. Mehr als ein symbolisches Signal zu senden – „Wir sehen, was ihr macht“ – können die Behörden der betroffenen Küstenstaaten aktuell nicht. Gleichzeitig häufen sich seit den Anschlägen auf die Nord-Stream-Pipelines im September 2022 die Vorfälle von mutmaßlichen Sabotageakten in der Ostsee – meist ohne, dass eine zweifelsfreie Zuordnung eines Verursachers beziehungsweise Auftraggebers möglich ist. Dennoch ergibt die Häufung ein Muster. Der Inspekteur der Marine, Vizeadmiral Jan Christian Kaack, stellt klar: „Man kann das Ausrauschen und Mitschleifen eines Ankers nicht nicht mitbekommen.“

Die meist als Unfälle getarnten Sabotageakte sind als Mittel der hybriden Kriegführung zu verstehen. Diese findet oftmals indirekt, verdeckt und über Stellvertreter statt.[1] Von den marKRITIS-Anlagen in der Ostsee sind vor allem Deutschlands Partner in Skandinavien und im Baltikum abhängig. Die Häufung von mutmaßlicher Sabotage gegen diese Infrastrukturen seit 2022 ist auffallend. Sollten infolge solcher Angriffe Strom, Wärme, Telefonie oder Internet trotz Redundanzen zeitweise ausfallen, kann dies zu Verunsicherung der Bevölkerung und einem Vertrauensverlust in staatliche Akteure führen, bis hin zu ernsten Folgen für die Versorgungssicherheit. Auch lässt sich nicht ausschließen, dass weitere Anlagen Kritischer Infrastruktur auf See und an Land gleichzeitig ins Visier von Saboteuren geraten. Besondere Brisanz hat dieses Szenario für die baltischen Staaten. Estland, Lettland und Litauen haben sich in einem mehrere Jahre dauernden Prozess vom ehemals sowjetischen Stromnetz abgekoppelt und stattdessen dem europäischen Stromverbund angeschlossen. Diese Verbindungen führen hauptsächlich durch die Ostsee. Doch auch Deutschlands Versorgungssicherheit ist von Kritischer Infrastruktur in der Nord- und Ostsee abhängig (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1. Maritime Infrastruktur in Nordsee und Ostsee

Die Grafik zeigt maritime Infrastruktur in der Nord- und Ostsee nahe der Küste Deutschlands.

In Nord- und Ostsee befindet sich für die Versorgungssicherheit Deutschlands relevante Kritische Infrastruktur.
Der in deutschen Gewässern havarierte Tanker „Eventin“ wird zur russischen Schattenflotte gezählt.

Jukka Savolainen vom Europäischen Exzellenzzentrum zur Abwehr hybrider Bedrohungen (Hybrid CoE) in Helsinki zeichnet ein düsteres Bild: „Im schlimmsten Fall – wenn jemand gleichzeitig ein paar Schiffe oder andere Mittel zur Sabotage einsetzt, kann es in Westeuropa zu wirtschaftlicher und physischer Verwüstung kommen. Zu schweren Schäden am Stromnetz, die Tage andauern, zu sehr hohen Energiepreisen.“ Der wohl wichtigste Aspekt bei hybriden Angriffen ist ihre fehlende Eindeutigkeit beziehungsweise Attribuierbarkeit. Dies erschwert eine einzelstaatliche, geschweige denn eine einhellige kollektive Reaktion, beispielsweise der NATO, enorm. Denn Zweifel über die weitere Lageentwicklung und die Akteure im Hintergrund können dazu führen, dass trotz weiterer Häufung solcher Angriffe die Mitgliedsstaaten wenig entschlossen bleiben, gemeinschaftlich zu agieren und formell die NATO zu befassen. Doch wäre die Voraussetzung für militärischen Beistand gemäß Artikel 5, einen bewaffneten Angriff eines fremden Staates gegen das Bündnisgebiet festzustellen. Auch der Kontext ist nicht zu vernachlässigen: Die Vorfälle in der Ostsee finden nicht isoliert statt, sondern sind vielmehr geopolitisch einzuordnen. Ähnliches passiert in anderen Seegebieten wie rund um Taiwan. Eine aktuelle Studie der Jamestown University über chinesisch-russische Zusammenarbeit bei Sabotageaktionen an Unterseekabeln zeigt: Moskau und Peking arbeiten immer öfter bei maritimer Sabotage zusammen.

 

Maritime Kritische Infrastruktur: Viel hilft viel – ist aber auch schwerer zu schützen

Seekabel transportieren Daten und Strom, Pipelines Erdöl und Erdgas. Flüssiggas-Terminals tragen ebenfalls zur Sicherung der Energieversorgung bei. In Zukunft wird mit der Energiewende der Ausbau von Windparks auf dem Meer auch für Deutschland weiter an Bedeutung gewinnen. Das Grundproblem dabei: MarKRITIS ist ein komplexes Netzwerk, das über riesige Flächen verteilt ist. Je größer das Netzwerk ist, desto größer sind zwar die Redundanzen – aber Größe bedeutet auch mehr Fläche und Anlagen, die Sabotageziele sein könnten und zu schützen sind. Alle Marine- und Behördenschiffe der Anrainer von Nord- und Ostsee zusammen würden nicht reichen, diese dauerhaft zu patrouillieren. Auch kommt die Eigenverantwortung der Betreiber ins Spiel, die für den Schutz ihrer Anlagen Sorge zu tragen haben. Sie überprüfen etwa mit automatisierten Systemen bereits heute ihre Pipelines regelmäßig auf Reparaturbedarf und überwachen Anlagen mit Kameras. Bereits die Abwehr krimineller und terroristischer Gefahren ist für Unternehmen herausfordernd, aber gegen staatliche Akteure können sie sich nicht allein wehren. Letztere agieren derzeit verdeckt und scheinen sich bislang auf als Unfälle deklarierbare Vorfälle, verursacht durch zivile Dritte, zu beschränken. Wie lange das so bleibt, ist allerdings offen.

Schon heute würden Unternehmen und Behörden von einer Meldepflicht für Verdachtsfälle profitieren und ebenso von einer Weitergabe von Sensordaten der Firmen für ein besseres Gesamt-Lagebild. Auch haben Unternehmen eine intrinsische Motivation, denn ihr Geschäftsmodell basiert auf intakten Leitungen und Anlagen. Was noch fehlt, sind gesetzliche Regelungen. Der Entwurf des Dachgesetzes zur Stärkung der physischen Resilienz kritischer Anlagen, kurz KRITIS-Dachgesetz,[2] vom November 2024 sieht eine Meldepflicht vor, wurde jedoch in der vergangenen Legislaturperiode im Deutschen Bundestag nicht mehr zur Abstimmung gebracht. Das Gesetz würde festlegen, welche Unternehmen und Einrichtungen Teil der Kritischen Infrastruktur sind und welche Mindeststandards für ihren Schutz gelten. Gemäß der EU-Richtlinie, die der Entwurf umsetzten soll würde das Gesetz für Sektoren wie Energie, Transport und Verkehr, Telekommunikation und so weiter gelten. Allerdings unterscheidet der Gesetzesentwurf nicht zwischen Dimensionen wie Land und See. Die Herausforderungen beim Schutz von marKRITIS würde das KRITIS-Dachgesetz daher nicht voll in den Blick nehmen.

 

Was passiert, wenn’s passiert ist: Ermittlungen und Strafverfolgung

Fachleute und Entscheidungsverantwortliche registrieren seit Jahren Angriffe, die gezielt in Grauzonen erfolgen. „We are not at war, but we are certainly not at peace either”, formulierte zum Beispiel NATO-Generalsekretär Mark Rutte im Dezember 2024. Aus rein juristischer Perspektive befinden sich die NATO- und EU-Anrainerstaaten der Ostsee allerdings weiterhin im Frieden. Diese rechtliche Lage würde in Deutschland erst der Spannungsfall oder der Verteidigungsfall verändern. Beide müsste der Deutsche Bundestag feststellen. Für strafrechtliche Ermittlungen und Schadensabwehr in den Territorialgewässern eines Küstenstaats und in seiner Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ, siehe Abbildung 2) sind im gegenwärtigen Friedensfall daher zunächst die Polizeien zuständig und je nach Vergehen andere Behörden wie etwa der Zoll. So ist es auch in den meisten Ostsee-Anrainerstaaten geregelt. Erst bei Schädigungen durch staatliche Akteure kann in Deutschland die Bundeswehr eine Rolle übernehmen – bis hin zu militärischen Abwehrmaßnahmen in einer Nothilfesituation. Darüber hinaus kann die Marine bereits im Vorfeld andere Behörden durch Amtshilfe unterstützen.

Abbildung 2. Seegrenzen in der Ostsee

Die Grafik zeigt die Seegrenzen von Anrainerstaaten der Ostsee.

Je weiter die Küste weg liegt, desto weniger Befugnisse auf See haben Staaten in Friedenszeiten. In eigenen Hoheitsgewässern, die sich bis zu zwölf Meilen vor die Küste des Staats erstrecken, kann ein verdächtiges Schiff relativ einfach kontrolliert werden, in der daran anschließenden Ausschließlichen Wirtschaftszone bereits nicht mehr.

Sobald ein Schiff unter Verdacht geraten ist, marKRITIS beschädigt zu haben, muss abhängig von der Position des Schiffes geklärt werden: Dürfen Behörden eines Küstenstaats dieses Schiff betreten und durchsuchen, Besatzungen befragen und festhalten, Beweise sichern? Dies ist am unproblematischsten in eigenen Küstengewässern möglich. Schon in der AWZ bestehen Herausforderungen. Bei Nicht-Kooperation des Staats, unter dessen Flagge das betreffende Schiff fährt, wird es für Küstenstaaten rechtlich schwieriger, fremde Schiffe zu betreten und Befugnisse geltend zu machen. Das zeigen Vorfälle der vergangenen Monate (siehe Abbildung 3).

Der Frachter „Newnew Polar Bear“ zertrennte im Oktober 2023 außerhalb finnischer Hoheitsgewässer die Gas-Pipeline Balticconnector. Untersuchungen an Bord lehnte China als Flaggenstaat ab. Nur chinesische Behörden durften in der finnischen AWZ ermitteln: Sie sprachen von einer „versehentlichen“ Beschädigung der Pipeline durch einen Anker des Schiffs. Rund ein Jahr später, im November 2024, zerstörte der Frachter „Yi Peng 3“ mutmaßlich auf gleiche Weise zwei Datenkabel. Davon verbindet eines, C-Lion 1, Finnland mit Deutschland. Erneut verweigerte China als zuständiger Flaggenstaat schwedischen Ermittlern den Zutritt zum Schiff. Später durften Skandinavier und Deutsche nur als Beobachter der Ermittlungen an Bord.

Im Dezember 2024 unterbrach anscheinend der unter der Flagge der Cookinseln fahrende Tanker „Eagle S“ das Hochspannungsstromkabel Estlink 2 und zwei Datenkabel. Finnische Behörden stoppten das Schiff und leiteten es für Untersuchungen in Finnlands Territorialgewässer um. Bei Weiterfahrt hätten weitere Schäden an Kabeln und Rohren gedroht. Zwar hat das Schiff die Hoheitsgewässer wieder verlassen dürfen, aber verdächtigte Crewmitglieder durften bisher nicht aus Finnland ausreisen. Im Vergleich zur bisherigen Praxis war das Vorgehen der Finnen deutlich energischer. In Medien ernteten sie viel Lob dafür, nicht in passiver Beobachterrolle verharrt zu haben.

Abbildung 3. Beschädigte maritime Infrastruktur in der Ostsee

Die Grafik zeigt schematisch Infrastruktur in der Ostee wie insbesondere Datenkabel, Stromkabel und Pipelines sowie Zerstörungen an dieser Infrastruktur.

Die Ostsee ist mit maritimer Infrastruktur wirtschaftlich dicht erschlossen. Von den Anlagen sind vor allem Deutschlands Verbündete in Skandinavien und im Baltikum abhängig. Die Häufung von mutmaßlicher Sabotage seit 2022 ist auffallend.

Die verdächtigen Vorfälle reißen nicht ab: Im Januar 2025 wurde die Kabelverbindung des staatlichen lettischen Rundfunks LVRTC zwischen Lettland und Schweden beschädigt, im Februar 2025 erneut das deutsch-finnische Datenkabel C-Lion 1. Mit der „Eagle S“ stand dabei erstmals ein Schiff der sogenannten Schattenflotte Russlands im Verdacht, an der Sabotage, beteiligt zu sein. Zuvor wurde die Schattenflotte nur als schädlich erachtet, weil sie durch Umgehen des westlichen Ölembargos unter Rückgriff auf andere Flaggenstaaten die Kriegskassen Moskaus füllt. Inzwischen geht von ihr eine größere Gefahr aus. Fachleute verweisen neben dem Sabotage- und Spionagerisiko auch auf ein hybrides Szenario: eine absichtlich herbeigeführte Havarie, die zu einer Umweltkatastrophe oder blockierten Seewegen führt. Auch ohne solches Zutun bestehen Risiken aufgrund des schlechten technischen Zustands der Schiffe. Im Januar 2025 havarierte in deutschen Gewässern der Tanker „Eventin“, der unter panamaischer Flagge fuhr und ebenfalls zur russischen Schattenflotte gezählt wurde. Das Schiff ist mitsamt des an Bord befindlichen Rohöls im März 2025 vom deutschen Zoll beschlagnahmt worden. Medien deuten das als Zeichen eines robusteren Vorgehens der Bundesregierung.

 

Abschreckung und Abwehr: Wie Sabotageakte verhindern?

Wie können sich solche hybriden Angriffe besser abschrecken und notfalls abwehren lassen? Welche Behörden müssen dafür zusammenarbeiten? Und welche Rolle haben die Seestreitkräfte dabei – die über Mittel verfügen, ein Schiff zu stoppen? Auf die veränderte Bedrohung durch die Schattenflotte reagierte die Europäische Kommission am 21. Februar 2025 mit einer gemeinsamen Mitteilung zur Stärkung der Sicherheit und Widerstandsfähigkeit von Unterseekabeln. Diese sieht nicht nur diplomatische Maßnahmen und das Durchsetzen von Sanktionen gegen gegnerische Akteure und die Schattenflotte vor. Auch kündigt sie unter anderem die Einrichtung einer EU-Reserve an Kabellegeschiffen an, um die Zeit zur Reparatur beschädigter Seekabel zu verkürzen. In Deutschland stellen die Verteidigungspolitischen Richtlinien 2023 klar, dass „Verteidigung gegen terroristische und hybride Bedrohungen“ Teil des Kernauftrags Landes- und Bündnisverteidigung der Bundeswehr ist. Zum Einsatzspektrum der Marine gehört ein Beitrag zum Schutz der für Deutschland enorm wichtigen Anlagen in Nord- und Ostsee. Das setzt spezifische Fähigkeiten und die zuverlässige Zusammenarbeit vieler unterschiedlicher Akteure voraus.

Das hohe Verkehrsaufkommen in der Ostsee macht es unmöglich, jedes Handelsschiff durch Bundespolizei oder Marine durch deutsche Hoheitsgewässer und AWZ zu begleiten – zumal bereits russische Militär- und Aufklärungsschiffe im Blick zu behalten sind. Umso wichtiger ist ein gutes gemeinsames Lagebild. Dazu trägt bereits der Informationsaustausch im Maritimen Sicherheitszentrum in Cuxhaven bei. Dort sind Bundespolizei, Zoll, Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, Bundes-Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung, Wasserschutzpolizeien der Küstenländer, Havariekommando und Deutsche Marine nebeneinander vertreten. Es gibt allerdings keine Führungsposition, die alle vertritt oder übergreifend über einen Kräfteeinsatz entscheiden kann. Die enge Zusammenarbeit zwischen Bundespolizei und Seestreitkräften drückt sich auch durch einen Verbindungsbeamten in der Marinekommando-Außenstelle in Glücksburg aus, die das Lagebild der Marine führt. Einen Beitrag zur Abschreckung potentieller Sabotage auf See leistet die seit 2022 erhöhte Präsenz der deutschen Seestreitkräfte im Raum durch Übungs- und weitere Marineaktivitäten unter dem Namen Baltic Guard. Sie soll ausdrücken: „Wir sehen, was Du tust und sind bereit einzugreifen.“ Dieses Motto ließe sich ergänzen: „Wir können kämpfen, wenn wir müssen.“ Das zeigen auch Marinemanöver mit Partnerländern in der Ostsee, wie Northern Coasts oder BALTOPS. Ihnen liegen auch hybride Szenarien zugrunde.

Als Reaktion auf die vermutete Sabotage in Nord- und Ostsee hat sich außerdem die militärische Zusammenarbeit der NATO in kurzer Folge noch einmal intensiviert. So wurde bereits im Mai 2024 innerhalb des NATO-Marinehauptquartiers MARCOM das Maritime Centre for the Security of Critical Undersea Infrastructure eingerichtet. Ergänzend hierzu hat die Allianz mit ihrem Ostsee-Gipfel am 14. Januar 2025 eine sogenannte erhöhte Wachsamkeitsaktivität (enhanced vigilance activity) mit dem Namen Baltic Sentry aufgenommen. Auch ihr Ziel ist Abschreckung durch Präsenz und Aufklärung. Der deutsche Commander Task Force Baltic (CTF Baltic) und sein deutsch-multinationaler Führungsstab koordiniert dabei für MARCOM die Verbündeten.[3]

 

Robusteres Vorgehen, Rechtsgrundlagen und Regelungsbedarfe

Was aber, wenn Abschreckung nicht wirkt und weiterhin Handelsschiffe für hybride Angriffe eingesetzt werden? Welche Handlungsmöglichkeiten haben die Seestreitkräfte in der Ostsee? Die öffentlichen Verlautbarungen bleiben absichtlich ambivalent; rechtliche Möglichkeiten würden geprüft. Marineschiffe verfügen über die Fähigkeiten, ein Schiff zu stoppen, zu durchsuchen, Beweise zu sichern und Täter festzusetzen. Derartige Aufgaben hat die Deutsche Marine in den letzten dreißig Jahren in Auslandseinsätzen unter Mandat der Vereinten Nationen regelmäßig übernommen.

Militärisch robusteres Vorgehen könnte notwendig werden, zum Beispiel wenn ein Schiff mit herabgelassenem Anker auf wichtige Infrastruktur wie Seekabel oder Pipelines zufährt. Dann wären je nach Fähigkeiten vor Ort mehrere Eskalationsschritte möglich, um ein Stoppen oder Abdrehen zu erwirken: von Ansprechen über Funk, dichtem Heranfahren oder Überfliegen durch Marine-Luftfahrzeuge bis hin zu Warnschüssen – immer eingedenk dessen, militärische Gewalt verhältnismäßig einzusetzen und die Sicherheit von zivilem Schiff und Besatzung nicht zu gefährden. Schließlich wäre das verdächtige Schiff für weitere Untersuchungen an Polizei und weitere zuständige Behörden zu übergeben. Ein solches Handeln zum Schutz der marKRITIS ließe sich selbst in Friedenszeiten laut Rechtsexperten unmittelbar mit Landesverteidigung oder – sofern die Infrastruktur nicht direkt mit Deutschland verbunden ist, sondern Alliierten gehört – mit Bündnisverteidigung begründen. Man könnte die Sabotageakte völkerrechtlich aber auch als Piraterie verstehen und daraus Befugnisse ableiten. Schließlich wäre auch möglich, sich auf Nothilfe zum Schutz von Rechtsgütern Dritter zu berufen. Dabei spielt die relative Bedeutung der Infrastruktur für Deutschland für das Abwägen der Verhältnismäßigkeit des Vorgehens eine Rolle.

Ob Seestreitkräfte bereits ausreichende Rechtsgrundlagen in internationalen Konventionen für ein Stoppen von fremden Schiffen haben, ist unter Experten umstritten. Heiko Meiertöns, Experte für Sicherheitsrecht an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, hält jedenfalls das Rechtsregime zum Schutz von Seekabeln, wie etwa durch die Pariser Konvention zum Schutz von Unterseekabeln von 1884 oder die Regelungen im Seerechtsübereinkommen von 1982, für veraltet und daher ungeeignet. Da die Aussicht auf eine Änderung dieser beiden Konventionen aber gering sei, fordert Meiertöns vor allem robuste Maßnahmen zu deren Durchsetzung im bestehenden Rechtsrahmen. Eine Anpassung nationaler Gesetzgebung solle das flankieren. Letztere ist auch Ziel der Debatte um ein deutsches Seesicherheitsgesetz. Frühere Bundesregierungen sind jedoch bereits an einem, im Vergleich niedrigschwelligen, Vorhaben einer ressortübergreifenden Vereinbarung zur Seesicherheit gescheitert.

Im Koalitionsvertrag vom 9. April 2025 wird konstatiert: „Auch die maritime Sicherheit in Nord- und Ostsee ist von Bedeutung“, ohne jedoch ein Gesetzesvorhaben anzukündigen. Nun hätte angesichts der neuen Bedrohungslage ein Seesicherheitsgesetz Thema des Koalitionsvertrags werden können, um Zuständigkeiten und Befugnisse von Polizeien und Marine auch im Fall hybrider Angriffe eindeutiger zu regeln. Ein Seesicherheitsgesetz könnte dazu dienen, akute Gefahren so früh wie möglich zu erkennen und dann selbst schnell handlungsfähig zu sein – insbesondere in einer Übergangsphase von Frieden zu Krise zu Krieg. Nicht ohne Grund hat das Bundesministerium für Digitales und Verkehr für die Jahre 2023 bis 2025 mehrere unabhängige Gutachten für eine „Resilienzstudie maritimer Versorgungswege“ in Auftrag gegeben. Sie haben auch Handlungsempfehlungen für eine Verbesserung der Zusammenarbeit der Akteure zum Ziel. Spannend bleibt, ob die Analysen veröffentlicht werden und deren Erkenntnisse Berücksichtigung finden. „Wir müssen klären, wer zum Schutz Deutschlands wann und wie wirken soll“, sagt Marineinspekteur Kaack zu der Kernfrage um die Zusammenarbeit. Er bietet an: „Um Lösungen zur Festlegung einer eindeutigen Verantwortlichkeit in Frieden-Krise-Konflikt für den Schutz maritimer Kritischer Infrastruktur aktiv zu befördern, steht die Deutsche Marine als nationaler Expertiseträger in der maritimen Sicherheit bereit.“

 

Fazit: mehr Investitionen, klare Befugnisse und prompte Reaktionen

Die verschiedenen mutmaßlichen Sabotageakte in der Ostsee sind eindeutig als ein Austesten der Reaktionsfähigkeit und Einsatzbereitschaft wie auch von Schwachstellen im Verteidigungsfall zu verstehen. Sie sind zwar Nadelstiche, wirken aber bereits heute verunsichernd auf die Bevölkerung. Zum Schutz von marKRITIS braucht es also zunächst: das Festlegen und das Üben von Zusammenarbeit aller relevanten Akteure sowie das Weiterentwickeln eines multidimensionalen Lagebilds im ständigen Austausch zwischen Streitkräften, Bündnispartnern, zivilen Behörden, Industrie und Wissenschaft. Entscheidende Beiträge hierzu wären eine Meldepflicht für Unternehmen beziehungsweise Betreiber von marKRITIS hinsichtlich relevanter Vorfälle und eine Verpflichtung zur Weitergabe von Sensordaten. Grundlage dafür muss ein klarer rechtlicher Rahmen sein, der Informationsaustausch und verzugslose Kooperation zwischen Allen ermöglicht.

Die Marine verfügt über erprobte Fähigkeiten und Verfahren, solche Informationen zusammenzuführen. Zudem wollen die Seestreitkräfte ihre Lagebildfähigkeiten zudem mit Hilfe Künstlicher Intelligenz und leistungsfähigerer Sensorik noch verbessern. Ein gutes Lagebild, das eine Zuordnung eines Sabotageakts zu einem Akteur ermöglicht, ist Kern sowohl von Attribuierung als auch von Abschreckung. Die Marine ist am besten geeignet und steht bereit, Verantwortung beziehungsweise Federführung für ein solches ressort- und behördengemeinsames Lagebild zu übernehmen. Zur selben Zeit zeigt die neue Bedrohungslage auch Investitionsbedarfe für die Seestreitkräfte auf – insbesondere im Unterwasser-Bereich. Denn gerade einsatzbereite U-Boote und Minenjagdboote, Kampfschwimmer und Minentaucher – künftig ergänzt durch immer mehr unbemannte Systeme – können Angriffe auch hybrider Natur auf marKRITIS unterhalb der Wasseroberfläche abschrecken oder ihnen entgegenwirken. Investitionen in die Fähigkeiten der Marine lohnen sich somit doppelt: Sie stärken sowohl die Landes- und Bündnisverteidigung auf See als auch die maritime Sicherheit und Resilienz Deutschlands. Hybride Angriffe unterlaufen bewusst bestehende Sicherheitsarchitekturen. Die Fragen, ob ein Sabotageakt unter innere oder äußere Sicherheit fällt, ob zivile oder militärische Stellen zuständig sind, dürfen nicht zu politischer Lähmung führen oder am Ende ganz unbeantwortet bleiben. Auch erscheint es wenig hilfreich, die Zuständigkeit in Sabotagefällen einer Behörde allein zuzuschreiben, die erst nach Feststellen des Sachverhalts benannt werden kann. Erschwerend hinzu kommt, dass die eine zuständige Behörde vielleicht unzureichend ausgerüstet ist. Vielmehr kann es lageabhängig einen Maßnahmen- und Akteursmix brauchen. Auch dafür ist die Festlegung von Führungsrollen und das Üben von Abläufen etwa durch Wargaming notwendig.

Rechtliche Grundlagen restriktiv auszulegen, statt Lücken im Schutz durch robustes Durchsetzen zu schließen, scheint ebenfalls nicht zweckmäßig. Denn all das könnte in staatliche Handlungsunfähigkeit führen. Deutschland braucht unbedingt eine bessere Koordination staatlicher Tätigkeiten und ressortübergreifende Einigkeit darüber, wann wer was darf und zu tun hat. Dies würde auch die Abschreckung stärken. Im Übrigen bleibt durch ein deutsches Seesicherheitsgesetz auch zu klären, welche Aufgaben zivile Behörden auf See im Verteidigungsfall haben sollten. Analog zur Gesamtverteidigung an Land könnten sie die Seestreitkräfte bei der Landesverteidigung zu unterstützen. Aufklärung und Präsenz zur Abschreckung durch eine starke Marine im Verbund mit zivilen Kräften ist der richtige Ansatz für den Schutz von marKRITIS. Je robuster Staaten mit ihren zivilen und militärischen Sicherheitsbehörden gegen mutmaßliche Saboteure vorgehen – indem sie diese stoppen, festhalten, untersuchen – desto klarer das Signal an die Verursacher der Sabotage. Dazu gehört auch Einigkeit in der NATO über die Bedeutung hybrider Bedrohungen für Verteidigungsszenarien. Es ist aber auch notwendig weiterzudenken: Klarheit darüber zu schaffen, wann verhältnismäßiger Einsatz militärischer Gewalt – wie etwa der Schuss vor den Bug – bereits in Friedenszeiten zulässig ist. Damit die Deutsche Marine kritischen Schaden verhindern kann, wenn sie sich zum Schutz vor die maritimen Lebensgrundlagen der Gesellschaft stellt.

Dr. habil. Patricia Schneider ist die politische Beraterin des Inspekteurs der Marine.
Die Autorin gibt ihre persönliche Meinung wieder. Kontakt zur Autorin: presse@baks.bund.de

Alle Ausgaben der Arbeitspapiere Sicherheitspolitik sind verfügbar auf:
www.baks.bund.de/de/service/arbeitspapiere-sicherheitspolitik

 

[1] Dieser Artikel betrachtet daher hybride Angriffe unterhalb der Schwelle eines internationalen bewaffneten Konflikts.

[2] Der Gesetzentwurf definiert KRITIS als technische Anlagen, „deren Ausfall oder Beeinträchtigung zu erheblichen Versorgungsengpässen oder zu Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit führen würde“. Auch die Bundeswehr hat sich mit der Definition und Kategorisierung von Infrastruktur befasst: Der Operationsplan Deutschland beschreibt unter anderem die Sicherung der „verteidigungsrelevanten Infrastruktur“. Dazu gehören zum Beispiel Häfen und Lager, die für die seeseitige militärische Versorgung und nationale Verteidigung wichtig sind. Verteidigungsrelevante Infrastruktur bezieht unter Wasser verlegte Infrastruktur und militärische Sensorik mit ein.

[3] CTF Baltic hat die Deutsche Marine im Oktober 2024 in Rostock aufgestellt. Der Stab wird schrittweise unter Beteiligung aller NATO-Ostseeanrainer sowie weiterer NATO-Mitglieder zur vollen Arbeitsfähigkeit aufgebaut. Zu seinen Aufgaben zählt unter anderem, dem Bündnis rund um die Uhr ein aktuelles maritimes Lagebild der gesamten Region zur Verfügung zu stellen. Es soll einerseits militärische und zivile Daten zusammenführen, andererseits alle militärischen Dimensionen (See, Luft, Land sowie Cyber- und Informationsraum) umfassen.

Arbeitspapier Thema: 
Bundeswehr
Deutsche Sicherheitsarchitektur
Hybride Kriegsführung
NATO
Verteidigungspolitik
Region: 
Europa
Deutschland
Schlagworte: 
Arbeitspapier
Bundeswehr
Ostsee
Marine
Kritische Infrastruktur
KRITIS
hybride Angriffe
Schattenflotte
Russland
Bundespolizei
Seesicherheitsgesetz
Handelswege
Sabotage
NATO
Unterseekabel
Pipelines
KRITIS-Dachgesetz